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Allgemeine Zeitung. Nr. 164. Augsburg, 12. Juni 1840.

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Goethe und seine Stellung zum deutschen Volk.

Sie haben in Ihrem Blatte vom 29 und 30 Mai von dem in dieser Beziehung unermüdlichen Correspondenten [irrelevantes Material] noch einen dritten Artikel gegen den längst verschollenen und von den Meisten nur wenig beachteten Angriff Marmiers gegen unsere Litteratur und die wissenschaftliche Thätigkeit unseres Landes überhaupt mitgetheilt. Der verehrte Publicist, im Glauben, daß der wissenschaftliche Ruhm Deutschlands durch die Angriffe eines kleinen Franzosen gefährdet sey, hält es darin für seine Pflicht, jenen Ruhm nach seinen Kräften zu vertheidigen. Dieß erschien wohl allen Lesern gut und schön, denn des Vaterlandes Ehre zu wahren, wurde von jeher für eine lobenswerthe That gehalten. Doch dünkt es uns, als habe der deutsche Vertheidiger eine Hauptfestung dabei aufgegeben. Wir wollen versuchen, dieß deutlich zu machen.

Lassen wir das Einzelne in dem Angriff des Hrn. Marmiers, fassen wir die französische Beurtheilungsweise überhaupt ins Auge, so leuchtet ein, daß die Franzosen, von fernher Deutschlands geistige Thätigkeit übersehend, dieselbe nur in den Männern suchen, durch welche sie repräsentirt wird. Man muß gestehen, das Vaterland merkt oft den Verlust seiner Heroen in einer Beziehung nicht so sehr, als das Ausland; denn der Hingeschiedene lebt ja fort in den Werken seines unsterblichen Geistes und in den Herzen des Volks, wenn man auch seine Alles beherrschende Persönlichkeit verloren hat. Der Punkt der französischen Beurtheilungsweise, daß nach Goethe's Tod ein das deutsche wissenschaftliche und künstlerische Leben umfassender Geist fehle (denn das ist doch der Grundgedanke der französischen Wortübertreibung), ist wohl an sich der tadelfreieste, und wird in jedem tieferfühlenden Gemüthe Wiederklang finden. Gerade aber dieß verkennt der deutsche Publicist; ihm ist Goethe's Sonne seit dem Jahr 1805 untergegangen, als ob seine Größe nur durch die Schillers entweder hervorgebracht oder in schwebender Höhe gehalten worden wäre. Freilich hat er selbst den Verlust des edelsten Freundes, den ihm sein reiches Leben schenkte, am tiefsten unter allen Deutschen gefühlt, aber auch nach Schillers Tod schrieb er seine Dichtung und Wahrheit, und es dünkt uns, als ob eine Einsicht in das höhere geistige Leben Deutschlands kaum mit der (wenn das beigesetzte Fragzeichen nicht trügt, von der Redaction nicht getheilten) Behauptung sich einen lasse, Goethe habe in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens nur wenig Einfluß auf die deutsche Litteratur geübt. Wessen Urtheil könnten wir hier, um uns alles eignen zu enthalten, eher anführen, als das, welches Schelling im Jahr 1832 nach Goethe's Tode in einer in der Akademie der Wissenschaften zu München gehaltenen Rede über ihn fällt: "In einer solchen Zeit erleidet - nicht die deutsche Litteratur bloß - Deutschland selbst den schmerzlichsten Verlust, den es erleiden konnte. Der Mann entzieht sich ihm, der in allen innern und äußern Verwirrungen wie eine mächtige Säule hervorragte, an der viele sich aufrichteten, wie ein Pharus, der alle Wege des Geistes beleuchtete; der, aller Anarchie und Gesetzlosigkeit durch seine Natur feind, die Herrschaft, welche er über die Geister ausübte, stets nur der Wahrheit und dem in sich selbst gefundenen Maaß verdanken wollte; in dessen Geist und, wie ich hinzusetzen darf, in dessen Herzen Deutschland für Alles, wovon es in Kunst oder Wissenschaft, in der Poesie oder im Leben bewegt wurde, das Urtheil väterlicher Weisheit, eine letzte versöhnende Entscheidung zu finden sicher war. Deutschland war nicht verwaist, nicht verarmt, es war in aller Schwäche und innerer Zerrüttung groß, reich und mächtig von Geist, so lange Goethe lebte."

Es ist merkwürdig, daß die letzte Thätigkeit Goethe's von Manchen nicht gekannt, und darum nicht gehörig gewürdigt ist, als ob das Alter nicht seine eigene Art zu wirken haben dürfte, oder als ob man etwa im westöstlichen Divan die glühendste Phantasie und eine durch die Weisheit des Alters verklärte ewige Frische der Jugend vermissen könnte. Gewiß, man möchte immer gern großen Geistern Gesetze nach eigenem Maaßstab vorschreiben, und man sollte sich doch freuen, daß sie einmal über alle Gesetze hinausgegangen sind. Goethe wußte dieß wohl, aber er antwortete auf die Frage:

"Hast du das Alles nicht bedacht?
Wir haben's auch in unserm Orden."
Ich hätt' es euch gern recht gemacht,
Es wäre aber nichts geworden.
Auch Niebuhr urtheilte über Goethe's spätere Thätigkeit nur so, daß man in ihm nicht den großartigen Geschichtschreiber, sondern nur einen Philologen merkt, der ihm vorschreibt, er hätte eigentlich ein ganz andrer Dichter werden sollen! Der verehrte Publicist läßt sich sodann zu dem gewöhnlichen Gemeinplatz verleiten, Goethe habe in vielen seiner Werke eine unchristliche Tendenz. Der Ausdruck christlich oder unchristlich scheint uns überhaupt nicht auf Litteratur, insofern sie eine künstlerische ist, zu passen. Wir alle leben im Christenthum; unsre Denkweise, unsre ganze Litteratur und Kunst ist, da sie der neuen Geschichte und so auch dem Christenthum angehört, eine christliche. Gewiß wird der geistvolle Verfasser die Werke Goethe's nicht in dem Sinn betrachten wie Fritz Stollberg die Werke der alten Kunst, wo ihm der Dichter die Worte in den Mund legt:

"Schade für's schöne Talent des herrlichen Künstlers, o hätt' er
Aus dem Marmorblock doch ein Crucifix uns gemacht!"

Nur durch den Vergleich mit dem mythologischen Jupiter ist uns klar geworden, was ferner der verehrte Publicist unter dem Ausdruck: feiner Priapismus versteht. Indessen scheint uns, als wenn der Priapismus, der dem olympischen Zeus die Adern schwellte, gar kein so feiner, sondern vielmehr ein höchst gewaltiger gewesen sey. Nur ein Epikuräer kann einen feinen Priapismus haben. Allerdings sind bei dem die Natur und alles Menschliche umfassenden Geiste Goethe's die Schilderungen einer groben Sinnlichkeit ebenso lebenvoll und markig, als die gewaltigen Schläge seines Genie's, die das menschliche Drängen und Treiben überhaupt aus den Tiefen der Seele an das Tageslicht ziehen, in jedem höher strebenden Geiste ihre erschütternde Wahrheit finden.

Kaum möchte Jemand im Ernste vermeinen, das Dichten und Trachten unsrer jetzigen Dichter, die selbst nicht daran denken, solche Ansprüche zu machen, der Poesie eines Goethe gleichsetzen zu wollen. Wir schätzen unsre neuern Dichter, doch sind wir nicht so stolz auf sie, daß wir darüber die Würde und Größe unserer Litteratur vergessen sollten. Die deutsche Kraft kann übrigens nicht schlafen, nachdem ihre Heroen sie auf einen so festen Grund gesetzt haben, und Goethe selbst verweist auf die Zukunft, die sowohl ihn anerkennen als weiter fortschreiten wird.

"Und wenn sich meine grauen Wimpern schließen,
So wird sich noch ein mildes Licht ergießen,
Goethe und seine Stellung zum deutschen Volk.

Sie haben in Ihrem Blatte vom 29 und 30 Mai von dem in dieser Beziehung unermüdlichen Correspondenten [irrelevantes Material] noch einen dritten Artikel gegen den längst verschollenen und von den Meisten nur wenig beachteten Angriff Marmiers gegen unsere Litteratur und die wissenschaftliche Thätigkeit unseres Landes überhaupt mitgetheilt. Der verehrte Publicist, im Glauben, daß der wissenschaftliche Ruhm Deutschlands durch die Angriffe eines kleinen Franzosen gefährdet sey, hält es darin für seine Pflicht, jenen Ruhm nach seinen Kräften zu vertheidigen. Dieß erschien wohl allen Lesern gut und schön, denn des Vaterlandes Ehre zu wahren, wurde von jeher für eine lobenswerthe That gehalten. Doch dünkt es uns, als habe der deutsche Vertheidiger eine Hauptfestung dabei aufgegeben. Wir wollen versuchen, dieß deutlich zu machen.

Lassen wir das Einzelne in dem Angriff des Hrn. Marmiers, fassen wir die französische Beurtheilungsweise überhaupt ins Auge, so leuchtet ein, daß die Franzosen, von fernher Deutschlands geistige Thätigkeit übersehend, dieselbe nur in den Männern suchen, durch welche sie repräsentirt wird. Man muß gestehen, das Vaterland merkt oft den Verlust seiner Heroen in einer Beziehung nicht so sehr, als das Ausland; denn der Hingeschiedene lebt ja fort in den Werken seines unsterblichen Geistes und in den Herzen des Volks, wenn man auch seine Alles beherrschende Persönlichkeit verloren hat. Der Punkt der französischen Beurtheilungsweise, daß nach Goethe's Tod ein das deutsche wissenschaftliche und künstlerische Leben umfassender Geist fehle (denn das ist doch der Grundgedanke der französischen Wortübertreibung), ist wohl an sich der tadelfreieste, und wird in jedem tieferfühlenden Gemüthe Wiederklang finden. Gerade aber dieß verkennt der deutsche Publicist; ihm ist Goethe's Sonne seit dem Jahr 1805 untergegangen, als ob seine Größe nur durch die Schillers entweder hervorgebracht oder in schwebender Höhe gehalten worden wäre. Freilich hat er selbst den Verlust des edelsten Freundes, den ihm sein reiches Leben schenkte, am tiefsten unter allen Deutschen gefühlt, aber auch nach Schillers Tod schrieb er seine Dichtung und Wahrheit, und es dünkt uns, als ob eine Einsicht in das höhere geistige Leben Deutschlands kaum mit der (wenn das beigesetzte Fragzeichen nicht trügt, von der Redaction nicht getheilten) Behauptung sich einen lasse, Goethe habe in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens nur wenig Einfluß auf die deutsche Litteratur geübt. Wessen Urtheil könnten wir hier, um uns alles eignen zu enthalten, eher anführen, als das, welches Schelling im Jahr 1832 nach Goethe's Tode in einer in der Akademie der Wissenschaften zu München gehaltenen Rede über ihn fällt: „In einer solchen Zeit erleidet – nicht die deutsche Litteratur bloß – Deutschland selbst den schmerzlichsten Verlust, den es erleiden konnte. Der Mann entzieht sich ihm, der in allen innern und äußern Verwirrungen wie eine mächtige Säule hervorragte, an der viele sich aufrichteten, wie ein Pharus, der alle Wege des Geistes beleuchtete; der, aller Anarchie und Gesetzlosigkeit durch seine Natur feind, die Herrschaft, welche er über die Geister ausübte, stets nur der Wahrheit und dem in sich selbst gefundenen Maaß verdanken wollte; in dessen Geist und, wie ich hinzusetzen darf, in dessen Herzen Deutschland für Alles, wovon es in Kunst oder Wissenschaft, in der Poesie oder im Leben bewegt wurde, das Urtheil väterlicher Weisheit, eine letzte versöhnende Entscheidung zu finden sicher war. Deutschland war nicht verwaist, nicht verarmt, es war in aller Schwäche und innerer Zerrüttung groß, reich und mächtig von Geist, so lange Goethe lebte.“

Es ist merkwürdig, daß die letzte Thätigkeit Goethe's von Manchen nicht gekannt, und darum nicht gehörig gewürdigt ist, als ob das Alter nicht seine eigene Art zu wirken haben dürfte, oder als ob man etwa im westöstlichen Divan die glühendste Phantasie und eine durch die Weisheit des Alters verklärte ewige Frische der Jugend vermissen könnte. Gewiß, man möchte immer gern großen Geistern Gesetze nach eigenem Maaßstab vorschreiben, und man sollte sich doch freuen, daß sie einmal über alle Gesetze hinausgegangen sind. Goethe wußte dieß wohl, aber er antwortete auf die Frage:

„Hast du das Alles nicht bedacht?
Wir haben's auch in unserm Orden.“
Ich hätt' es euch gern recht gemacht,
Es wäre aber nichts geworden.
Auch Niebuhr urtheilte über Goethe's spätere Thätigkeit nur so, daß man in ihm nicht den großartigen Geschichtschreiber, sondern nur einen Philologen merkt, der ihm vorschreibt, er hätte eigentlich ein ganz andrer Dichter werden sollen! Der verehrte Publicist läßt sich sodann zu dem gewöhnlichen Gemeinplatz verleiten, Goethe habe in vielen seiner Werke eine unchristliche Tendenz. Der Ausdruck christlich oder unchristlich scheint uns überhaupt nicht auf Litteratur, insofern sie eine künstlerische ist, zu passen. Wir alle leben im Christenthum; unsre Denkweise, unsre ganze Litteratur und Kunst ist, da sie der neuen Geschichte und so auch dem Christenthum angehört, eine christliche. Gewiß wird der geistvolle Verfasser die Werke Goethe's nicht in dem Sinn betrachten wie Fritz Stollberg die Werke der alten Kunst, wo ihm der Dichter die Worte in den Mund legt:

„Schade für's schöne Talent des herrlichen Künstlers, o hätt' er
Aus dem Marmorblock doch ein Crucifix uns gemacht!“

Nur durch den Vergleich mit dem mythologischen Jupiter ist uns klar geworden, was ferner der verehrte Publicist unter dem Ausdruck: feiner Priapismus versteht. Indessen scheint uns, als wenn der Priapismus, der dem olympischen Zeus die Adern schwellte, gar kein so feiner, sondern vielmehr ein höchst gewaltiger gewesen sey. Nur ein Epikuräer kann einen feinen Priapismus haben. Allerdings sind bei dem die Natur und alles Menschliche umfassenden Geiste Goethe's die Schilderungen einer groben Sinnlichkeit ebenso lebenvoll und markig, als die gewaltigen Schläge seines Genie's, die das menschliche Drängen und Treiben überhaupt aus den Tiefen der Seele an das Tageslicht ziehen, in jedem höher strebenden Geiste ihre erschütternde Wahrheit finden.

Kaum möchte Jemand im Ernste vermeinen, das Dichten und Trachten unsrer jetzigen Dichter, die selbst nicht daran denken, solche Ansprüche zu machen, der Poesie eines Goethe gleichsetzen zu wollen. Wir schätzen unsre neuern Dichter, doch sind wir nicht so stolz auf sie, daß wir darüber die Würde und Größe unserer Litteratur vergessen sollten. Die deutsche Kraft kann übrigens nicht schlafen, nachdem ihre Heroen sie auf einen so festen Grund gesetzt haben, und Goethe selbst verweist auf die Zukunft, die sowohl ihn anerkennen als weiter fortschreiten wird.

„Und wenn sich meine grauen Wimpern schließen,
So wird sich noch ein mildes Licht ergießen,
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          <p>Lassen wir das Einzelne in dem Angriff des Hrn. Marmiers, fassen wir die französische Beurtheilungsweise überhaupt ins Auge, so leuchtet ein, daß die Franzosen, von fernher Deutschlands geistige Thätigkeit übersehend, dieselbe nur in den Männern suchen, durch welche sie repräsentirt wird. Man muß gestehen, das Vaterland merkt oft den Verlust seiner Heroen in einer Beziehung nicht so sehr, als das Ausland; denn der Hingeschiedene lebt ja fort in den Werken seines unsterblichen Geistes und in den Herzen des Volks, wenn man auch seine Alles beherrschende Persönlichkeit verloren hat. Der Punkt der französischen Beurtheilungsweise, daß nach Goethe's Tod ein das deutsche wissenschaftliche und künstlerische Leben umfassender Geist fehle (denn das ist doch der Grundgedanke der französischen Wortübertreibung), ist wohl an sich der tadelfreieste, und wird in jedem tieferfühlenden Gemüthe Wiederklang finden. Gerade aber dieß verkennt der deutsche Publicist; ihm ist Goethe's Sonne seit dem Jahr 1805 untergegangen, als ob seine Größe nur durch die Schillers entweder hervorgebracht oder in schwebender Höhe gehalten worden wäre. Freilich hat er selbst den Verlust des edelsten Freundes, den ihm sein reiches Leben schenkte, am tiefsten unter allen Deutschen gefühlt, aber auch nach Schillers Tod schrieb er seine Dichtung und Wahrheit, und es dünkt uns, als ob eine Einsicht in das höhere geistige Leben Deutschlands kaum mit der (wenn das beigesetzte Fragzeichen nicht trügt, von der Redaction nicht getheilten) Behauptung sich einen lasse, Goethe habe in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens nur wenig Einfluß auf die deutsche Litteratur geübt. Wessen Urtheil könnten wir hier, um uns alles eignen zu enthalten, eher anführen, als das, welches Schelling im Jahr 1832 nach Goethe's Tode in einer in der Akademie der Wissenschaften zu München gehaltenen Rede über ihn fällt: &#x201E;In einer solchen Zeit erleidet &#x2013; nicht die deutsche Litteratur bloß &#x2013; Deutschland selbst den schmerzlichsten Verlust, den es erleiden konnte. Der Mann entzieht sich ihm, der in allen innern und äußern Verwirrungen wie eine mächtige Säule hervorragte, an der viele sich aufrichteten, wie ein Pharus, der alle Wege des Geistes beleuchtete; der, aller Anarchie und Gesetzlosigkeit durch seine Natur feind, die Herrschaft, welche er über die Geister ausübte, stets nur der Wahrheit und dem in sich selbst gefundenen Maaß verdanken wollte; in dessen Geist und, wie ich hinzusetzen darf, in dessen Herzen Deutschland für Alles, wovon es in Kunst oder Wissenschaft, in der Poesie oder im Leben bewegt wurde, das Urtheil väterlicher Weisheit, eine letzte versöhnende Entscheidung zu finden sicher war. Deutschland war nicht verwaist, nicht verarmt, es war in aller Schwäche und innerer Zerrüttung groß, reich und mächtig von Geist, so lange <hi rendition="#g">Goethe</hi> lebte.&#x201C;</p><lb/>
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[1305/0009] Goethe und seine Stellung zum deutschen Volk. _ Vom Rhein. Sie haben in Ihrem Blatte vom 29 und 30 Mai von dem in dieser Beziehung unermüdlichen Correspondenten _ noch einen dritten Artikel gegen den längst verschollenen und von den Meisten nur wenig beachteten Angriff Marmiers gegen unsere Litteratur und die wissenschaftliche Thätigkeit unseres Landes überhaupt mitgetheilt. Der verehrte Publicist, im Glauben, daß der wissenschaftliche Ruhm Deutschlands durch die Angriffe eines kleinen Franzosen gefährdet sey, hält es darin für seine Pflicht, jenen Ruhm nach seinen Kräften zu vertheidigen. Dieß erschien wohl allen Lesern gut und schön, denn des Vaterlandes Ehre zu wahren, wurde von jeher für eine lobenswerthe That gehalten. Doch dünkt es uns, als habe der deutsche Vertheidiger eine Hauptfestung dabei aufgegeben. Wir wollen versuchen, dieß deutlich zu machen. Lassen wir das Einzelne in dem Angriff des Hrn. Marmiers, fassen wir die französische Beurtheilungsweise überhaupt ins Auge, so leuchtet ein, daß die Franzosen, von fernher Deutschlands geistige Thätigkeit übersehend, dieselbe nur in den Männern suchen, durch welche sie repräsentirt wird. Man muß gestehen, das Vaterland merkt oft den Verlust seiner Heroen in einer Beziehung nicht so sehr, als das Ausland; denn der Hingeschiedene lebt ja fort in den Werken seines unsterblichen Geistes und in den Herzen des Volks, wenn man auch seine Alles beherrschende Persönlichkeit verloren hat. Der Punkt der französischen Beurtheilungsweise, daß nach Goethe's Tod ein das deutsche wissenschaftliche und künstlerische Leben umfassender Geist fehle (denn das ist doch der Grundgedanke der französischen Wortübertreibung), ist wohl an sich der tadelfreieste, und wird in jedem tieferfühlenden Gemüthe Wiederklang finden. Gerade aber dieß verkennt der deutsche Publicist; ihm ist Goethe's Sonne seit dem Jahr 1805 untergegangen, als ob seine Größe nur durch die Schillers entweder hervorgebracht oder in schwebender Höhe gehalten worden wäre. Freilich hat er selbst den Verlust des edelsten Freundes, den ihm sein reiches Leben schenkte, am tiefsten unter allen Deutschen gefühlt, aber auch nach Schillers Tod schrieb er seine Dichtung und Wahrheit, und es dünkt uns, als ob eine Einsicht in das höhere geistige Leben Deutschlands kaum mit der (wenn das beigesetzte Fragzeichen nicht trügt, von der Redaction nicht getheilten) Behauptung sich einen lasse, Goethe habe in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens nur wenig Einfluß auf die deutsche Litteratur geübt. Wessen Urtheil könnten wir hier, um uns alles eignen zu enthalten, eher anführen, als das, welches Schelling im Jahr 1832 nach Goethe's Tode in einer in der Akademie der Wissenschaften zu München gehaltenen Rede über ihn fällt: „In einer solchen Zeit erleidet – nicht die deutsche Litteratur bloß – Deutschland selbst den schmerzlichsten Verlust, den es erleiden konnte. Der Mann entzieht sich ihm, der in allen innern und äußern Verwirrungen wie eine mächtige Säule hervorragte, an der viele sich aufrichteten, wie ein Pharus, der alle Wege des Geistes beleuchtete; der, aller Anarchie und Gesetzlosigkeit durch seine Natur feind, die Herrschaft, welche er über die Geister ausübte, stets nur der Wahrheit und dem in sich selbst gefundenen Maaß verdanken wollte; in dessen Geist und, wie ich hinzusetzen darf, in dessen Herzen Deutschland für Alles, wovon es in Kunst oder Wissenschaft, in der Poesie oder im Leben bewegt wurde, das Urtheil väterlicher Weisheit, eine letzte versöhnende Entscheidung zu finden sicher war. Deutschland war nicht verwaist, nicht verarmt, es war in aller Schwäche und innerer Zerrüttung groß, reich und mächtig von Geist, so lange Goethe lebte.“ Es ist merkwürdig, daß die letzte Thätigkeit Goethe's von Manchen nicht gekannt, und darum nicht gehörig gewürdigt ist, als ob das Alter nicht seine eigene Art zu wirken haben dürfte, oder als ob man etwa im westöstlichen Divan die glühendste Phantasie und eine durch die Weisheit des Alters verklärte ewige Frische der Jugend vermissen könnte. Gewiß, man möchte immer gern großen Geistern Gesetze nach eigenem Maaßstab vorschreiben, und man sollte sich doch freuen, daß sie einmal über alle Gesetze hinausgegangen sind. Goethe wußte dieß wohl, aber er antwortete auf die Frage: „Hast du das Alles nicht bedacht? Wir haben's auch in unserm Orden.“ Ich hätt' es euch gern recht gemacht, Es wäre aber nichts geworden. Auch Niebuhr urtheilte über Goethe's spätere Thätigkeit nur so, daß man in ihm nicht den großartigen Geschichtschreiber, sondern nur einen Philologen merkt, der ihm vorschreibt, er hätte eigentlich ein ganz andrer Dichter werden sollen! Der verehrte Publicist läßt sich sodann zu dem gewöhnlichen Gemeinplatz verleiten, Goethe habe in vielen seiner Werke eine unchristliche Tendenz. Der Ausdruck christlich oder unchristlich scheint uns überhaupt nicht auf Litteratur, insofern sie eine künstlerische ist, zu passen. Wir alle leben im Christenthum; unsre Denkweise, unsre ganze Litteratur und Kunst ist, da sie der neuen Geschichte und so auch dem Christenthum angehört, eine christliche. Gewiß wird der geistvolle Verfasser die Werke Goethe's nicht in dem Sinn betrachten wie Fritz Stollberg die Werke der alten Kunst, wo ihm der Dichter die Worte in den Mund legt: „Schade für's schöne Talent des herrlichen Künstlers, o hätt' er Aus dem Marmorblock doch ein Crucifix uns gemacht!“ Nur durch den Vergleich mit dem mythologischen Jupiter ist uns klar geworden, was ferner der verehrte Publicist unter dem Ausdruck: feiner Priapismus versteht. Indessen scheint uns, als wenn der Priapismus, der dem olympischen Zeus die Adern schwellte, gar kein so feiner, sondern vielmehr ein höchst gewaltiger gewesen sey. Nur ein Epikuräer kann einen feinen Priapismus haben. Allerdings sind bei dem die Natur und alles Menschliche umfassenden Geiste Goethe's die Schilderungen einer groben Sinnlichkeit ebenso lebenvoll und markig, als die gewaltigen Schläge seines Genie's, die das menschliche Drängen und Treiben überhaupt aus den Tiefen der Seele an das Tageslicht ziehen, in jedem höher strebenden Geiste ihre erschütternde Wahrheit finden. Kaum möchte Jemand im Ernste vermeinen, das Dichten und Trachten unsrer jetzigen Dichter, die selbst nicht daran denken, solche Ansprüche zu machen, der Poesie eines Goethe gleichsetzen zu wollen. Wir schätzen unsre neuern Dichter, doch sind wir nicht so stolz auf sie, daß wir darüber die Würde und Größe unserer Litteratur vergessen sollten. Die deutsche Kraft kann übrigens nicht schlafen, nachdem ihre Heroen sie auf einen so festen Grund gesetzt haben, und Goethe selbst verweist auf die Zukunft, die sowohl ihn anerkennen als weiter fortschreiten wird. „Und wenn sich meine grauen Wimpern schließen, So wird sich noch ein mildes Licht ergießen,

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Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 164. Augsburg, 12. Juni 1840, S. 1305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_164_18400612/9>, abgerufen am 27.04.2024.