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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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denen Verdachte die Arglosigkeit und Unbeholfenheit des Taub-
stummen entgegenzusetzen. Viele Gauner wissen jene eigenthüm-
liche Lebendigkeit der Geberden und Bewegungen der Taubstum-
men, denen die Hauptwege der psychischen Ausbildung, Gehör
und Sprache, versagt sind, und welche dafür nur durch das Auge
Ersatz finden, meistens mit vielem Glücke zu copiren und sogar
sich das Ansehen zu geben, als läsen sie die vom Jnquirenten
gesprochenen Worte von dessen Lippen, wobei sie auch in jener
rauhen unmodulirten Sprachweise mit ostentirter Anstrengung zu
antworten suchen. Der Betrug ist nicht schwer zu entdecken.
Der Simulant kann nicht den Unglücklichen nachahmen, der auf
der niedrigsten Stufe der menschlichen Bildung steht. "Der
Taubstumme besitzt", wie Friedreich 1) treffend sagt, "so lange
man seine Kräfte nicht ausbildet, seine Fähigkeiten nicht übt,
keine Kenntnisse ihn lehrt, nichts als Empfindung der Gegenwart
ohne augenblickliche (momentane) Eindrücke, fast gar keine Er-
innerung der Vergangenheit und ebenso wenig Erwartung der
Zukunft". Jn Stellung, Haltung, Miene, Blick und Wesen kann
der Simulant durchaus nicht, mindestens nicht consequent, so über
sich gebieten, daß er eine so augenfällig eigenthümliche äußere
Erscheinung darstellt, wie jener Zustand nothwendig bedingt. Er
kann sich mindestens für nicht weniger darstellen, als für einen
unterrichteten Taubstummen, der ein Verständniß haben und
wiedergeben kann. Er muß also die eigentliche schulmäßige Taub-
stummencultur kennen, die ihn allein zum Verständniß fähig

rathen, deren Simulation am Tage lag. Als sie endlich, bei der letzten Jn-
haftirung im vorigen Jahre, statt der bisherigen Gefängnißstrafe die angedrohte
geschärftere Zuchthausstrafe erwarten mußte, verfiel sie wieder in epileptische
Zufälle, die jedoch diesmal wesentlich von den frühern in Erscheinung und
Form abwichen und, trotz dem entschiedenen Vorurtheile gegen die Person, für
wirkliche epileptische Zufälle gelten mußten. Vielleicht konnte doch auch eine
Familiendisposition und wirkliche Angst mit eingewirkt haben. Vgl. die "Ge-
schichte einer convulsivischen Krankheit" u. s. w., in Henke's "Zeitschrift für
Staatsarzneikunde", 1856, drittes Vierteljahrsheft, S. 61 fg.
1) "System der gerichtlichen Psychologie" (Regensburg 1852), S. 332.

denen Verdachte die Argloſigkeit und Unbeholfenheit des Taub-
ſtummen entgegenzuſetzen. Viele Gauner wiſſen jene eigenthüm-
liche Lebendigkeit der Geberden und Bewegungen der Taubſtum-
men, denen die Hauptwege der pſychiſchen Ausbildung, Gehör
und Sprache, verſagt ſind, und welche dafür nur durch das Auge
Erſatz finden, meiſtens mit vielem Glücke zu copiren und ſogar
ſich das Anſehen zu geben, als läſen ſie die vom Jnquirenten
geſprochenen Worte von deſſen Lippen, wobei ſie auch in jener
rauhen unmodulirten Sprachweiſe mit oſtentirter Anſtrengung zu
antworten ſuchen. Der Betrug iſt nicht ſchwer zu entdecken.
Der Simulant kann nicht den Unglücklichen nachahmen, der auf
der niedrigſten Stufe der menſchlichen Bildung ſteht. „Der
Taubſtumme beſitzt“, wie Friedreich 1) treffend ſagt, „ſo lange
man ſeine Kräfte nicht ausbildet, ſeine Fähigkeiten nicht übt,
keine Kenntniſſe ihn lehrt, nichts als Empfindung der Gegenwart
ohne augenblickliche (momentane) Eindrücke, faſt gar keine Er-
innerung der Vergangenheit und ebenſo wenig Erwartung der
Zukunft“. Jn Stellung, Haltung, Miene, Blick und Weſen kann
der Simulant durchaus nicht, mindeſtens nicht conſequent, ſo über
ſich gebieten, daß er eine ſo augenfällig eigenthümliche äußere
Erſcheinung darſtellt, wie jener Zuſtand nothwendig bedingt. Er
kann ſich mindeſtens für nicht weniger darſtellen, als für einen
unterrichteten Taubſtummen, der ein Verſtändniß haben und
wiedergeben kann. Er muß alſo die eigentliche ſchulmäßige Taub-
ſtummencultur kennen, die ihn allein zum Verſtändniß fähig

rathen, deren Simulation am Tage lag. Als ſie endlich, bei der letzten Jn-
haftirung im vorigen Jahre, ſtatt der bisherigen Gefängnißſtrafe die angedrohte
geſchärftere Zuchthausſtrafe erwarten mußte, verfiel ſie wieder in epileptiſche
Zufälle, die jedoch diesmal weſentlich von den frühern in Erſcheinung und
Form abwichen und, trotz dem entſchiedenen Vorurtheile gegen die Perſon, für
wirkliche epileptiſche Zufälle gelten mußten. Vielleicht konnte doch auch eine
Familiendispoſition und wirkliche Angſt mit eingewirkt haben. Vgl. die „Ge-
ſchichte einer convulſiviſchen Krankheit“ u. ſ. w., in Henke’s „Zeitſchrift für
Staatsarzneikunde“, 1856, drittes Vierteljahrsheft, S. 61 fg.
1) „Syſtem der gerichtlichen Pſychologie“ (Regensburg 1852), S. 332.
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[46/0058] denen Verdachte die Argloſigkeit und Unbeholfenheit des Taub- ſtummen entgegenzuſetzen. Viele Gauner wiſſen jene eigenthüm- liche Lebendigkeit der Geberden und Bewegungen der Taubſtum- men, denen die Hauptwege der pſychiſchen Ausbildung, Gehör und Sprache, verſagt ſind, und welche dafür nur durch das Auge Erſatz finden, meiſtens mit vielem Glücke zu copiren und ſogar ſich das Anſehen zu geben, als läſen ſie die vom Jnquirenten geſprochenen Worte von deſſen Lippen, wobei ſie auch in jener rauhen unmodulirten Sprachweiſe mit oſtentirter Anſtrengung zu antworten ſuchen. Der Betrug iſt nicht ſchwer zu entdecken. Der Simulant kann nicht den Unglücklichen nachahmen, der auf der niedrigſten Stufe der menſchlichen Bildung ſteht. „Der Taubſtumme beſitzt“, wie Friedreich 1) treffend ſagt, „ſo lange man ſeine Kräfte nicht ausbildet, ſeine Fähigkeiten nicht übt, keine Kenntniſſe ihn lehrt, nichts als Empfindung der Gegenwart ohne augenblickliche (momentane) Eindrücke, faſt gar keine Er- innerung der Vergangenheit und ebenſo wenig Erwartung der Zukunft“. Jn Stellung, Haltung, Miene, Blick und Weſen kann der Simulant durchaus nicht, mindeſtens nicht conſequent, ſo über ſich gebieten, daß er eine ſo augenfällig eigenthümliche äußere Erſcheinung darſtellt, wie jener Zuſtand nothwendig bedingt. Er kann ſich mindeſtens für nicht weniger darſtellen, als für einen unterrichteten Taubſtummen, der ein Verſtändniß haben und wiedergeben kann. Er muß alſo die eigentliche ſchulmäßige Taub- ſtummencultur kennen, die ihn allein zum Verſtändniß fähig 1) 1) „Syſtem der gerichtlichen Pſychologie“ (Regensburg 1852), S. 332. 1) rathen, deren Simulation am Tage lag. Als ſie endlich, bei der letzten Jn- haftirung im vorigen Jahre, ſtatt der bisherigen Gefängnißſtrafe die angedrohte geſchärftere Zuchthausſtrafe erwarten mußte, verfiel ſie wieder in epileptiſche Zufälle, die jedoch diesmal weſentlich von den frühern in Erſcheinung und Form abwichen und, trotz dem entſchiedenen Vorurtheile gegen die Perſon, für wirkliche epileptiſche Zufälle gelten mußten. Vielleicht konnte doch auch eine Familiendispoſition und wirkliche Angſt mit eingewirkt haben. Vgl. die „Ge- ſchichte einer convulſiviſchen Krankheit“ u. ſ. w., in Henke’s „Zeitſchrift für Staatsarzneikunde“, 1856, drittes Vierteljahrsheft, S. 61 fg.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/58>, abgerufen am 27.04.2024.