Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung. Nr. 175. Augsburg, 23. Juni 1840.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Land- und Seemacht der Chinesen.

"Wenn ich ein Engländer wäre," sagte Napoleon zu O Meara, *). "so würde ich denjenigen, welcher zu einem Krieg mit China rathen könnte, für den größten Feind meines Landes auf Erden halten. Ihr müßt am Ende doch unterliegen, was dann leichtlich eine Revolution in Indien hervorrufen möchte." Mit welchem Triumphgeschrei würden die Tories, wenn ihnen dieser Ausspruch des einzigen Mannes bekannt gewesen wäre, sich desselben gegen das Whigministerium bedient haben! Indessen nur Unkunde und Parteiwuth könnten sich leeren Befürchtungen hingeben. Die Majestät Großbritanniens wird sicherlich, wenn Europa oder Amerika nicht widerstrebend eingreifen, aus dem Kriege gegen China ebenso siegreich und ruhmumstrahlt hervortreten, wie aus dem Kampfe gegen Afghanistan, gegen Nepal und Birma. Die Behauptung Napoleons beruht, gleich mehreren andern seiner Aeußerungen in Betreff Asiens, auf Unkenntniß der wirklichen Zustände dieses hinter Europa um mehrere Jahrhunderte zurückgebliebenen Erdtheils. Die Unkunde der eigentlichen Thatsachen kann aber weder durch Scharfsinn noch durch Geist ersetzt werden. Wer vermöchte wohl die Verhältnisse Tibets und der Mongolei zu durchschauen, und wäre er auch dreimal Napoleon, wenn man, wie dieser größte Feldherr der neuern Jahrhunderte es gethan, die Existenz des Dalai Lama bezweifeln würde!

Obgleich das Mittelreich seit den frühesten Zeiten seiner Geschichte, wie zum Theil heutigen Tags noch, ringsum von schwachen barbarischen Horden umgeben war, so suchte doch das südöstlichste Culturvolk der Erde niemals sich die Gränzlande gen Nord, Süd und West zinspflichtig zu machen. Mehr denn alle andern Menschen der Erde, so hieß es bereits im Alterthume, seyen die Chinesen dem Frieden ergeben; in der Heimath führen sie ein ruhiges, vergnügliches Leben. Weit entfernt, andere Stämme mit Krieg zu überziehen, wären sie vielmehr jeglichem Umgang mit den übrigen Sterblichen abgeneigt. Sie bedürfen auch in der That weder der Fremden noch der auswärtigen Erzeugnisse. Es bringe ihr eigenes Land Alles in Fülle hervor; es sey geschmückt mit herrlichen Pflanzen, und ein bewunderungswürdiger Reichthum an Früchten und Producten aller Art sey ausgegossen über ihre Auen. Nur wenn Abwehr es erheischte, wie mehrmalen geschah im Laufe der Jahrhunderte, haben die Chinesen ihre Waffen außerhalb Landes getragen; dann mußten sich aber vor der überwiegenden Kraft und Einsicht des hohen Drachensitzes, von dem östlichen Meere bis gen Bochara und Samarkand hin, vom Amur und Irtisch bis zum Irawaddy und Menam schnell alle Reiche und Völker demüthigen. Auf den festen Grundlagen des Verstandes, der Ordnung und Genügsamkeit, auf unbedingtem Gehorsam gegen Eltern und Verwandte, gegen die Obern und Gesetze haben die alten Fürsten und Weisen der Blume der Mitte die menschliche Gesellschaft, den Staat auferbaut, und dieses Fundament hielt länger aus denn aller schlau ersonnene Wahn, länger denn alle trügerisch geheiligte Willkür in den andern Theilen der Erde. Barbaren zu unterwerfen und als solche sie zu beherrschen, lehrten die Heroen der östlichen Menschheit, sey gar nicht der Mühe werth. Werde aber in ihnen selbst das Gefühl ihrer Verworfenheit rege, fühlen sie das Bedürfniß der Erneuerung *) durch Tugend und Gerechtigkeit, dann kommen sie freiwillig herbei und unterwerfen sich dem allein rechtmäßigen Herrscher auf Erden, dem Himmelssohne der Mitte, sie kommen herbei, um den Durst zu stillen an der reichlich sprudelnden Quelle des heiligen Mannes von Lu. Bei solcher Denkweise der Nation mußte natürlich die bewaffnete Macht in den Hintergrund des Staatsorganismus zurücktreten; man wollte ja durch Ueberlegenheit des Geistes herrschen, und nicht durch physische Gewalt. Der Waffen bedarf man bloß zur Erdrückung der wilden maßlosen Leidenschaften, zur Erhaltung der Gesetze und des geregelten bürgerlichen Lebens. Der Soldat sey nicht dafür besoldet, das Volk zu unterdrücken, sondern es zu beschützen gegen jede Willkür, gegen jede Ungerechtigkeit von oben wie von unten. China ward während der Jahrtausende seiner Geschichte einigemal bald ganz bald theilweise von den umwohnenden Barbaren überzogen und unterjocht; schnell aber bändigten wiederum die Söhne des Jao und Schun den wilden Geist ihrer Gebieter, und nach kurzer Zeit fügte sich der widerspänstige Nacken tatarischer Horden dem anfangs so unbequemen Joche der Civilisation. Wie ehemals zu den Zeiten der Kitan und Mongolen, so erfreuen sich die bürgerlichen Beamten heutigen Tags, unter der Herrschaft der tungusischen Mandschu, des Vortritts und eines höhern Ranges vor den Hauptleuten der bewaffneten Macht. Es stehen die Generale in den neunzehn Kreisen des Reiches unter den bürgerlichen Statthaltern - weßhalb diese auch sehr bezeichnend die Leiter des Ganzen (Tsong tu) genannt werden - und erhalten einen geringern Sold. Die chinesische Armee muß daher als eine Art Gendarmerie in großem Maaßstabe betrachtet werden. Räuber einzufangen, Sicherheit auf den Land- und Wasserstraßen zu erhalten, dieß ist die Aufgabe der Krieger der Mitte. Die äußerliche wie die innerliche Organisation der Land- und Seemacht muß aber natürlich durch jede Fremdherrschaft, namentlich durch Uebersiedelung eines ganzen Volkes mannichfache Veränderungen und Umgestaltungen erleiden. So heutigen Tags, wie zu den Zeiten des Tschinggis Chakan und seiner Nachfolger.

Die Mandschu, von den chinesischen Patrioten als Stützen des wankenden Thrones der Ming herbeigerufen, bemächtigten sich mit Blitzesschnelle der nördlichen Kreise des Reichs. An die Stelle der furchtbaren Verwirrung, der muthwilligen maßlosen Grausamkeit erhoben sie das Panier der Ordnung und Menschlichkeit; es eilte ihnen deßhalb nicht bloß ein großer Theil des gedankenlosen Volkes, sondern auch die Edeln der Nation, welche an dem Schicksal der Ming verzweifelten, vertrauungsvoll entgegen. Die Noth ward zur Tugend; man gehorchte dem schutzgewährenden Fremden, um nicht von den Landsleuten unterdrückt und erwürgt zu werden. Diese Unterthanen der Ming wurden von den einsichtigen Tungusen als Freunde und Genossen aufgenommen und für alle künftigen

*) O Meara, Napoleon in Exile. London 1822. II. 69
*) Der Begriff Erneuerung wird im Chinesischen mit einem aus Mensch und Ordnung zusammengesetzten Bilde geschrieben; in der Rede entspricht ihm der Laut Hoa. Es scheint wahrhaft unbegreiflich, daß man jetzt noch behaupten kann, die chinesische Schrift sey nicht aus Bildern hervorgegangen, eine Meinung, welche der Präsident der philosophischen Gesellschaft zu Philadelphia, de Ponceau, noch vor kurzem in einem eigenen Werke zu begründen suchte. Nicht bloß die chinesische, sondern jede Schrift hat mit Bildern begonnen, aber nur im Reiche der Mitte haben die Bilder niemals der Lautschrift weichen müssen.
Die Land- und Seemacht der Chinesen.

„Wenn ich ein Engländer wäre,“ sagte Napoleon zu O Meara, *). „so würde ich denjenigen, welcher zu einem Krieg mit China rathen könnte, für den größten Feind meines Landes auf Erden halten. Ihr müßt am Ende doch unterliegen, was dann leichtlich eine Revolution in Indien hervorrufen möchte.“ Mit welchem Triumphgeschrei würden die Tories, wenn ihnen dieser Ausspruch des einzigen Mannes bekannt gewesen wäre, sich desselben gegen das Whigministerium bedient haben! Indessen nur Unkunde und Parteiwuth könnten sich leeren Befürchtungen hingeben. Die Majestät Großbritanniens wird sicherlich, wenn Europa oder Amerika nicht widerstrebend eingreifen, aus dem Kriege gegen China ebenso siegreich und ruhmumstrahlt hervortreten, wie aus dem Kampfe gegen Afghanistan, gegen Nepal und Birma. Die Behauptung Napoleons beruht, gleich mehreren andern seiner Aeußerungen in Betreff Asiens, auf Unkenntniß der wirklichen Zustände dieses hinter Europa um mehrere Jahrhunderte zurückgebliebenen Erdtheils. Die Unkunde der eigentlichen Thatsachen kann aber weder durch Scharfsinn noch durch Geist ersetzt werden. Wer vermöchte wohl die Verhältnisse Tibets und der Mongolei zu durchschauen, und wäre er auch dreimal Napoleon, wenn man, wie dieser größte Feldherr der neuern Jahrhunderte es gethan, die Existenz des Dalai Lama bezweifeln würde!

Obgleich das Mittelreich seit den frühesten Zeiten seiner Geschichte, wie zum Theil heutigen Tags noch, ringsum von schwachen barbarischen Horden umgeben war, so suchte doch das südöstlichste Culturvolk der Erde niemals sich die Gränzlande gen Nord, Süd und West zinspflichtig zu machen. Mehr denn alle andern Menschen der Erde, so hieß es bereits im Alterthume, seyen die Chinesen dem Frieden ergeben; in der Heimath führen sie ein ruhiges, vergnügliches Leben. Weit entfernt, andere Stämme mit Krieg zu überziehen, wären sie vielmehr jeglichem Umgang mit den übrigen Sterblichen abgeneigt. Sie bedürfen auch in der That weder der Fremden noch der auswärtigen Erzeugnisse. Es bringe ihr eigenes Land Alles in Fülle hervor; es sey geschmückt mit herrlichen Pflanzen, und ein bewunderungswürdiger Reichthum an Früchten und Producten aller Art sey ausgegossen über ihre Auen. Nur wenn Abwehr es erheischte, wie mehrmalen geschah im Laufe der Jahrhunderte, haben die Chinesen ihre Waffen außerhalb Landes getragen; dann mußten sich aber vor der überwiegenden Kraft und Einsicht des hohen Drachensitzes, von dem östlichen Meere bis gen Bochara und Samarkand hin, vom Amur und Irtisch bis zum Irawaddy und Menam schnell alle Reiche und Völker demüthigen. Auf den festen Grundlagen des Verstandes, der Ordnung und Genügsamkeit, auf unbedingtem Gehorsam gegen Eltern und Verwandte, gegen die Obern und Gesetze haben die alten Fürsten und Weisen der Blume der Mitte die menschliche Gesellschaft, den Staat auferbaut, und dieses Fundament hielt länger aus denn aller schlau ersonnene Wahn, länger denn alle trügerisch geheiligte Willkür in den andern Theilen der Erde. Barbaren zu unterwerfen und als solche sie zu beherrschen, lehrten die Heroen der östlichen Menschheit, sey gar nicht der Mühe werth. Werde aber in ihnen selbst das Gefühl ihrer Verworfenheit rege, fühlen sie das Bedürfniß der Erneuerung *) durch Tugend und Gerechtigkeit, dann kommen sie freiwillig herbei und unterwerfen sich dem allein rechtmäßigen Herrscher auf Erden, dem Himmelssohne der Mitte, sie kommen herbei, um den Durst zu stillen an der reichlich sprudelnden Quelle des heiligen Mannes von Lu. Bei solcher Denkweise der Nation mußte natürlich die bewaffnete Macht in den Hintergrund des Staatsorganismus zurücktreten; man wollte ja durch Ueberlegenheit des Geistes herrschen, und nicht durch physische Gewalt. Der Waffen bedarf man bloß zur Erdrückung der wilden maßlosen Leidenschaften, zur Erhaltung der Gesetze und des geregelten bürgerlichen Lebens. Der Soldat sey nicht dafür besoldet, das Volk zu unterdrücken, sondern es zu beschützen gegen jede Willkür, gegen jede Ungerechtigkeit von oben wie von unten. China ward während der Jahrtausende seiner Geschichte einigemal bald ganz bald theilweise von den umwohnenden Barbaren überzogen und unterjocht; schnell aber bändigten wiederum die Söhne des Jao und Schun den wilden Geist ihrer Gebieter, und nach kurzer Zeit fügte sich der widerspänstige Nacken tatarischer Horden dem anfangs so unbequemen Joche der Civilisation. Wie ehemals zu den Zeiten der Kitan und Mongolen, so erfreuen sich die bürgerlichen Beamten heutigen Tags, unter der Herrschaft der tungusischen Mandschu, des Vortritts und eines höhern Ranges vor den Hauptleuten der bewaffneten Macht. Es stehen die Generale in den neunzehn Kreisen des Reiches unter den bürgerlichen Statthaltern – weßhalb diese auch sehr bezeichnend die Leiter des Ganzen (Tsong tu) genannt werden – und erhalten einen geringern Sold. Die chinesische Armee muß daher als eine Art Gendarmerie in großem Maaßstabe betrachtet werden. Räuber einzufangen, Sicherheit auf den Land- und Wasserstraßen zu erhalten, dieß ist die Aufgabe der Krieger der Mitte. Die äußerliche wie die innerliche Organisation der Land- und Seemacht muß aber natürlich durch jede Fremdherrschaft, namentlich durch Uebersiedelung eines ganzen Volkes mannichfache Veränderungen und Umgestaltungen erleiden. So heutigen Tags, wie zu den Zeiten des Tschinggis Chakan und seiner Nachfolger.

Die Mandschu, von den chinesischen Patrioten als Stützen des wankenden Thrones der Ming herbeigerufen, bemächtigten sich mit Blitzesschnelle der nördlichen Kreise des Reichs. An die Stelle der furchtbaren Verwirrung, der muthwilligen maßlosen Grausamkeit erhoben sie das Panier der Ordnung und Menschlichkeit; es eilte ihnen deßhalb nicht bloß ein großer Theil des gedankenlosen Volkes, sondern auch die Edeln der Nation, welche an dem Schicksal der Ming verzweifelten, vertrauungsvoll entgegen. Die Noth ward zur Tugend; man gehorchte dem schutzgewährenden Fremden, um nicht von den Landsleuten unterdrückt und erwürgt zu werden. Diese Unterthanen der Ming wurden von den einsichtigen Tungusen als Freunde und Genossen aufgenommen und für alle künftigen

*) O Meara, Napoleon in Exile. London 1822. II. 69
*) Der Begriff Erneuerung wird im Chinesischen mit einem aus Mensch und Ordnung zusammengesetzten Bilde geschrieben; in der Rede entspricht ihm der Laut Hoa. Es scheint wahrhaft unbegreiflich, daß man jetzt noch behaupten kann, die chinesische Schrift sey nicht aus Bildern hervorgegangen, eine Meinung, welche der Präsident der philosophischen Gesellschaft zu Philadelphia, de Ponceau, noch vor kurzem in einem eigenen Werke zu begründen suchte. Nicht bloß die chinesische, sondern jede Schrift hat mit Bildern begonnen, aber nur im Reiche der Mitte haben die Bilder niemals der Lautschrift weichen müssen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="jArticle" n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0009" n="1394"/>
        </div>
      </div>
      <div type="jArticle" n="1">
        <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Die Land- und Seemacht der Chinesen</hi>.</hi> </head><lb/>
        <p>&#x201E;Wenn ich ein Engländer wäre,&#x201C; sagte Napoleon zu O Meara, <note place="foot" n="*)"><p>O Meara, Napoleon in Exile. London 1822. II. 69</p></note>. &#x201E;so würde ich denjenigen, welcher zu einem Krieg mit China rathen könnte, für den größten Feind meines Landes auf Erden halten. Ihr müßt am Ende doch unterliegen, was dann leichtlich eine Revolution in Indien hervorrufen möchte.&#x201C; Mit welchem Triumphgeschrei würden die Tories, wenn ihnen dieser Ausspruch des einzigen Mannes bekannt gewesen wäre, sich desselben gegen das Whigministerium bedient haben! Indessen nur Unkunde und Parteiwuth könnten sich leeren Befürchtungen hingeben. Die Majestät Großbritanniens wird sicherlich, wenn Europa oder Amerika nicht widerstrebend eingreifen, aus dem Kriege gegen China ebenso siegreich und ruhmumstrahlt hervortreten, wie aus dem Kampfe gegen Afghanistan, gegen Nepal und Birma. Die Behauptung Napoleons beruht, gleich mehreren andern seiner Aeußerungen in Betreff Asiens, auf Unkenntniß der wirklichen Zustände dieses hinter Europa um mehrere Jahrhunderte zurückgebliebenen Erdtheils. Die Unkunde der eigentlichen Thatsachen kann aber weder durch Scharfsinn noch durch Geist ersetzt werden. Wer vermöchte wohl die Verhältnisse Tibets und der Mongolei zu durchschauen, und wäre er auch dreimal Napoleon, wenn man, wie dieser größte Feldherr der neuern Jahrhunderte es gethan, die Existenz des Dalai Lama bezweifeln würde!</p><lb/>
        <p>Obgleich das Mittelreich seit den frühesten Zeiten seiner Geschichte, wie zum Theil heutigen Tags noch, ringsum von schwachen barbarischen Horden umgeben war, so suchte doch das südöstlichste Culturvolk der Erde niemals sich die Gränzlande gen Nord, Süd und West zinspflichtig zu machen. Mehr denn alle andern Menschen der Erde, so hieß es bereits im Alterthume, seyen die Chinesen dem Frieden ergeben; in der Heimath führen sie ein ruhiges, vergnügliches Leben. Weit entfernt, andere Stämme mit Krieg zu überziehen, wären sie vielmehr jeglichem Umgang mit den übrigen Sterblichen abgeneigt. Sie bedürfen auch in der That weder der Fremden noch der auswärtigen Erzeugnisse. Es bringe ihr eigenes Land Alles in Fülle hervor; es sey geschmückt mit herrlichen Pflanzen, und ein bewunderungswürdiger Reichthum an Früchten und Producten aller Art sey ausgegossen über ihre Auen. Nur wenn Abwehr es erheischte, wie mehrmalen geschah im Laufe der Jahrhunderte, haben die Chinesen ihre Waffen außerhalb Landes getragen; dann mußten sich aber vor der überwiegenden Kraft und Einsicht des hohen Drachensitzes, von dem östlichen Meere bis gen Bochara und Samarkand hin, vom Amur und Irtisch bis zum Irawaddy und Menam schnell alle Reiche und Völker demüthigen. Auf den festen Grundlagen des Verstandes, der Ordnung und Genügsamkeit, auf unbedingtem Gehorsam gegen Eltern und Verwandte, gegen die Obern und Gesetze haben die alten Fürsten und Weisen der Blume der Mitte die menschliche Gesellschaft, den Staat auferbaut, und dieses Fundament hielt länger aus denn aller schlau ersonnene Wahn, länger denn alle trügerisch geheiligte Willkür in den andern Theilen der Erde. Barbaren zu unterwerfen und als solche sie zu beherrschen, lehrten die Heroen der östlichen Menschheit, sey gar nicht der Mühe werth. Werde aber in ihnen selbst das Gefühl ihrer Verworfenheit rege, fühlen sie das Bedürfniß der Erneuerung <note place="foot" n="*)"><p>Der Begriff <hi rendition="#g">Erneuerung</hi> wird im Chinesischen mit einem aus <hi rendition="#g">Mensch</hi> und <hi rendition="#g">Ordnung</hi> zusammengesetzten Bilde geschrieben; in der Rede entspricht ihm der Laut <hi rendition="#g">Hoa</hi>. Es scheint wahrhaft unbegreiflich, daß man jetzt noch behaupten kann, die chinesische Schrift sey nicht aus Bildern hervorgegangen, eine Meinung, welche der Präsident der philosophischen Gesellschaft zu Philadelphia, de Ponceau, noch vor kurzem in einem eigenen Werke zu begründen suchte. Nicht bloß die chinesische, sondern jede Schrift hat mit Bildern begonnen, aber nur im Reiche der Mitte haben die Bilder niemals der Lautschrift weichen müssen.</p></note> durch Tugend und Gerechtigkeit, dann kommen sie freiwillig herbei und unterwerfen sich dem allein rechtmäßigen Herrscher auf Erden, dem Himmelssohne der Mitte, sie kommen herbei, um den Durst zu stillen an der reichlich sprudelnden Quelle des heiligen Mannes von Lu. Bei solcher Denkweise der Nation mußte natürlich die bewaffnete Macht in den Hintergrund des Staatsorganismus zurücktreten; man wollte ja durch Ueberlegenheit des Geistes herrschen, und nicht durch physische Gewalt. Der Waffen bedarf man bloß zur Erdrückung der wilden maßlosen Leidenschaften, zur Erhaltung der Gesetze und des geregelten bürgerlichen Lebens. Der Soldat sey nicht dafür besoldet, das Volk zu unterdrücken, sondern es zu beschützen gegen jede Willkür, gegen jede Ungerechtigkeit von oben wie von unten. China ward während der Jahrtausende seiner Geschichte einigemal bald ganz bald theilweise von den umwohnenden Barbaren überzogen und unterjocht; schnell aber bändigten wiederum die Söhne des Jao und Schun den wilden Geist ihrer Gebieter, und nach kurzer Zeit fügte sich der widerspänstige Nacken tatarischer Horden dem anfangs so unbequemen Joche der Civilisation. Wie ehemals zu den Zeiten der Kitan und Mongolen, so erfreuen sich die bürgerlichen Beamten heutigen Tags, unter der Herrschaft der tungusischen Mandschu, des Vortritts und eines höhern Ranges vor den Hauptleuten der bewaffneten Macht. Es stehen die Generale in den neunzehn Kreisen des Reiches unter den bürgerlichen Statthaltern &#x2013; weßhalb diese auch sehr bezeichnend die <hi rendition="#g">Leiter des Ganzen</hi> (Tsong tu) genannt werden &#x2013; und erhalten einen geringern Sold. Die chinesische Armee muß daher als eine Art Gendarmerie in großem Maaßstabe betrachtet werden. Räuber einzufangen, Sicherheit auf den Land- und Wasserstraßen zu erhalten, dieß ist die Aufgabe der Krieger der Mitte. Die äußerliche wie die innerliche Organisation der Land- und Seemacht muß aber natürlich durch jede Fremdherrschaft, namentlich durch Uebersiedelung eines ganzen Volkes mannichfache Veränderungen und Umgestaltungen erleiden. So heutigen Tags, wie zu den Zeiten des Tschinggis Chakan und seiner Nachfolger.</p><lb/>
        <p>Die Mandschu, von den chinesischen Patrioten als Stützen des wankenden Thrones der Ming herbeigerufen, bemächtigten sich mit Blitzesschnelle der nördlichen Kreise des Reichs. An die Stelle der furchtbaren Verwirrung, der muthwilligen maßlosen Grausamkeit erhoben sie das Panier der Ordnung und Menschlichkeit; es eilte ihnen deßhalb nicht bloß ein großer Theil des gedankenlosen Volkes, sondern auch die Edeln der Nation, welche an dem Schicksal der Ming verzweifelten, vertrauungsvoll entgegen. Die Noth ward zur Tugend; man gehorchte dem schutzgewährenden Fremden, um nicht von den Landsleuten unterdrückt und erwürgt zu werden. Diese Unterthanen der Ming wurden von den einsichtigen Tungusen als Freunde und Genossen aufgenommen und für alle künftigen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1394/0009] Die Land- und Seemacht der Chinesen. „Wenn ich ein Engländer wäre,“ sagte Napoleon zu O Meara, *). „so würde ich denjenigen, welcher zu einem Krieg mit China rathen könnte, für den größten Feind meines Landes auf Erden halten. Ihr müßt am Ende doch unterliegen, was dann leichtlich eine Revolution in Indien hervorrufen möchte.“ Mit welchem Triumphgeschrei würden die Tories, wenn ihnen dieser Ausspruch des einzigen Mannes bekannt gewesen wäre, sich desselben gegen das Whigministerium bedient haben! Indessen nur Unkunde und Parteiwuth könnten sich leeren Befürchtungen hingeben. Die Majestät Großbritanniens wird sicherlich, wenn Europa oder Amerika nicht widerstrebend eingreifen, aus dem Kriege gegen China ebenso siegreich und ruhmumstrahlt hervortreten, wie aus dem Kampfe gegen Afghanistan, gegen Nepal und Birma. Die Behauptung Napoleons beruht, gleich mehreren andern seiner Aeußerungen in Betreff Asiens, auf Unkenntniß der wirklichen Zustände dieses hinter Europa um mehrere Jahrhunderte zurückgebliebenen Erdtheils. Die Unkunde der eigentlichen Thatsachen kann aber weder durch Scharfsinn noch durch Geist ersetzt werden. Wer vermöchte wohl die Verhältnisse Tibets und der Mongolei zu durchschauen, und wäre er auch dreimal Napoleon, wenn man, wie dieser größte Feldherr der neuern Jahrhunderte es gethan, die Existenz des Dalai Lama bezweifeln würde! Obgleich das Mittelreich seit den frühesten Zeiten seiner Geschichte, wie zum Theil heutigen Tags noch, ringsum von schwachen barbarischen Horden umgeben war, so suchte doch das südöstlichste Culturvolk der Erde niemals sich die Gränzlande gen Nord, Süd und West zinspflichtig zu machen. Mehr denn alle andern Menschen der Erde, so hieß es bereits im Alterthume, seyen die Chinesen dem Frieden ergeben; in der Heimath führen sie ein ruhiges, vergnügliches Leben. Weit entfernt, andere Stämme mit Krieg zu überziehen, wären sie vielmehr jeglichem Umgang mit den übrigen Sterblichen abgeneigt. Sie bedürfen auch in der That weder der Fremden noch der auswärtigen Erzeugnisse. Es bringe ihr eigenes Land Alles in Fülle hervor; es sey geschmückt mit herrlichen Pflanzen, und ein bewunderungswürdiger Reichthum an Früchten und Producten aller Art sey ausgegossen über ihre Auen. Nur wenn Abwehr es erheischte, wie mehrmalen geschah im Laufe der Jahrhunderte, haben die Chinesen ihre Waffen außerhalb Landes getragen; dann mußten sich aber vor der überwiegenden Kraft und Einsicht des hohen Drachensitzes, von dem östlichen Meere bis gen Bochara und Samarkand hin, vom Amur und Irtisch bis zum Irawaddy und Menam schnell alle Reiche und Völker demüthigen. Auf den festen Grundlagen des Verstandes, der Ordnung und Genügsamkeit, auf unbedingtem Gehorsam gegen Eltern und Verwandte, gegen die Obern und Gesetze haben die alten Fürsten und Weisen der Blume der Mitte die menschliche Gesellschaft, den Staat auferbaut, und dieses Fundament hielt länger aus denn aller schlau ersonnene Wahn, länger denn alle trügerisch geheiligte Willkür in den andern Theilen der Erde. Barbaren zu unterwerfen und als solche sie zu beherrschen, lehrten die Heroen der östlichen Menschheit, sey gar nicht der Mühe werth. Werde aber in ihnen selbst das Gefühl ihrer Verworfenheit rege, fühlen sie das Bedürfniß der Erneuerung *) durch Tugend und Gerechtigkeit, dann kommen sie freiwillig herbei und unterwerfen sich dem allein rechtmäßigen Herrscher auf Erden, dem Himmelssohne der Mitte, sie kommen herbei, um den Durst zu stillen an der reichlich sprudelnden Quelle des heiligen Mannes von Lu. Bei solcher Denkweise der Nation mußte natürlich die bewaffnete Macht in den Hintergrund des Staatsorganismus zurücktreten; man wollte ja durch Ueberlegenheit des Geistes herrschen, und nicht durch physische Gewalt. Der Waffen bedarf man bloß zur Erdrückung der wilden maßlosen Leidenschaften, zur Erhaltung der Gesetze und des geregelten bürgerlichen Lebens. Der Soldat sey nicht dafür besoldet, das Volk zu unterdrücken, sondern es zu beschützen gegen jede Willkür, gegen jede Ungerechtigkeit von oben wie von unten. China ward während der Jahrtausende seiner Geschichte einigemal bald ganz bald theilweise von den umwohnenden Barbaren überzogen und unterjocht; schnell aber bändigten wiederum die Söhne des Jao und Schun den wilden Geist ihrer Gebieter, und nach kurzer Zeit fügte sich der widerspänstige Nacken tatarischer Horden dem anfangs so unbequemen Joche der Civilisation. Wie ehemals zu den Zeiten der Kitan und Mongolen, so erfreuen sich die bürgerlichen Beamten heutigen Tags, unter der Herrschaft der tungusischen Mandschu, des Vortritts und eines höhern Ranges vor den Hauptleuten der bewaffneten Macht. Es stehen die Generale in den neunzehn Kreisen des Reiches unter den bürgerlichen Statthaltern – weßhalb diese auch sehr bezeichnend die Leiter des Ganzen (Tsong tu) genannt werden – und erhalten einen geringern Sold. Die chinesische Armee muß daher als eine Art Gendarmerie in großem Maaßstabe betrachtet werden. Räuber einzufangen, Sicherheit auf den Land- und Wasserstraßen zu erhalten, dieß ist die Aufgabe der Krieger der Mitte. Die äußerliche wie die innerliche Organisation der Land- und Seemacht muß aber natürlich durch jede Fremdherrschaft, namentlich durch Uebersiedelung eines ganzen Volkes mannichfache Veränderungen und Umgestaltungen erleiden. So heutigen Tags, wie zu den Zeiten des Tschinggis Chakan und seiner Nachfolger. Die Mandschu, von den chinesischen Patrioten als Stützen des wankenden Thrones der Ming herbeigerufen, bemächtigten sich mit Blitzesschnelle der nördlichen Kreise des Reichs. An die Stelle der furchtbaren Verwirrung, der muthwilligen maßlosen Grausamkeit erhoben sie das Panier der Ordnung und Menschlichkeit; es eilte ihnen deßhalb nicht bloß ein großer Theil des gedankenlosen Volkes, sondern auch die Edeln der Nation, welche an dem Schicksal der Ming verzweifelten, vertrauungsvoll entgegen. Die Noth ward zur Tugend; man gehorchte dem schutzgewährenden Fremden, um nicht von den Landsleuten unterdrückt und erwürgt zu werden. Diese Unterthanen der Ming wurden von den einsichtigen Tungusen als Freunde und Genossen aufgenommen und für alle künftigen *) O Meara, Napoleon in Exile. London 1822. II. 69 *) Der Begriff Erneuerung wird im Chinesischen mit einem aus Mensch und Ordnung zusammengesetzten Bilde geschrieben; in der Rede entspricht ihm der Laut Hoa. Es scheint wahrhaft unbegreiflich, daß man jetzt noch behaupten kann, die chinesische Schrift sey nicht aus Bildern hervorgegangen, eine Meinung, welche der Präsident der philosophischen Gesellschaft zu Philadelphia, de Ponceau, noch vor kurzem in einem eigenen Werke zu begründen suchte. Nicht bloß die chinesische, sondern jede Schrift hat mit Bildern begonnen, aber nur im Reiche der Mitte haben die Bilder niemals der Lautschrift weichen müssen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (?): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_175_18400623
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_175_18400623/9
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 175. Augsburg, 23. Juni 1840, S. 1394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_175_18400623/9>, abgerufen am 03.12.2024.