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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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existiren diese ungemein vielen Sammlungen wahrer und falscher
Anekdoten, besonders aus der englischen und französischen Gauner-
welt, welche in Erstaunen setzen, sobald man sie auf der Folie
des alltäglichen ruhigen Lebens betrachtet, und nicht zugleich dabei
auf die Schwachheit, Eitelkeit oder Unbedachtsamkeit der Betrogenen
blickt. Wollte man die verschiedenen Kunstgriffe aufzählen, so
müßte man sie immer mit einer Anekdote verbinden, und so viel
Anekdoten wiedergeben, als unzählige Situationen des social-
politischen Lebens schon ausgebeutet wurden. Dennoch würden
jene Aufklärungen wenig nützen; denn wenn auch irgendeine Si-
tuation unter diesen und jenen Verhältnissen mit ihren gefahr-
vollen Momenten deutlich gezeichnet wird, so kann gerade dadurch,
daß diese bestimmten Momente nun besonders genau beobachtet
werden, eben durch die Vertiefung in sie, irgendein anderes,
neues Moment desto geschickter zum Diebstahl ausgebeutet werden.
Die bekannten Gaunergriffe, daß der seinen Nachbar im Theater
um eine Prise bittende Gauner in die geöffnete Dose eine kleine
Bleikugel mit einem Seidenfaden fallen läßt, an dem er später
die Dose aus der Tasche zieht; oder die Ostentation falscher Hände
mit Handschuhen, welche sichtbar auf den Knien ruhen, während
der Gauner seinem Nachbar im Postwagen oder im Eisenbahn-
coupe heimlich die Taschen ausplündert; das gefällige Abstäuben
von Schnupftaback, Cigarrenasche oder Staub vom Rocke, wäh-
rend ein im Siegelringkasten verstecktes scharfes Einschlagemesser-
chen den Rock über der Brusttasche aufschlitzt u. s. w.: alle diese
Gaunergriffe können noch so bekannt und veraltet sein, sie kommen
doch immer wieder zum Vorschein. Jn dieser Weise wird kein
Kunstgriff alt, während noch immer neue Zusätze hinzukommen.
Unlängst war ein sechzehnjähriger Bursche am hiesigen Polizei-
amte in Untersuchung, welcher bei einem Volksfeste vor den
Schaubuden den Zuschauerinnen auf das Kleid trat, und in dem
kurzen Moment, in welchem die Zuschauerin mechanisch mit der
Hand das Kleid aufzog, ohne die ganze Aufmerksamkeit auf die
gefährliche Nachbarschaft zu wenden, mit äußerster Behendigkeit
in die Taschen des straffgezogenen Kleides griff und in dieser

exiſtiren dieſe ungemein vielen Sammlungen wahrer und falſcher
Anekdoten, beſonders aus der engliſchen und franzöſiſchen Gauner-
welt, welche in Erſtaunen ſetzen, ſobald man ſie auf der Folie
des alltäglichen ruhigen Lebens betrachtet, und nicht zugleich dabei
auf die Schwachheit, Eitelkeit oder Unbedachtſamkeit der Betrogenen
blickt. Wollte man die verſchiedenen Kunſtgriffe aufzählen, ſo
müßte man ſie immer mit einer Anekdote verbinden, und ſo viel
Anekdoten wiedergeben, als unzählige Situationen des ſocial-
politiſchen Lebens ſchon ausgebeutet wurden. Dennoch würden
jene Aufklärungen wenig nützen; denn wenn auch irgendeine Si-
tuation unter dieſen und jenen Verhältniſſen mit ihren gefahr-
vollen Momenten deutlich gezeichnet wird, ſo kann gerade dadurch,
daß dieſe beſtimmten Momente nun beſonders genau beobachtet
werden, eben durch die Vertiefung in ſie, irgendein anderes,
neues Moment deſto geſchickter zum Diebſtahl ausgebeutet werden.
Die bekannten Gaunergriffe, daß der ſeinen Nachbar im Theater
um eine Priſe bittende Gauner in die geöffnete Doſe eine kleine
Bleikugel mit einem Seidenfaden fallen läßt, an dem er ſpäter
die Doſe aus der Taſche zieht; oder die Oſtentation falſcher Hände
mit Handſchuhen, welche ſichtbar auf den Knien ruhen, während
der Gauner ſeinem Nachbar im Poſtwagen oder im Eiſenbahn-
coupé heimlich die Taſchen ausplündert; das gefällige Abſtäuben
von Schnupftaback, Cigarrenaſche oder Staub vom Rocke, wäh-
rend ein im Siegelringkaſten verſtecktes ſcharfes Einſchlagemeſſer-
chen den Rock über der Bruſttaſche aufſchlitzt u. ſ. w.: alle dieſe
Gaunergriffe können noch ſo bekannt und veraltet ſein, ſie kommen
doch immer wieder zum Vorſchein. Jn dieſer Weiſe wird kein
Kunſtgriff alt, während noch immer neue Zuſätze hinzukommen.
Unlängſt war ein ſechzehnjähriger Burſche am hieſigen Polizei-
amte in Unterſuchung, welcher bei einem Volksfeſte vor den
Schaubuden den Zuſchauerinnen auf das Kleid trat, und in dem
kurzen Moment, in welchem die Zuſchauerin mechaniſch mit der
Hand das Kleid aufzog, ohne die ganze Aufmerkſamkeit auf die
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[228/0240] exiſtiren dieſe ungemein vielen Sammlungen wahrer und falſcher Anekdoten, beſonders aus der engliſchen und franzöſiſchen Gauner- welt, welche in Erſtaunen ſetzen, ſobald man ſie auf der Folie des alltäglichen ruhigen Lebens betrachtet, und nicht zugleich dabei auf die Schwachheit, Eitelkeit oder Unbedachtſamkeit der Betrogenen blickt. Wollte man die verſchiedenen Kunſtgriffe aufzählen, ſo müßte man ſie immer mit einer Anekdote verbinden, und ſo viel Anekdoten wiedergeben, als unzählige Situationen des ſocial- politiſchen Lebens ſchon ausgebeutet wurden. Dennoch würden jene Aufklärungen wenig nützen; denn wenn auch irgendeine Si- tuation unter dieſen und jenen Verhältniſſen mit ihren gefahr- vollen Momenten deutlich gezeichnet wird, ſo kann gerade dadurch, daß dieſe beſtimmten Momente nun beſonders genau beobachtet werden, eben durch die Vertiefung in ſie, irgendein anderes, neues Moment deſto geſchickter zum Diebſtahl ausgebeutet werden. Die bekannten Gaunergriffe, daß der ſeinen Nachbar im Theater um eine Priſe bittende Gauner in die geöffnete Doſe eine kleine Bleikugel mit einem Seidenfaden fallen läßt, an dem er ſpäter die Doſe aus der Taſche zieht; oder die Oſtentation falſcher Hände mit Handſchuhen, welche ſichtbar auf den Knien ruhen, während der Gauner ſeinem Nachbar im Poſtwagen oder im Eiſenbahn- coupé heimlich die Taſchen ausplündert; das gefällige Abſtäuben von Schnupftaback, Cigarrenaſche oder Staub vom Rocke, wäh- rend ein im Siegelringkaſten verſtecktes ſcharfes Einſchlagemeſſer- chen den Rock über der Bruſttaſche aufſchlitzt u. ſ. w.: alle dieſe Gaunergriffe können noch ſo bekannt und veraltet ſein, ſie kommen doch immer wieder zum Vorſchein. Jn dieſer Weiſe wird kein Kunſtgriff alt, während noch immer neue Zuſätze hinzukommen. Unlängſt war ein ſechzehnjähriger Burſche am hieſigen Polizei- amte in Unterſuchung, welcher bei einem Volksfeſte vor den Schaubuden den Zuſchauerinnen auf das Kleid trat, und in dem kurzen Moment, in welchem die Zuſchauerin mechaniſch mit der Hand das Kleid aufzog, ohne die ganze Aufmerkſamkeit auf die gefährliche Nachbarſchaft zu wenden, mit äußerſter Behendigkeit in die Taſchen des ſtraffgezogenen Kleides griff und in dieſer

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/240>, abgerufen am 28.11.2024.