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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Gefängniß geführte Gauner hat nicht nur in der ersten Stunde
die Zelle und ihre Lage und Umgebung untersucht, sondern lernt
auch sehr bald seine Nachbarschaft kennen. Er tritt an oder unter
sein Fenster, räuspert sich, pfeift oder singt, und sofort bekommt
er eine Antwort. Er ruft den "Nachbar oben, unten, links,
rechts" u. s. w., nennt Nummer oder Namen seiner Zelle, seinen
eigenen Gaunernamen oder irgendeine Beziehung, und empfängt
dafür dieselbe Auskunft von dem Unbekannten, an dessen erster
Antwort und Weise er, ohne zu sehen und gesehen zu werden,
erkennt, mit wem er zu thun hat, und ob jener ein Wittscher ist,
oder ob er mit ihm Kochemer schmusen kann. Ein einziges Niesen
oder Räuspern oder auch das Stillschweigen auf eine Frage be-
nachrichtigt ihn, daß das Gespräch belauscht wird. Wird das
Schmusen aus den Fenstern nach der Hausordnung scharf con-
trolirt und bestraft, so fängt der Gauner an zu singen oder zu
beten, als ob er zu seiner Erbauung einen christlichen Gesang oder
ein jüdisches Gebet anstimmt, und singt in der Gaunersprache, nach
Art des im ersten Theil, S. 210, gegebenen Vogelsberger Vaterunser,
seinem Genossen zu, was er ihm im prosaischen Gespräch nicht mit-
zutheilen wagen darf, oder pfeift eine bekannte Gaunermelodie. 1)
Rücksichtslose Durchführung einer strengen Hausordnung und nach
Befinden vorsichtiger Zellenwechsel kann einigermaßen dem Unfug
steuern. Jnteressante Challon-Kasspereien werden von Thiele,
a. a. O., I, 62--66, mitgetheilt.



1) Auch das Pfeifen in den Gefängnissen muß auf das schärfste untersagt
und bestraft werden, damit nicht mittels bestimmter verabredeter Pfeifsignale
(wie man sie, in Nachahmung der Tirailleursignale, unter den Gaunern
üblich findet) Collusionen vorkommen können.

Gefängniß geführte Gauner hat nicht nur in der erſten Stunde
die Zelle und ihre Lage und Umgebung unterſucht, ſondern lernt
auch ſehr bald ſeine Nachbarſchaft kennen. Er tritt an oder unter
ſein Fenſter, räuspert ſich, pfeift oder ſingt, und ſofort bekommt
er eine Antwort. Er ruft den „Nachbar oben, unten, links,
rechts“ u. ſ. w., nennt Nummer oder Namen ſeiner Zelle, ſeinen
eigenen Gaunernamen oder irgendeine Beziehung, und empfängt
dafür dieſelbe Auskunft von dem Unbekannten, an deſſen erſter
Antwort und Weiſe er, ohne zu ſehen und geſehen zu werden,
erkennt, mit wem er zu thun hat, und ob jener ein Wittſcher iſt,
oder ob er mit ihm Kochemer ſchmuſen kann. Ein einziges Nieſen
oder Räuspern oder auch das Stillſchweigen auf eine Frage be-
nachrichtigt ihn, daß das Geſpräch belauſcht wird. Wird das
Schmuſen aus den Fenſtern nach der Hausordnung ſcharf con-
trolirt und beſtraft, ſo fängt der Gauner an zu ſingen oder zu
beten, als ob er zu ſeiner Erbauung einen chriſtlichen Geſang oder
ein jüdiſches Gebet anſtimmt, und ſingt in der Gaunerſprache, nach
Art des im erſten Theil, S. 210, gegebenen Vogelsberger Vaterunſer,
ſeinem Genoſſen zu, was er ihm im proſaiſchen Geſpräch nicht mit-
zutheilen wagen darf, oder pfeift eine bekannte Gaunermelodie. 1)
Rückſichtsloſe Durchführung einer ſtrengen Hausordnung und nach
Befinden vorſichtiger Zellenwechſel kann einigermaßen dem Unfug
ſteuern. Jntereſſante Challon-Kaſſpereien werden von Thiele,
a. a. O., I, 62—66, mitgetheilt.



1) Auch das Pfeifen in den Gefängniſſen muß auf das ſchärfſte unterſagt
und beſtraft werden, damit nicht mittels beſtimmter verabredeter Pfeifſignale
(wie man ſie, in Nachahmung der Tirailleurſignale, unter den Gaunern
üblich findet) Colluſionen vorkommen können.
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[89/0101] Gefängniß geführte Gauner hat nicht nur in der erſten Stunde die Zelle und ihre Lage und Umgebung unterſucht, ſondern lernt auch ſehr bald ſeine Nachbarſchaft kennen. Er tritt an oder unter ſein Fenſter, räuspert ſich, pfeift oder ſingt, und ſofort bekommt er eine Antwort. Er ruft den „Nachbar oben, unten, links, rechts“ u. ſ. w., nennt Nummer oder Namen ſeiner Zelle, ſeinen eigenen Gaunernamen oder irgendeine Beziehung, und empfängt dafür dieſelbe Auskunft von dem Unbekannten, an deſſen erſter Antwort und Weiſe er, ohne zu ſehen und geſehen zu werden, erkennt, mit wem er zu thun hat, und ob jener ein Wittſcher iſt, oder ob er mit ihm Kochemer ſchmuſen kann. Ein einziges Nieſen oder Räuspern oder auch das Stillſchweigen auf eine Frage be- nachrichtigt ihn, daß das Geſpräch belauſcht wird. Wird das Schmuſen aus den Fenſtern nach der Hausordnung ſcharf con- trolirt und beſtraft, ſo fängt der Gauner an zu ſingen oder zu beten, als ob er zu ſeiner Erbauung einen chriſtlichen Geſang oder ein jüdiſches Gebet anſtimmt, und ſingt in der Gaunerſprache, nach Art des im erſten Theil, S. 210, gegebenen Vogelsberger Vaterunſer, ſeinem Genoſſen zu, was er ihm im proſaiſchen Geſpräch nicht mit- zutheilen wagen darf, oder pfeift eine bekannte Gaunermelodie. 1) Rückſichtsloſe Durchführung einer ſtrengen Hausordnung und nach Befinden vorſichtiger Zellenwechſel kann einigermaßen dem Unfug ſteuern. Jntereſſante Challon-Kaſſpereien werden von Thiele, a. a. O., I, 62—66, mitgetheilt. 1) Auch das Pfeifen in den Gefängniſſen muß auf das ſchärfſte unterſagt und beſtraft werden, damit nicht mittels beſtimmter verabredeter Pfeifſignale (wie man ſie, in Nachahmung der Tirailleurſignale, unter den Gaunern üblich findet) Colluſionen vorkommen können.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/101>, abgerufen am 02.05.2024.