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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Aus diesen einfachen Wahrnehmungen erscheint es erklärlich,
wie in der Einsamkeit und Noth der wuchernde menschliche Geist,
bei der Entbehrung aller künstlichen Mittel zu einem geistigen
Rapport, durch die kümmerlichsten Mittel, wie das bei Franz
von Spaun der Fall war, auf die einfachsten Formen gewiesen
werden konnte, um durch sie geistiges Leben mit andern auszu-
tauschen. Ein Schuh oder Pantoffel, ein hölzernes Trinkgefäß,
ein Löffel, eine Bürste, oder der gekrümmte Finger genügt, um
den Gedanken Form und Sprache zu geben. So alt die Klage
über das Hakesen der Gefangenen ist, so alt und so einfach ist die
Kunst. Aber eben diese unscheinbare Einfachheit war der geschick-
teste Deckmantel der Kunst, die vom verkünstelten Leben gerade
in Gefangenzellen und in dieser ihrer Einfachheit nicht eher ge-
ahnt wurde, als bis der kunstgewandte Gauner die glänzenden
Erfolge davongetragen hatte. Man findet nur diese Erfolge,
niemals aber das System der Verständigung in den Zuchthaus-
annalen verzeichnet, und die wieder ergriffenen Gauner sind höch-
stens über den gemeinschaftlichen Ausbruch und Verbleib, selten
oder gar nicht über das System ihrer vorgängigen Verständigung
inquirirt worden, das kaum bemerkt und nie begriffen wurde,
immer aber mit der Zufälligkeit körperlicher Bewegungen entschul-
digt und verdeckt werden konnte, wenn je der forschende Scharf-
blick des Jnquirenten auf das Geheimniß gefallen war. Es ist
sehr möglich, daß es schon mehrfache Systeme auf dieser Basis
gegeben hat. 1) Seitdem aber das Morse'sche Schreibsystem so
allgemein bekannt und unter Tausenden von Telegraphisten und
Eisenbahnbeamten, und durch zahlreiche Schriften und Jnstructionen
bis zur Popularität in ganz Deutschland verbreitet ist, seitdem ist
jene einfache Grundlage aller akustischer Verständigung in ihrer

1) Auch findet man S. 86 u. 87 der "Actenmäßigen Belege und Bei-
lagen" zur anonymen Broschüre: "Der Tod des Pfarrers Dr. Friedr. Ludw.
Weidig" (Zürich und Winterthur 1843), mehrere Klopfsprachen erwähnt,
mittels welcher politische Gefangene in einem deutschen Gefängnisse unter sich
communicirten, und deren sich sogar der Jnquirent zur Ausforschung und Täu-
schung eines der Gefangenen bemächtigt hatte.

Aus dieſen einfachen Wahrnehmungen erſcheint es erklärlich,
wie in der Einſamkeit und Noth der wuchernde menſchliche Geiſt,
bei der Entbehrung aller künſtlichen Mittel zu einem geiſtigen
Rapport, durch die kümmerlichſten Mittel, wie das bei Franz
von Spaun der Fall war, auf die einfachſten Formen gewieſen
werden konnte, um durch ſie geiſtiges Leben mit andern auszu-
tauſchen. Ein Schuh oder Pantoffel, ein hölzernes Trinkgefäß,
ein Löffel, eine Bürſte, oder der gekrümmte Finger genügt, um
den Gedanken Form und Sprache zu geben. So alt die Klage
über das Hakeſen der Gefangenen iſt, ſo alt und ſo einfach iſt die
Kunſt. Aber eben dieſe unſcheinbare Einfachheit war der geſchick-
teſte Deckmantel der Kunſt, die vom verkünſtelten Leben gerade
in Gefangenzellen und in dieſer ihrer Einfachheit nicht eher ge-
ahnt wurde, als bis der kunſtgewandte Gauner die glänzenden
Erfolge davongetragen hatte. Man findet nur dieſe Erfolge,
niemals aber das Syſtem der Verſtändigung in den Zuchthaus-
annalen verzeichnet, und die wieder ergriffenen Gauner ſind höch-
ſtens über den gemeinſchaftlichen Ausbruch und Verbleib, ſelten
oder gar nicht über das Syſtem ihrer vorgängigen Verſtändigung
inquirirt worden, das kaum bemerkt und nie begriffen wurde,
immer aber mit der Zufälligkeit körperlicher Bewegungen entſchul-
digt und verdeckt werden konnte, wenn je der forſchende Scharf-
blick des Jnquirenten auf das Geheimniß gefallen war. Es iſt
ſehr möglich, daß es ſchon mehrfache Syſteme auf dieſer Baſis
gegeben hat. 1) Seitdem aber das Morſe’ſche Schreibſyſtem ſo
allgemein bekannt und unter Tauſenden von Telegraphiſten und
Eiſenbahnbeamten, und durch zahlreiche Schriften und Jnſtructionen
bis zur Popularität in ganz Deutſchland verbreitet iſt, ſeitdem iſt
jene einfache Grundlage aller akuſtiſcher Verſtändigung in ihrer

1) Auch findet man S. 86 u. 87 der „Actenmäßigen Belege und Bei-
lagen“ zur anonymen Broſchüre: „Der Tod des Pfarrers Dr. Friedr. Ludw.
Weidig“ (Zürich und Winterthur 1843), mehrere Klopfſprachen erwähnt,
mittels welcher politiſche Gefangene in einem deutſchen Gefängniſſe unter ſich
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ſchung eines der Gefangenen bemächtigt hatte.
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[104/0116] Aus dieſen einfachen Wahrnehmungen erſcheint es erklärlich, wie in der Einſamkeit und Noth der wuchernde menſchliche Geiſt, bei der Entbehrung aller künſtlichen Mittel zu einem geiſtigen Rapport, durch die kümmerlichſten Mittel, wie das bei Franz von Spaun der Fall war, auf die einfachſten Formen gewieſen werden konnte, um durch ſie geiſtiges Leben mit andern auszu- tauſchen. Ein Schuh oder Pantoffel, ein hölzernes Trinkgefäß, ein Löffel, eine Bürſte, oder der gekrümmte Finger genügt, um den Gedanken Form und Sprache zu geben. So alt die Klage über das Hakeſen der Gefangenen iſt, ſo alt und ſo einfach iſt die Kunſt. Aber eben dieſe unſcheinbare Einfachheit war der geſchick- teſte Deckmantel der Kunſt, die vom verkünſtelten Leben gerade in Gefangenzellen und in dieſer ihrer Einfachheit nicht eher ge- ahnt wurde, als bis der kunſtgewandte Gauner die glänzenden Erfolge davongetragen hatte. Man findet nur dieſe Erfolge, niemals aber das Syſtem der Verſtändigung in den Zuchthaus- annalen verzeichnet, und die wieder ergriffenen Gauner ſind höch- ſtens über den gemeinſchaftlichen Ausbruch und Verbleib, ſelten oder gar nicht über das Syſtem ihrer vorgängigen Verſtändigung inquirirt worden, das kaum bemerkt und nie begriffen wurde, immer aber mit der Zufälligkeit körperlicher Bewegungen entſchul- digt und verdeckt werden konnte, wenn je der forſchende Scharf- blick des Jnquirenten auf das Geheimniß gefallen war. Es iſt ſehr möglich, daß es ſchon mehrfache Syſteme auf dieſer Baſis gegeben hat. 1) Seitdem aber das Morſe’ſche Schreibſyſtem ſo allgemein bekannt und unter Tauſenden von Telegraphiſten und Eiſenbahnbeamten, und durch zahlreiche Schriften und Jnſtructionen bis zur Popularität in ganz Deutſchland verbreitet iſt, ſeitdem iſt jene einfache Grundlage aller akuſtiſcher Verſtändigung in ihrer 1) Auch findet man S. 86 u. 87 der „Actenmäßigen Belege und Bei- lagen“ zur anonymen Broſchüre: „Der Tod des Pfarrers Dr. Friedr. Ludw. Weidig“ (Zürich und Winterthur 1843), mehrere Klopfſprachen erwähnt, mittels welcher politiſche Gefangene in einem deutſchen Gefängniſſe unter ſich communicirten, und deren ſich ſogar der Jnquirent zur Ausforſchung und Täu- ſchung eines der Gefangenen bemächtigt hatte.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/116>, abgerufen am 21.11.2024.