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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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und feine Beißzangen gebraucht, und auch sonst Fingerringe,
Brochen und Ohrringe mit rascher Gewalt weggerissen werden.

Kaum irgendeine Gaunerindustrie ist mit dem socialen Leben
so direct und innig verbunden wie das Torfdrucken, weil das
Verbrechen immer erst eine bestimmte Situation und Bewegung
dieses Lebens abwartet oder herbeiführt, um sich in sie hinein-
zudrängen und sie auszubeuten. 1) Daher ist der Taschendiebstahl
in allen nur denkbaren Lebenssituationen möglich und wird ebenso
wol von Weibern und Kindern, als von Männern ausgeübt. 2)
Jeder Taschendiebstahl ist eine pikante social-politische Anekdote,
in welcher das Gaunerthum frappante Siege feiert. Deshalb

15 *
1) So benutzte Jonathan Sympson, der ein vortrefflicher Schlittschuh-
läufer war, und das sogenannte "holländische Laufen" sehr gut innehatte, den
13 Wochen lang anhaltenden Frost des Winters 1683, um sogar auf Schlitt-
schuhen Taschendiebeteien unter dem Volk auszuüben, welches die Themse zwi-
schen Fulham und Kingstone-Bridge auf dem Eise passirte, wobei Sympson
große Beute machte (vgl. Smith, a. a. O., S. 688). Zu den pikantesten
social-politischen Anekdoten gehören die kecken Taschendiebstähle, besonders von
fein gekleideten Frauenzimmern, mit Anwendung des Chloroforms. Das Werfen
von Sand, Schutt, Kalk, Pfeffer, Schnupftaback u. dgl. in die Augen des zu
Bestehlenden kommt noch immer vor. Das letztere ist auch ein viel versuchtes
Wagniß gefangener Gauner, um neben dem arglos in die Zelle tretenden Ge-
fangenwärter vorbeischlüpfen zu können.
2) Keineswegs gehört die Betheiligung des weiblichen Geschlechts beim
Torfdrucken erst der neuesten cultivirtern Zeit an. Schäffer erzählt, S. 67,
von der 1788 zu Ober-Tischingen hingerichteten Gaßners Lisel, daß sie
bei Anwesenheit des Großfürsten zu Ludwigsburg 1782 dem Grafen Schenck
von Castell unter der Thür der Schloßkapelle einen Beutel mit 1700 Gulden
aus der Tasche stahl und glücklich damit entkam. Jm Theater zu Jnnsbruck
stahl sie an einem Abend vier Taschenuhren, vier silberne Tabacksdosen und
13 Schnupftücher. Hundert Jahre vorher zeichnete sich die Falsette (Meyers)
in Lübeck, Hamburg, Rostock u. s. w. durch ähnliche Virtuosität aus; so auch
in Köln und Spaa die deutsche Prinzessin, in England die Mary Hawkins,
Anna Hollandia, Anna Harris, Debora Churchill, Mary Frith (Mol Cut-
purse), Anna Hereford u. a. Von der Virtuosität der umherziehenden Sa-
voyardenjungen enthält schon die ältere französische Gaunergeschichte eine Menge
Beispiele. Besonders wird das Torfdrucken jetzt auch von Jungen geübt, welche
sich vor Schauspielhäusern u. s. w. an die Wagen drängen und beim Aus-
und Einsteigen ihre Hülfe anbieten.

und feine Beißzangen gebraucht, und auch ſonſt Fingerringe,
Brochen und Ohrringe mit raſcher Gewalt weggeriſſen werden.

Kaum irgendeine Gaunerinduſtrie iſt mit dem ſocialen Leben
ſo direct und innig verbunden wie das Torfdrucken, weil das
Verbrechen immer erſt eine beſtimmte Situation und Bewegung
dieſes Lebens abwartet oder herbeiführt, um ſich in ſie hinein-
zudrängen und ſie auszubeuten. 1) Daher iſt der Taſchendiebſtahl
in allen nur denkbaren Lebensſituationen möglich und wird ebenſo
wol von Weibern und Kindern, als von Männern ausgeübt. 2)
Jeder Taſchendiebſtahl iſt eine pikante ſocial-politiſche Anekdote,
in welcher das Gaunerthum frappante Siege feiert. Deshalb

15 *
1) So benutzte Jonathan Sympſon, der ein vortrefflicher Schlittſchuh-
läufer war, und das ſogenannte „holländiſche Laufen“ ſehr gut innehatte, den
13 Wochen lang anhaltenden Froſt des Winters 1683, um ſogar auf Schlitt-
ſchuhen Taſchendiebeteien unter dem Volk auszuüben, welches die Themſe zwi-
ſchen Fulham und Kingſtone-Bridge auf dem Eiſe paſſirte, wobei Sympſon
große Beute machte (vgl. Smith, a. a. O., S. 688). Zu den pikanteſten
ſocial-politiſchen Anekdoten gehören die kecken Taſchendiebſtähle, beſonders von
fein gekleideten Frauenzimmern, mit Anwendung des Chloroforms. Das Werfen
von Sand, Schutt, Kalk, Pfeffer, Schnupftaback u. dgl. in die Augen des zu
Beſtehlenden kommt noch immer vor. Das letztere iſt auch ein viel verſuchtes
Wagniß gefangener Gauner, um neben dem arglos in die Zelle tretenden Ge-
fangenwärter vorbeiſchlüpfen zu können.
2) Keineswegs gehört die Betheiligung des weiblichen Geſchlechts beim
Torfdrucken erſt der neueſten cultivirtern Zeit an. Schäffer erzählt, S. 67,
von der 1788 zu Ober-Tiſchingen hingerichteten Gaßners Liſel, daß ſie
bei Anweſenheit des Großfürſten zu Ludwigsburg 1782 dem Grafen Schenck
von Caſtell unter der Thür der Schloßkapelle einen Béutel mit 1700 Gulden
aus der Taſche ſtahl und glücklich damit entkam. Jm Theater zu Jnnsbruck
ſtahl ſie an einem Abend vier Taſchenuhren, vier ſilberne Tabacksdoſen und
13 Schnupftücher. Hundert Jahre vorher zeichnete ſich die Falſette (Meyers)
in Lübeck, Hamburg, Roſtock u. ſ. w. durch ähnliche Virtuoſität aus; ſo auch
in Köln und Spaa die deutſche Prinzeſſin, in England die Mary Hawkins,
Anna Hollandia, Anna Harris, Debora Churchill, Mary Frith (Mol Cut-
purſe), Anna Hereford u. a. Von der Virtuoſität der umherziehenden Sa-
voyardenjungen enthält ſchon die ältere franzöſiſche Gaunergeſchichte eine Menge
Beiſpiele. Beſonders wird das Torfdrucken jetzt auch von Jungen geübt, welche
ſich vor Schauſpielhäuſern u. ſ. w. an die Wagen drängen und beim Aus-
und Einſteigen ihre Hülfe anbieten.
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[227/0239] und feine Beißzangen gebraucht, und auch ſonſt Fingerringe, Brochen und Ohrringe mit raſcher Gewalt weggeriſſen werden. Kaum irgendeine Gaunerinduſtrie iſt mit dem ſocialen Leben ſo direct und innig verbunden wie das Torfdrucken, weil das Verbrechen immer erſt eine beſtimmte Situation und Bewegung dieſes Lebens abwartet oder herbeiführt, um ſich in ſie hinein- zudrängen und ſie auszubeuten. 1) Daher iſt der Taſchendiebſtahl in allen nur denkbaren Lebensſituationen möglich und wird ebenſo wol von Weibern und Kindern, als von Männern ausgeübt. 2) Jeder Taſchendiebſtahl iſt eine pikante ſocial-politiſche Anekdote, in welcher das Gaunerthum frappante Siege feiert. Deshalb 15 * 1) So benutzte Jonathan Sympſon, der ein vortrefflicher Schlittſchuh- läufer war, und das ſogenannte „holländiſche Laufen“ ſehr gut innehatte, den 13 Wochen lang anhaltenden Froſt des Winters 1683, um ſogar auf Schlitt- ſchuhen Taſchendiebeteien unter dem Volk auszuüben, welches die Themſe zwi- ſchen Fulham und Kingſtone-Bridge auf dem Eiſe paſſirte, wobei Sympſon große Beute machte (vgl. Smith, a. a. O., S. 688). Zu den pikanteſten ſocial-politiſchen Anekdoten gehören die kecken Taſchendiebſtähle, beſonders von fein gekleideten Frauenzimmern, mit Anwendung des Chloroforms. Das Werfen von Sand, Schutt, Kalk, Pfeffer, Schnupftaback u. dgl. in die Augen des zu Beſtehlenden kommt noch immer vor. Das letztere iſt auch ein viel verſuchtes Wagniß gefangener Gauner, um neben dem arglos in die Zelle tretenden Ge- fangenwärter vorbeiſchlüpfen zu können. 2) Keineswegs gehört die Betheiligung des weiblichen Geſchlechts beim Torfdrucken erſt der neueſten cultivirtern Zeit an. Schäffer erzählt, S. 67, von der 1788 zu Ober-Tiſchingen hingerichteten Gaßners Liſel, daß ſie bei Anweſenheit des Großfürſten zu Ludwigsburg 1782 dem Grafen Schenck von Caſtell unter der Thür der Schloßkapelle einen Béutel mit 1700 Gulden aus der Taſche ſtahl und glücklich damit entkam. Jm Theater zu Jnnsbruck ſtahl ſie an einem Abend vier Taſchenuhren, vier ſilberne Tabacksdoſen und 13 Schnupftücher. Hundert Jahre vorher zeichnete ſich die Falſette (Meyers) in Lübeck, Hamburg, Roſtock u. ſ. w. durch ähnliche Virtuoſität aus; ſo auch in Köln und Spaa die deutſche Prinzeſſin, in England die Mary Hawkins, Anna Hollandia, Anna Harris, Debora Churchill, Mary Frith (Mol Cut- purſe), Anna Hereford u. a. Von der Virtuoſität der umherziehenden Sa- voyardenjungen enthält ſchon die ältere franzöſiſche Gaunergeſchichte eine Menge Beiſpiele. Beſonders wird das Torfdrucken jetzt auch von Jungen geübt, welche ſich vor Schauſpielhäuſern u. ſ. w. an die Wagen drängen und beim Aus- und Einſteigen ihre Hülfe anbieten.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/239>, abgerufen am 20.04.2024.