Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

welcher dem schlafenden Reisenden die Taschen seiner auf dem
Stuhle vor dem Bette liegenden Kleidung leert, ist so wenig Torf-
drucker, wie der Räuber, der auf der Landstraße dem Reisenden
mit Anwendung physischen oder psychologischen Zwanges die
Taschen plündert.

Solange schon und so arg dieser eigentliche gesellschaftliche
Diebstahl getrieben ist, so wenig eigentlichen technischen Apparat
erfordert er. Die Hauptrequisite sind die unverdächtige Annähe-
rung, ein behender heimlicher Griff und subsidiär ein rasches Zu-
planten des Gestohlenen an die Genossen, falls ein Verdacht rege
werden sollte. 1) Eine der Gelegenheit angemessene äußere Er-
scheinung seiner Person ist daher die nächste Sorge des Torf-
druckers, der sich ebenso wol zum feinen Elegant im Theater und
andern öffentlichen Orten, als auch zum derben Viehhändler und
Bauersmann auf den Märkten herauszustaffiren, oder als soliden
Kaufmann auf den Messen, oder als frommen Andächtler in den
Kirchen sich darzustellen weiß.

Diese so vollkommen leichte und unverdächtige Annäherung
und behende Ausbeutung aller socialen Formen, in deren bunter
Zahl und Bewegung die rasche und sichere Unterscheidung immer
schwieriger geworden ist, hat auf das gesammte bürgerliche Leben
einen bedeutsamen Einfluß geübt, und jene kalte Zurückgezogen-
heit und Etikette wesentlich gefördert, die zwar im vertrauten
Kreise gern wie ein lästiger Zwang abgeworfen wird, aber doch
immer das Gesammtleben beherrscht und sehr häufig den Schein

1) Allerdings gehört große Fertigkeit und Uebung dazu. Es mag mög-
lich sein, daß früher die Beutelschneiderlehrlinge vor ihren Meistern sich mit
einem Fuß auf eine Drehscheibe stellen und im Herumdrehen einen von der
Decke an einem Strick herabhängenden Geldbeutel abschneiden mußten, ohne
daß die daran befestigten Schellen ertönen durften, oder daß des Cartouche
Lehrmeister seine Zöglinge an Gliederpuppen mit männlicher und weiblicher
Kleidung übte, die in alle Stellungen und Lagen gebracht werden konnten,
und aus deren engen Taschen allerlei Gegenstände gestohlen werden mußten,
ohne daß eine der vielen Glocken an den Puppen ertönte: -- actenmäßig ist
nichts davon constatirt, als daß höchstens hier und da ein Gauner mit seiner
Lehrschule und Geschicklichkeit prahlte.
Ave-Lallemant, Gaunerthum. II. 15

welcher dem ſchlafenden Reiſenden die Taſchen ſeiner auf dem
Stuhle vor dem Bette liegenden Kleidung leert, iſt ſo wenig Torf-
drucker, wie der Räuber, der auf der Landſtraße dem Reiſenden
mit Anwendung phyſiſchen oder pſychologiſchen Zwanges die
Taſchen plündert.

Solange ſchon und ſo arg dieſer eigentliche geſellſchaftliche
Diebſtahl getrieben iſt, ſo wenig eigentlichen techniſchen Apparat
erfordert er. Die Hauptrequiſite ſind die unverdächtige Annähe-
rung, ein behender heimlicher Griff und ſubſidiär ein raſches Zu-
planten des Geſtohlenen an die Genoſſen, falls ein Verdacht rege
werden ſollte. 1) Eine der Gelegenheit angemeſſene äußere Er-
ſcheinung ſeiner Perſon iſt daher die nächſte Sorge des Torf-
druckers, der ſich ebenſo wol zum feinen Elegant im Theater und
andern öffentlichen Orten, als auch zum derben Viehhändler und
Bauersmann auf den Märkten herauszuſtaffiren, oder als ſoliden
Kaufmann auf den Meſſen, oder als frommen Andächtler in den
Kirchen ſich darzuſtellen weiß.

Dieſe ſo vollkommen leichte und unverdächtige Annäherung
und behende Ausbeutung aller ſocialen Formen, in deren bunter
Zahl und Bewegung die raſche und ſichere Unterſcheidung immer
ſchwieriger geworden iſt, hat auf das geſammte bürgerliche Leben
einen bedeutſamen Einfluß geübt, und jene kalte Zurückgezogen-
heit und Etikette weſentlich gefördert, die zwar im vertrauten
Kreiſe gern wie ein läſtiger Zwang abgeworfen wird, aber doch
immer das Geſammtleben beherrſcht und ſehr häufig den Schein

1) Allerdings gehört große Fertigkeit und Uebung dazu. Es mag mög-
lich ſein, daß früher die Beutelſchneiderlehrlinge vor ihren Meiſtern ſich mit
einem Fuß auf eine Drehſcheibe ſtellen und im Herumdrehen einen von der
Decke an einem Strick herabhängenden Geldbeutel abſchneiden mußten, ohne
daß die daran befeſtigten Schellen ertönen durften, oder daß des Cartouche
Lehrmeiſter ſeine Zöglinge an Gliederpuppen mit männlicher und weiblicher
Kleidung übte, die in alle Stellungen und Lagen gebracht werden konnten,
und aus deren engen Taſchen allerlei Gegenſtände geſtohlen werden mußten,
ohne daß eine der vielen Glocken an den Puppen ertönte: — actenmäßig iſt
nichts davon conſtatirt, als daß höchſtens hier und da ein Gauner mit ſeiner
Lehrſchule und Geſchicklichkeit prahlte.
Avé-Lallemant, Gaunerthum. II. 15
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0237" n="225"/>
welcher dem &#x017F;chlafenden Rei&#x017F;enden die Ta&#x017F;chen &#x017F;einer auf dem<lb/>
Stuhle vor dem Bette liegenden Kleidung leert, i&#x017F;t &#x017F;o wenig Torf-<lb/>
drucker, wie der Räuber, der auf der Land&#x017F;traße dem Rei&#x017F;enden<lb/>
mit Anwendung phy&#x017F;i&#x017F;chen oder p&#x017F;ychologi&#x017F;chen Zwanges die<lb/>
Ta&#x017F;chen plündert.</p><lb/>
              <p>Solange &#x017F;chon und &#x017F;o arg die&#x017F;er eigentliche <hi rendition="#g">ge&#x017F;ell&#x017F;chaftliche</hi><lb/>
Dieb&#x017F;tahl getrieben i&#x017F;t, &#x017F;o wenig eigentlichen techni&#x017F;chen Apparat<lb/>
erfordert er. Die Hauptrequi&#x017F;ite &#x017F;ind die unverdächtige Annähe-<lb/>
rung, ein behender heimlicher Griff und &#x017F;ub&#x017F;idiär ein ra&#x017F;ches Zu-<lb/>
planten des Ge&#x017F;tohlenen an die Geno&#x017F;&#x017F;en, falls ein Verdacht rege<lb/>
werden &#x017F;ollte. <note place="foot" n="1)">Allerdings gehört große Fertigkeit und Uebung dazu. Es mag mög-<lb/>
lich &#x017F;ein, daß früher die Beutel&#x017F;chneiderlehrlinge vor ihren Mei&#x017F;tern &#x017F;ich mit<lb/>
einem Fuß auf eine Dreh&#x017F;cheibe &#x017F;tellen und im Herumdrehen einen von der<lb/>
Decke an einem Strick herabhängenden Geldbeutel ab&#x017F;chneiden mußten, ohne<lb/>
daß die daran befe&#x017F;tigten Schellen ertönen durften, oder daß des Cartouche<lb/>
Lehrmei&#x017F;ter &#x017F;eine Zöglinge an Gliederpuppen mit männlicher und weiblicher<lb/>
Kleidung übte, die in alle Stellungen und Lagen gebracht werden konnten,<lb/>
und aus deren engen Ta&#x017F;chen allerlei Gegen&#x017F;tände ge&#x017F;tohlen werden mußten,<lb/>
ohne daß eine der vielen Glocken an den Puppen ertönte: &#x2014; <hi rendition="#g">actenmäßig</hi> i&#x017F;t<lb/><hi rendition="#g">nichts</hi> davon con&#x017F;tatirt, als daß höch&#x017F;tens hier und da ein Gauner mit &#x017F;einer<lb/>
Lehr&#x017F;chule und Ge&#x017F;chicklichkeit prahlte.</note> Eine der Gelegenheit angeme&#x017F;&#x017F;ene äußere Er-<lb/>
&#x017F;cheinung &#x017F;einer Per&#x017F;on i&#x017F;t daher die näch&#x017F;te Sorge des Torf-<lb/>
druckers, der &#x017F;ich eben&#x017F;o wol zum feinen Elegant im Theater und<lb/>
andern öffentlichen Orten, als auch zum derben Viehhändler und<lb/>
Bauersmann auf den Märkten herauszu&#x017F;taffiren, oder als &#x017F;oliden<lb/>
Kaufmann auf den Me&#x017F;&#x017F;en, oder als frommen Andächtler in den<lb/>
Kirchen &#x017F;ich darzu&#x017F;tellen weiß.</p><lb/>
              <p>Die&#x017F;e &#x017F;o vollkommen leichte und unverdächtige Annäherung<lb/>
und behende Ausbeutung aller &#x017F;ocialen Formen, in deren bunter<lb/>
Zahl und Bewegung die ra&#x017F;che und &#x017F;ichere Unter&#x017F;cheidung immer<lb/>
&#x017F;chwieriger geworden i&#x017F;t, hat auf das ge&#x017F;ammte bürgerliche Leben<lb/>
einen bedeut&#x017F;amen Einfluß geübt, und jene kalte Zurückgezogen-<lb/>
heit und Etikette we&#x017F;entlich gefördert, die zwar im vertrauten<lb/>
Krei&#x017F;e gern wie ein lä&#x017F;tiger Zwang abgeworfen wird, aber doch<lb/>
immer das Ge&#x017F;ammtleben beherr&#x017F;cht und &#x017F;ehr häufig den Schein<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Avé-Lallemant,</hi> Gaunerthum. <hi rendition="#aq">II.</hi> 15</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[225/0237] welcher dem ſchlafenden Reiſenden die Taſchen ſeiner auf dem Stuhle vor dem Bette liegenden Kleidung leert, iſt ſo wenig Torf- drucker, wie der Räuber, der auf der Landſtraße dem Reiſenden mit Anwendung phyſiſchen oder pſychologiſchen Zwanges die Taſchen plündert. Solange ſchon und ſo arg dieſer eigentliche geſellſchaftliche Diebſtahl getrieben iſt, ſo wenig eigentlichen techniſchen Apparat erfordert er. Die Hauptrequiſite ſind die unverdächtige Annähe- rung, ein behender heimlicher Griff und ſubſidiär ein raſches Zu- planten des Geſtohlenen an die Genoſſen, falls ein Verdacht rege werden ſollte. 1) Eine der Gelegenheit angemeſſene äußere Er- ſcheinung ſeiner Perſon iſt daher die nächſte Sorge des Torf- druckers, der ſich ebenſo wol zum feinen Elegant im Theater und andern öffentlichen Orten, als auch zum derben Viehhändler und Bauersmann auf den Märkten herauszuſtaffiren, oder als ſoliden Kaufmann auf den Meſſen, oder als frommen Andächtler in den Kirchen ſich darzuſtellen weiß. Dieſe ſo vollkommen leichte und unverdächtige Annäherung und behende Ausbeutung aller ſocialen Formen, in deren bunter Zahl und Bewegung die raſche und ſichere Unterſcheidung immer ſchwieriger geworden iſt, hat auf das geſammte bürgerliche Leben einen bedeutſamen Einfluß geübt, und jene kalte Zurückgezogen- heit und Etikette weſentlich gefördert, die zwar im vertrauten Kreiſe gern wie ein läſtiger Zwang abgeworfen wird, aber doch immer das Geſammtleben beherrſcht und ſehr häufig den Schein 1) Allerdings gehört große Fertigkeit und Uebung dazu. Es mag mög- lich ſein, daß früher die Beutelſchneiderlehrlinge vor ihren Meiſtern ſich mit einem Fuß auf eine Drehſcheibe ſtellen und im Herumdrehen einen von der Decke an einem Strick herabhängenden Geldbeutel abſchneiden mußten, ohne daß die daran befeſtigten Schellen ertönen durften, oder daß des Cartouche Lehrmeiſter ſeine Zöglinge an Gliederpuppen mit männlicher und weiblicher Kleidung übte, die in alle Stellungen und Lagen gebracht werden konnten, und aus deren engen Taſchen allerlei Gegenſtände geſtohlen werden mußten, ohne daß eine der vielen Glocken an den Puppen ertönte: — actenmäßig iſt nichts davon conſtatirt, als daß höchſtens hier und da ein Gauner mit ſeiner Lehrſchule und Geſchicklichkeit prahlte. Avé-Lallemant, Gaunerthum. II. 15

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/237
Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/237>, abgerufen am 29.11.2024.