Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

machen konnte, oder muß seine Unkenntniß und damit die Simu-
lation verrathen. Dem Experten gegenüber ist daher sein Spiel
rasch verloren. Ja meistens bedarf es kaum des Experten. Der
Jnquirent, sobald er nur den Schein gutmüthigen Glaubens und
Mitleidens bewahrt, und ohne Zurüstung und Verabredung in
Gegenwart des Simulanten mit einer Ueberraschung gegen ihn
hervortritt, vermag sehr häufig schon ohne Experte den Simu-
lanten zu entlarven. Dieser ist vollständig entlarvt, wenn er das
Hauptmittel seiner erlangten Cultur, das Schreiben, nicht ver-
leugnet, und zu schreiben anfängt. Dem Taubstummen ist jedes
Wort ein Bild. Sein Unterricht, seine ganze geistige Cultivirung
bestand in der Auffassung von richtig vorgezeichneten Wortbildern,
die in ihrer bloßen richtigen Form ihm den Begriff verliehen.
Daher gibt der Taubstumme seine Begriffe genau in den erlernten
richtigen Formen wieder, und schreibt daher die ihm gelehrte reine
correcte Schriftsprache ohne Provinzialismen und ohne solche
Fehler, die aus falscher Aussprache entstehen, wenn e[r] auch in
der Anordnung der einzelnen Formen Fehler begeht, und einzelne
Buchstaben in einem Worte, oder Worte in einem Satze, zuweilen
unrichtig hinstellt.

Eine richtige und ruhige Behandlung des Simulanten wird
bald zu seiner Entlarvung führen 1), obschon dieser es immer bis

1) Jn der Wahl phonischer Mittel muß man sehr vorsichtig sein. Jch
habe einen wirklichen Taubstummen vernommen, der, während ich ihn mit
Schreiben beschäftigte, von der Lufterschütterung eines hinter ihm explodiren-
den Zündhütchens in die Höhe fuhr. Andere wirkliche Taubstumme fühlten im
Zimmer der Bel-Etage die Erschütterung des Schlagens einer einzelnen Trom-
mel auf der Straße; noch andere konnten fühlen, daß im Nebenzimmer Forte-
piano gespielt wurde u. s. w. Ueberraschend ist die im "Wächter", Jahrg.
20, 1857, Nr. 57, S. 224) gemachte Mittheilung von Anwendung der Ae-
therisirung
zur Entlarvung eines Simulanten. Von zwei eines Diebstahls
angeklagten Jndividuen, Namens Lerch und Daubner in Brüssel, hatte
Daubner sich taubstumm und blödsinnig gestellt. Man wußte jedoch, daß er
von Geburt an nicht stumm sei und daß er seine Lage vollkommen begreife,
da er im Gefängniß bereits einen Selbstmordversuch gemacht hatte. Lerch
wurde zu Zwangsarbeit verurtheilt, Daubner aber, von dem die Aerzte be-

machen konnte, oder muß ſeine Unkenntniß und damit die Simu-
lation verrathen. Dem Experten gegenüber iſt daher ſein Spiel
raſch verloren. Ja meiſtens bedarf es kaum des Experten. Der
Jnquirent, ſobald er nur den Schein gutmüthigen Glaubens und
Mitleidens bewahrt, und ohne Zurüſtung und Verabredung in
Gegenwart des Simulanten mit einer Ueberraſchung gegen ihn
hervortritt, vermag ſehr häufig ſchon ohne Experte den Simu-
lanten zu entlarven. Dieſer iſt vollſtändig entlarvt, wenn er das
Hauptmittel ſeiner erlangten Cultur, das Schreiben, nicht ver-
leugnet, und zu ſchreiben anfängt. Dem Taubſtummen iſt jedes
Wort ein Bild. Sein Unterricht, ſeine ganze geiſtige Cultivirung
beſtand in der Auffaſſung von richtig vorgezeichneten Wortbildern,
die in ihrer bloßen richtigen Form ihm den Begriff verliehen.
Daher gibt der Taubſtumme ſeine Begriffe genau in den erlernten
richtigen Formen wieder, und ſchreibt daher die ihm gelehrte reine
correcte Schriftſprache ohne Provinzialismen und ohne ſolche
Fehler, die aus falſcher Ausſprache entſtehen, wenn e[r] auch in
der Anordnung der einzelnen Formen Fehler begeht, und einzelne
Buchſtaben in einem Worte, oder Worte in einem Satze, zuweilen
unrichtig hinſtellt.

Eine richtige und ruhige Behandlung des Simulanten wird
bald zu ſeiner Entlarvung führen 1), obſchon dieſer es immer bis

1) Jn der Wahl phoniſcher Mittel muß man ſehr vorſichtig ſein. Jch
habe einen wirklichen Taubſtummen vernommen, der, während ich ihn mit
Schreiben beſchäftigte, von der Lufterſchütterung eines hinter ihm explodiren-
den Zündhütchens in die Höhe fuhr. Andere wirkliche Taubſtumme fühlten im
Zimmer der Bel-Etage die Erſchütterung des Schlagens einer einzelnen Trom-
mel auf der Straße; noch andere konnten fühlen, daß im Nebenzimmer Forte-
piano geſpielt wurde u. ſ. w. Ueberraſchend iſt die im „Wächter“, Jahrg.
20, 1857, Nr. 57, S. 224) gemachte Mittheilung von Anwendung der Ae-
theriſirung
zur Entlarvung eines Simulanten. Von zwei eines Diebſtahls
angeklagten Jndividuen, Namens Lerch und Daubner in Brüſſel, hatte
Daubner ſich taubſtumm und blödſinnig geſtellt. Man wußte jedoch, daß er
von Geburt an nicht ſtumm ſei und daß er ſeine Lage vollkommen begreife,
da er im Gefängniß bereits einen Selbſtmordverſuch gemacht hatte. Lerch
wurde zu Zwangsarbeit verurtheilt, Daubner aber, von dem die Aerzte be-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0059" n="47"/>
machen konnte, oder muß &#x017F;eine Unkenntniß und damit die Simu-<lb/>
lation verrathen. Dem Experten gegenüber i&#x017F;t daher &#x017F;ein Spiel<lb/>
ra&#x017F;ch verloren. Ja mei&#x017F;tens bedarf es kaum des Experten. Der<lb/>
Jnquirent, &#x017F;obald er nur den Schein gutmüthigen Glaubens und<lb/>
Mitleidens bewahrt, und ohne Zurü&#x017F;tung und Verabredung in<lb/>
Gegenwart des Simulanten mit einer Ueberra&#x017F;chung gegen ihn<lb/>
hervortritt, vermag &#x017F;ehr häufig &#x017F;chon ohne Experte den Simu-<lb/>
lanten zu entlarven. Die&#x017F;er i&#x017F;t voll&#x017F;tändig entlarvt, wenn er das<lb/>
Hauptmittel &#x017F;einer erlangten Cultur, das Schreiben, nicht ver-<lb/>
leugnet, und zu &#x017F;chreiben anfängt. Dem Taub&#x017F;tummen i&#x017F;t jedes<lb/>
Wort ein Bild. Sein Unterricht, &#x017F;eine ganze gei&#x017F;tige Cultivirung<lb/>
be&#x017F;tand in der Auffa&#x017F;&#x017F;ung von richtig vorgezeichneten Wortbildern,<lb/>
die in ihrer bloßen richtigen Form ihm den Begriff verliehen.<lb/>
Daher gibt der Taub&#x017F;tumme &#x017F;eine Begriffe genau in den erlernten<lb/>
richtigen Formen wieder, und &#x017F;chreibt daher die ihm gelehrte reine<lb/>
correcte Schrift&#x017F;prache ohne Provinzialismen und ohne &#x017F;olche<lb/>
Fehler, die aus fal&#x017F;cher Aus&#x017F;prache ent&#x017F;tehen, wenn e<supplied>r</supplied> auch in<lb/>
der Anordnung der einzelnen Formen Fehler begeht, und einzelne<lb/>
Buch&#x017F;taben in einem Worte, oder Worte in einem Satze, zuweilen<lb/>
unrichtig hin&#x017F;tellt.</p><lb/>
              <p>Eine richtige und ruhige Behandlung des Simulanten wird<lb/>
bald zu &#x017F;einer Entlarvung führen <note xml:id="seg2pn_8_1" next="#seg2pn_8_2" place="foot" n="1)">Jn der Wahl phoni&#x017F;cher Mittel muß man &#x017F;ehr vor&#x017F;ichtig &#x017F;ein. Jch<lb/>
habe einen wirklichen Taub&#x017F;tummen vernommen, der, während ich ihn mit<lb/>
Schreiben be&#x017F;chäftigte, von der Lufter&#x017F;chütterung eines hinter ihm explodiren-<lb/>
den Zündhütchens in die Höhe fuhr. Andere wirkliche Taub&#x017F;tumme fühlten im<lb/>
Zimmer der Bel-Etage die Er&#x017F;chütterung des Schlagens einer einzelnen Trom-<lb/>
mel auf der Straße; noch andere konnten fühlen, daß im Nebenzimmer Forte-<lb/>
piano ge&#x017F;pielt wurde u. &#x017F;. w. Ueberra&#x017F;chend i&#x017F;t die im &#x201E;Wächter&#x201C;, Jahrg.<lb/>
20, 1857, Nr. 57, S. 224) gemachte Mittheilung von Anwendung der <hi rendition="#g">Ae-<lb/>
theri&#x017F;irung</hi> zur Entlarvung eines Simulanten. Von zwei eines Dieb&#x017F;tahls<lb/>
angeklagten Jndividuen, Namens <hi rendition="#g">Lerch</hi> und <hi rendition="#g">Daubner</hi> in Brü&#x017F;&#x017F;el, hatte<lb/>
Daubner &#x017F;ich taub&#x017F;tumm und blöd&#x017F;innig ge&#x017F;tellt. Man wußte jedoch, daß er<lb/>
von Geburt an nicht &#x017F;tumm &#x017F;ei und daß er &#x017F;eine Lage vollkommen begreife,<lb/>
da er im Gefängniß bereits einen Selb&#x017F;tmordver&#x017F;uch gemacht hatte. Lerch<lb/>
wurde zu Zwangsarbeit verurtheilt, Daubner aber, von dem die Aerzte be-</note>, ob&#x017F;chon die&#x017F;er es immer bis<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[47/0059] machen konnte, oder muß ſeine Unkenntniß und damit die Simu- lation verrathen. Dem Experten gegenüber iſt daher ſein Spiel raſch verloren. Ja meiſtens bedarf es kaum des Experten. Der Jnquirent, ſobald er nur den Schein gutmüthigen Glaubens und Mitleidens bewahrt, und ohne Zurüſtung und Verabredung in Gegenwart des Simulanten mit einer Ueberraſchung gegen ihn hervortritt, vermag ſehr häufig ſchon ohne Experte den Simu- lanten zu entlarven. Dieſer iſt vollſtändig entlarvt, wenn er das Hauptmittel ſeiner erlangten Cultur, das Schreiben, nicht ver- leugnet, und zu ſchreiben anfängt. Dem Taubſtummen iſt jedes Wort ein Bild. Sein Unterricht, ſeine ganze geiſtige Cultivirung beſtand in der Auffaſſung von richtig vorgezeichneten Wortbildern, die in ihrer bloßen richtigen Form ihm den Begriff verliehen. Daher gibt der Taubſtumme ſeine Begriffe genau in den erlernten richtigen Formen wieder, und ſchreibt daher die ihm gelehrte reine correcte Schriftſprache ohne Provinzialismen und ohne ſolche Fehler, die aus falſcher Ausſprache entſtehen, wenn er auch in der Anordnung der einzelnen Formen Fehler begeht, und einzelne Buchſtaben in einem Worte, oder Worte in einem Satze, zuweilen unrichtig hinſtellt. Eine richtige und ruhige Behandlung des Simulanten wird bald zu ſeiner Entlarvung führen 1), obſchon dieſer es immer bis 1) Jn der Wahl phoniſcher Mittel muß man ſehr vorſichtig ſein. Jch habe einen wirklichen Taubſtummen vernommen, der, während ich ihn mit Schreiben beſchäftigte, von der Lufterſchütterung eines hinter ihm explodiren- den Zündhütchens in die Höhe fuhr. Andere wirkliche Taubſtumme fühlten im Zimmer der Bel-Etage die Erſchütterung des Schlagens einer einzelnen Trom- mel auf der Straße; noch andere konnten fühlen, daß im Nebenzimmer Forte- piano geſpielt wurde u. ſ. w. Ueberraſchend iſt die im „Wächter“, Jahrg. 20, 1857, Nr. 57, S. 224) gemachte Mittheilung von Anwendung der Ae- theriſirung zur Entlarvung eines Simulanten. Von zwei eines Diebſtahls angeklagten Jndividuen, Namens Lerch und Daubner in Brüſſel, hatte Daubner ſich taubſtumm und blödſinnig geſtellt. Man wußte jedoch, daß er von Geburt an nicht ſtumm ſei und daß er ſeine Lage vollkommen begreife, da er im Gefängniß bereits einen Selbſtmordverſuch gemacht hatte. Lerch wurde zu Zwangsarbeit verurtheilt, Daubner aber, von dem die Aerzte be-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/59
Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/59>, abgerufen am 24.11.2024.