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Allgemeine Zeitung. Nr. 166. Augsburg, 14. Juni 1840.

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Die deutschen Publicisten und die "europäische Pentarchie."

(Beschluß.)

Wir sind das "Herz Europa's," das große Ideen-Magazin und zugleich die Träger des lateinischen Christenthums und seiner Bildung. Niemand (weder Mensch noch Gedanke) ist bleibend Sieger und Herr von Europa, wenn er nicht über Deutschland zu gebieten hat.

Germanien, voll blühender Städte und kriegerischer Kraft, mäßig, arbeitsam, tapfer, empfindsam, methodisch, aber kirchlich und politisch unheilbar zerrissen, soll jetzt hoch auf der Weltbühne gegen das Tafelland von Moskovien, dieses unermeßliche Soldatenhaus mit schweigsamen Feldern, Birkenalleen, Föhrenwald und hölzernen Herrenhäusern, das Conglomerat gegen die engverschmolzene Einheit, das müde Rom gegen das sieggekrönte, jugendlich aufblühende Neu-Byzanz die Frage des Jahrhunderts entscheiden.

Der Pentarchist sagt es unumwunden, die griechisch-gläubigen Russen wollen über Deutschland regieren, zwar friedlich, wohlthätig, unmerklich, verlangen gar nichts für ihre Mühe, wollen sogar noch bezahlen, und wenden sich mit Klugheit zuerst an die Vielen, an die Kleinen, um mit ihrem Beistande zuletzt den Großen zu imponiren, und gleichsam ein europäisches Austrägalgericht im Herzen Deutschlands zu errichten.

Niemals wird und kann ein unbestochener Mann den Mittelstaaten rathen, freiwillig "das slavische Heldenvolk" zum Hüter ächt deutscher Freiheit herbeizurufen. Ob sich aber das "slavische Heldenvolk" dieses Amt nicht selbst zutheile und ungebeten übernehme, oder vielleicht gar schon übernommen habe und ausübe, ist eine Frage, die sich hier nicht wohl erörtern läßt. Es ist eben nicht nöthig, daß man auf dem Frankfurter Bundestag Sitz und Stimme habe, um sein Gewicht in die Wagschale Deutschlands zu legen. Sagt nicht irgendwo der Biograph:
.... quod Darii regno ipsorum niteretur dominatio ....?
Hinter den Germanen, in der Civitas magna abyssi, lauert die Revolution, der Geist der Zerstörung, "suchend, wen er verschlinge." Und seit dem unvergänglichen Triumphe von 1812 können sich Fürsten und Völker Deutschlands des Gedankens nicht mehr erwehren, daß gegen die Nachstellungen des höllischen Dämons, gegen die grausame und unerträgliche Herrschaft der von Gallien ausgehenden Demokratie, in letzter Instanz nur durch den frommen, altgläubigen Imperator von Moskovien Schirm und Abwehr zu hoffen sey. In Europa haben die Russen allein die letzte und fürchterlichste Probe bestanden: sie haben Napoleon und in ihm den Continent von Europa überwunden. Dieß ist eine Thatsache, die weder Mißgunst, noch Patriotismus, noch Zeit je verwischen kann. Fraget nicht lange, ob die Russen auch Talent und Macht besitzen, die übernommene Rolle bis auf die letzte Consequenz durchzuführen. Gegen die unabhängigen Chanate am Oxus schickt man Perowskij mit Kamelen und Kirgisen; gegen die unabhängigen Chanate am Rhein aber die Pentarchie mit Syllogismen, Dilemmen und Kettenschluß. Ueberall weiß der Russe die passenden Waffen zu brauchen.

Schon der Gedanke, dieses rührsame Volk mit seinem Einheitsinstinct, seiner mönchischen Zucht und Casernendisciplin in der Nähe zu haben, hat für die Deutschen etwas Unerträgliches. Unser Element ist Trennung, Sonderleben, Waldeinsamkeit, stiller Genuß, Schultheorie, schwärmerisches Gefühl und universelle Menschenliebe mit poetischem Entzücken. Jeder Einzelmensch bildet hier gleichsam ein abgeschlossenes Reich mit souveränen Prätensionen. Der Mensch, sagt die Kantische Philosophie, ist Selbstzweck, und nach Hegel ist er gar ein incarnirter Gott und "versöhnt den Kampf zwischen der Ganzheit und Getrenntheit." Diese theoretische Zersplitterung hat bei uns eine solche Ausdehnung erreicht, daß man, nach den Vorwürfen gallischer Gegner, in Deutschland mit Mühe zwei Anhänger desselben Systems, ja kaum ein Individuum finden kann, welches nicht mit sich selbst im Widerspruch stünde. - Die Russen dagegen, als ächte Mowahhidin, *) drängen sich zusammen, erwärmen sich gegenseitig und gehorchen in guten und bösen Tagen dem Willen des Einen um Gotteswillen. Omnibus una quies operum, labor omnibus unus.

Mit Unrecht beschuldigt man den Pentarchisten der Ironie und diplomatischen Doppelzüngigkeit, wenn er das russische Cabinet gegen den Vorwurf unersättlicher Ländergier vertheidigt, und die Europäer überreden will, Rußland sey kein erobernder Staat im gewöhnlichen Sinne des Worts, d. h. man habe in Deutschland noch nichts von russischen Garnisonen und Steuerbeamten zu fürchten, und die Russen wollten nicht, wie Dschingischan, wie Napoleon und die gallischen Demokraten, blind fortrennend, gleich einem Waldstrom sich über nahe und ferne Reiche ergießen, um nach erschöpfter Kraft ohnmächtig im Sande zu versiegen. - Ohne Zweifel ist man an der Newa von dem Geiste besessen, der in Italien die "rabbia ......" heißt. Man kennt daselbst aber auch eben so gut das Geheimniß aller wahren Größe und aller dauerhaften Macht: Sich-Selbst-Maaßsetzen, sich Freude und Genuß versagen, Dulden und Entbehren, um andern seinen Willen als Gesetz aufzulegen. Will der Mensch aus seiner Stellung materiellen Vortheil ziehen, und in vollen Zügen die Frucht seiner Mühsale schlürfen, so verfolgt ihn alsbald Sättigung, Rückschritt und Verfall. Nach der alten Weltansicht ist die Gottheit auf das Glück der Sterblichen neidisch und richtet gerne Verwirrungen an, [fremdsprachliches Material - fehlt]. - Einerseits das Erkennen und Festhalten dieser Maxime, andererseits aber die geographische Lage und der Volkscharakter erklären uns vollständig Rußlands Weltstellung, Größe, Macht und Zukunft. Weder publice noch privatim wird je ein Russe eingestehen, daß ihr Land auf Eroberungen sinne. Von Peter I bis zum Imperator Nikolaus, sagen sie, "wollte und mußte Rußland nur die von Gott angewiesene Position einnehmen, um die Aufgabe seines Daseyns zu lösen." Dieses Lebensthema aber besteht, nach der Definition des Pentarchisten, in Erlangung einer vermittelnden Stellung zwischen dem Westen und Osten, zwischen Europa und Asien. Wer aber zwischen Europa und Asien vermittelt, d. i. die streitigen Interessen beider Welttheile versöhnt, und ihre Zerwürfnisse ausgleicht, der übt das oberste Schiedsrichteramt und ist - mit andern Worten - praeses orbis terrarum.

Die Russen gehen offen zu Werke, und sind viel redlicher als andere Mächte, die auch "Positionen" und weiß Gott was alles nehmen möchten, ihre Absichten aber sorgfältig bis auf den günstigen Augenblick verbergen. Es erregt ein eigenes Gefühl, wenn man liest, wie jener Feldherr im Alterthum die Kundschafter seines Gegners selbst im Lager herumführte, und ihnen ohne Rückhalt seine Streitkräfte zeigte.

Nach dem Wortsinn des Pentarchisten soll der russische Staatskörper, um sein hohes Amt mit Nachdruck zu üben, in allen seinen Gliedern naturgemäß ausgebildet und abgerundet,

*) D. i. Einheitler, eine mächtige Dynastie in Mauritanien.
Die deutschen Publicisten und dieeuropäische Pentarchie.“

(Beschluß.)

Wir sind das „Herz Europa's,“ das große Ideen-Magazin und zugleich die Träger des lateinischen Christenthums und seiner Bildung. Niemand (weder Mensch noch Gedanke) ist bleibend Sieger und Herr von Europa, wenn er nicht über Deutschland zu gebieten hat.

Germanien, voll blühender Städte und kriegerischer Kraft, mäßig, arbeitsam, tapfer, empfindsam, methodisch, aber kirchlich und politisch unheilbar zerrissen, soll jetzt hoch auf der Weltbühne gegen das Tafelland von Moskovien, dieses unermeßliche Soldatenhaus mit schweigsamen Feldern, Birkenalleen, Föhrenwald und hölzernen Herrenhäusern, das Conglomerat gegen die engverschmolzene Einheit, das müde Rom gegen das sieggekrönte, jugendlich aufblühende Neu-Byzanz die Frage des Jahrhunderts entscheiden.

Der Pentarchist sagt es unumwunden, die griechisch-gläubigen Russen wollen über Deutschland regieren, zwar friedlich, wohlthätig, unmerklich, verlangen gar nichts für ihre Mühe, wollen sogar noch bezahlen, und wenden sich mit Klugheit zuerst an die Vielen, an die Kleinen, um mit ihrem Beistande zuletzt den Großen zu imponiren, und gleichsam ein europäisches Austrägalgericht im Herzen Deutschlands zu errichten.

Niemals wird und kann ein unbestochener Mann den Mittelstaaten rathen, freiwillig „das slavische Heldenvolk“ zum Hüter ächt deutscher Freiheit herbeizurufen. Ob sich aber das „slavische Heldenvolk“ dieses Amt nicht selbst zutheile und ungebeten übernehme, oder vielleicht gar schon übernommen habe und ausübe, ist eine Frage, die sich hier nicht wohl erörtern läßt. Es ist eben nicht nöthig, daß man auf dem Frankfurter Bundestag Sitz und Stimme habe, um sein Gewicht in die Wagschale Deutschlands zu legen. Sagt nicht irgendwo der Biograph:
.... quod Darii regno ipsorum niteretur dominatio ....?
Hinter den Germanen, in der Civitas magna abyssi, lauert die Revolution, der Geist der Zerstörung, „suchend, wen er verschlinge.“ Und seit dem unvergänglichen Triumphe von 1812 können sich Fürsten und Völker Deutschlands des Gedankens nicht mehr erwehren, daß gegen die Nachstellungen des höllischen Dämons, gegen die grausame und unerträgliche Herrschaft der von Gallien ausgehenden Demokratie, in letzter Instanz nur durch den frommen, altgläubigen Imperator von Moskovien Schirm und Abwehr zu hoffen sey. In Europa haben die Russen allein die letzte und fürchterlichste Probe bestanden: sie haben Napoleon und in ihm den Continent von Europa überwunden. Dieß ist eine Thatsache, die weder Mißgunst, noch Patriotismus, noch Zeit je verwischen kann. Fraget nicht lange, ob die Russen auch Talent und Macht besitzen, die übernommene Rolle bis auf die letzte Consequenz durchzuführen. Gegen die unabhängigen Chanate am Oxus schickt man Perowskij mit Kamelen und Kirgisen; gegen die unabhängigen Chanate am Rhein aber die Pentarchie mit Syllogismen, Dilemmen und Kettenschluß. Ueberall weiß der Russe die passenden Waffen zu brauchen.

Schon der Gedanke, dieses rührsame Volk mit seinem Einheitsinstinct, seiner mönchischen Zucht und Casernendisciplin in der Nähe zu haben, hat für die Deutschen etwas Unerträgliches. Unser Element ist Trennung, Sonderleben, Waldeinsamkeit, stiller Genuß, Schultheorie, schwärmerisches Gefühl und universelle Menschenliebe mit poetischem Entzücken. Jeder Einzelmensch bildet hier gleichsam ein abgeschlossenes Reich mit souveränen Prätensionen. Der Mensch, sagt die Kantische Philosophie, ist Selbstzweck, und nach Hegel ist er gar ein incarnirter Gott und „versöhnt den Kampf zwischen der Ganzheit und Getrenntheit.“ Diese theoretische Zersplitterung hat bei uns eine solche Ausdehnung erreicht, daß man, nach den Vorwürfen gallischer Gegner, in Deutschland mit Mühe zwei Anhänger desselben Systems, ja kaum ein Individuum finden kann, welches nicht mit sich selbst im Widerspruch stünde. – Die Russen dagegen, als ächte Mowahhidin, *) drängen sich zusammen, erwärmen sich gegenseitig und gehorchen in guten und bösen Tagen dem Willen des Einen um Gotteswillen. Omnibus una quies operum, labor omnibus unus.

Mit Unrecht beschuldigt man den Pentarchisten der Ironie und diplomatischen Doppelzüngigkeit, wenn er das russische Cabinet gegen den Vorwurf unersättlicher Ländergier vertheidigt, und die Europäer überreden will, Rußland sey kein erobernder Staat im gewöhnlichen Sinne des Worts, d. h. man habe in Deutschland noch nichts von russischen Garnisonen und Steuerbeamten zu fürchten, und die Russen wollten nicht, wie Dschingischan, wie Napoleon und die gallischen Demokraten, blind fortrennend, gleich einem Waldstrom sich über nahe und ferne Reiche ergießen, um nach erschöpfter Kraft ohnmächtig im Sande zu versiegen. – Ohne Zweifel ist man an der Newa von dem Geiste besessen, der in Italien die „rabbia ......“ heißt. Man kennt daselbst aber auch eben so gut das Geheimniß aller wahren Größe und aller dauerhaften Macht: Sich-Selbst-Maaßsetzen, sich Freude und Genuß versagen, Dulden und Entbehren, um andern seinen Willen als Gesetz aufzulegen. Will der Mensch aus seiner Stellung materiellen Vortheil ziehen, und in vollen Zügen die Frucht seiner Mühsale schlürfen, so verfolgt ihn alsbald Sättigung, Rückschritt und Verfall. Nach der alten Weltansicht ist die Gottheit auf das Glück der Sterblichen neidisch und richtet gerne Verwirrungen an, [fremdsprachliches Material – fehlt]. – Einerseits das Erkennen und Festhalten dieser Maxime, andererseits aber die geographische Lage und der Volkscharakter erklären uns vollständig Rußlands Weltstellung, Größe, Macht und Zukunft. Weder publice noch privatim wird je ein Russe eingestehen, daß ihr Land auf Eroberungen sinne. Von Peter I bis zum Imperator Nikolaus, sagen sie, „wollte und mußte Rußland nur die von Gott angewiesene Position einnehmen, um die Aufgabe seines Daseyns zu lösen.“ Dieses Lebensthema aber besteht, nach der Definition des Pentarchisten, in Erlangung einer vermittelnden Stellung zwischen dem Westen und Osten, zwischen Europa und Asien. Wer aber zwischen Europa und Asien vermittelt, d. i. die streitigen Interessen beider Welttheile versöhnt, und ihre Zerwürfnisse ausgleicht, der übt das oberste Schiedsrichteramt und ist – mit andern Worten – praeses orbis terrarum.

Die Russen gehen offen zu Werke, und sind viel redlicher als andere Mächte, die auch „Positionen“ und weiß Gott was alles nehmen möchten, ihre Absichten aber sorgfältig bis auf den günstigen Augenblick verbergen. Es erregt ein eigenes Gefühl, wenn man liest, wie jener Feldherr im Alterthum die Kundschafter seines Gegners selbst im Lager herumführte, und ihnen ohne Rückhalt seine Streitkräfte zeigte.

Nach dem Wortsinn des Pentarchisten soll der russische Staatskörper, um sein hohes Amt mit Nachdruck zu üben, in allen seinen Gliedern naturgemäß ausgebildet und abgerundet,

*) D. i. Einheitler, eine mächtige Dynastie in Mauritanien.
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[1322/0010] Die deutschen Publicisten und die „europäische Pentarchie.“ (Beschluß.) Wir sind das „Herz Europa's,“ das große Ideen-Magazin und zugleich die Träger des lateinischen Christenthums und seiner Bildung. Niemand (weder Mensch noch Gedanke) ist bleibend Sieger und Herr von Europa, wenn er nicht über Deutschland zu gebieten hat. Germanien, voll blühender Städte und kriegerischer Kraft, mäßig, arbeitsam, tapfer, empfindsam, methodisch, aber kirchlich und politisch unheilbar zerrissen, soll jetzt hoch auf der Weltbühne gegen das Tafelland von Moskovien, dieses unermeßliche Soldatenhaus mit schweigsamen Feldern, Birkenalleen, Föhrenwald und hölzernen Herrenhäusern, das Conglomerat gegen die engverschmolzene Einheit, das müde Rom gegen das sieggekrönte, jugendlich aufblühende Neu-Byzanz die Frage des Jahrhunderts entscheiden. Der Pentarchist sagt es unumwunden, die griechisch-gläubigen Russen wollen über Deutschland regieren, zwar friedlich, wohlthätig, unmerklich, verlangen gar nichts für ihre Mühe, wollen sogar noch bezahlen, und wenden sich mit Klugheit zuerst an die Vielen, an die Kleinen, um mit ihrem Beistande zuletzt den Großen zu imponiren, und gleichsam ein europäisches Austrägalgericht im Herzen Deutschlands zu errichten. Niemals wird und kann ein unbestochener Mann den Mittelstaaten rathen, freiwillig „das slavische Heldenvolk“ zum Hüter ächt deutscher Freiheit herbeizurufen. Ob sich aber das „slavische Heldenvolk“ dieses Amt nicht selbst zutheile und ungebeten übernehme, oder vielleicht gar schon übernommen habe und ausübe, ist eine Frage, die sich hier nicht wohl erörtern läßt. Es ist eben nicht nöthig, daß man auf dem Frankfurter Bundestag Sitz und Stimme habe, um sein Gewicht in die Wagschale Deutschlands zu legen. Sagt nicht irgendwo der Biograph: .... quod Darii regno ipsorum niteretur dominatio ....? Hinter den Germanen, in der Civitas magna abyssi, lauert die Revolution, der Geist der Zerstörung, „suchend, wen er verschlinge.“ Und seit dem unvergänglichen Triumphe von 1812 können sich Fürsten und Völker Deutschlands des Gedankens nicht mehr erwehren, daß gegen die Nachstellungen des höllischen Dämons, gegen die grausame und unerträgliche Herrschaft der von Gallien ausgehenden Demokratie, in letzter Instanz nur durch den frommen, altgläubigen Imperator von Moskovien Schirm und Abwehr zu hoffen sey. In Europa haben die Russen allein die letzte und fürchterlichste Probe bestanden: sie haben Napoleon und in ihm den Continent von Europa überwunden. Dieß ist eine Thatsache, die weder Mißgunst, noch Patriotismus, noch Zeit je verwischen kann. Fraget nicht lange, ob die Russen auch Talent und Macht besitzen, die übernommene Rolle bis auf die letzte Consequenz durchzuführen. Gegen die unabhängigen Chanate am Oxus schickt man Perowskij mit Kamelen und Kirgisen; gegen die unabhängigen Chanate am Rhein aber die Pentarchie mit Syllogismen, Dilemmen und Kettenschluß. Ueberall weiß der Russe die passenden Waffen zu brauchen. Schon der Gedanke, dieses rührsame Volk mit seinem Einheitsinstinct, seiner mönchischen Zucht und Casernendisciplin in der Nähe zu haben, hat für die Deutschen etwas Unerträgliches. Unser Element ist Trennung, Sonderleben, Waldeinsamkeit, stiller Genuß, Schultheorie, schwärmerisches Gefühl und universelle Menschenliebe mit poetischem Entzücken. Jeder Einzelmensch bildet hier gleichsam ein abgeschlossenes Reich mit souveränen Prätensionen. Der Mensch, sagt die Kantische Philosophie, ist Selbstzweck, und nach Hegel ist er gar ein incarnirter Gott und „versöhnt den Kampf zwischen der Ganzheit und Getrenntheit.“ Diese theoretische Zersplitterung hat bei uns eine solche Ausdehnung erreicht, daß man, nach den Vorwürfen gallischer Gegner, in Deutschland mit Mühe zwei Anhänger desselben Systems, ja kaum ein Individuum finden kann, welches nicht mit sich selbst im Widerspruch stünde. – Die Russen dagegen, als ächte Mowahhidin, *) drängen sich zusammen, erwärmen sich gegenseitig und gehorchen in guten und bösen Tagen dem Willen des Einen um Gotteswillen. Omnibus una quies operum, labor omnibus unus. Mit Unrecht beschuldigt man den Pentarchisten der Ironie und diplomatischen Doppelzüngigkeit, wenn er das russische Cabinet gegen den Vorwurf unersättlicher Ländergier vertheidigt, und die Europäer überreden will, Rußland sey kein erobernder Staat im gewöhnlichen Sinne des Worts, d. h. man habe in Deutschland noch nichts von russischen Garnisonen und Steuerbeamten zu fürchten, und die Russen wollten nicht, wie Dschingischan, wie Napoleon und die gallischen Demokraten, blind fortrennend, gleich einem Waldstrom sich über nahe und ferne Reiche ergießen, um nach erschöpfter Kraft ohnmächtig im Sande zu versiegen. – Ohne Zweifel ist man an der Newa von dem Geiste besessen, der in Italien die „rabbia ......“ heißt. Man kennt daselbst aber auch eben so gut das Geheimniß aller wahren Größe und aller dauerhaften Macht: Sich-Selbst-Maaßsetzen, sich Freude und Genuß versagen, Dulden und Entbehren, um andern seinen Willen als Gesetz aufzulegen. Will der Mensch aus seiner Stellung materiellen Vortheil ziehen, und in vollen Zügen die Frucht seiner Mühsale schlürfen, so verfolgt ihn alsbald Sättigung, Rückschritt und Verfall. Nach der alten Weltansicht ist die Gottheit auf das Glück der Sterblichen neidisch und richtet gerne Verwirrungen an, _ . – Einerseits das Erkennen und Festhalten dieser Maxime, andererseits aber die geographische Lage und der Volkscharakter erklären uns vollständig Rußlands Weltstellung, Größe, Macht und Zukunft. Weder publice noch privatim wird je ein Russe eingestehen, daß ihr Land auf Eroberungen sinne. Von Peter I bis zum Imperator Nikolaus, sagen sie, „wollte und mußte Rußland nur die von Gott angewiesene Position einnehmen, um die Aufgabe seines Daseyns zu lösen.“ Dieses Lebensthema aber besteht, nach der Definition des Pentarchisten, in Erlangung einer vermittelnden Stellung zwischen dem Westen und Osten, zwischen Europa und Asien. Wer aber zwischen Europa und Asien vermittelt, d. i. die streitigen Interessen beider Welttheile versöhnt, und ihre Zerwürfnisse ausgleicht, der übt das oberste Schiedsrichteramt und ist – mit andern Worten – praeses orbis terrarum. Die Russen gehen offen zu Werke, und sind viel redlicher als andere Mächte, die auch „Positionen“ und weiß Gott was alles nehmen möchten, ihre Absichten aber sorgfältig bis auf den günstigen Augenblick verbergen. Es erregt ein eigenes Gefühl, wenn man liest, wie jener Feldherr im Alterthum die Kundschafter seines Gegners selbst im Lager herumführte, und ihnen ohne Rückhalt seine Streitkräfte zeigte. Nach dem Wortsinn des Pentarchisten soll der russische Staatskörper, um sein hohes Amt mit Nachdruck zu üben, in allen seinen Gliedern naturgemäß ausgebildet und abgerundet, *) D. i. Einheitler, eine mächtige Dynastie in Mauritanien.

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 166. Augsburg, 14. Juni 1840, S. 1322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_166_18400614/10>, abgerufen am 21.11.2024.