sammengefunden hatte: es ist die Offenbarung des wunderbar kräftigen Bürgerthums selbst, aus welcher allein man die Psy- chologie dieses Bürgerthums ergründen und construiren kann, um die ganze gewaltige Geltung und die so seltsame und wunder- bar wechselnde Protection, Befehdung, Aufhebung und Wieder- einsetzung der Zünfte durch Magistrat, Landesherrn und Kaiser begreifen zu lernen. Das Zunftwesen hielt das ganze mittelalter- liche socialpolitische Leben aufrecht; das Zunftwesen schuf vor den Augen der Magistrate und der Landesherren die deutsche Polizei mit solcher innern Natürlichkeit, daß Magistrat und Landesherren selbst gern in dem Glauben sich ergingen, die aus tief christlich- sittlichem, deutsch-geistigem Leben hervorsprießende Ordnung sei das gelungene Meisterstück ihrer künstlichen grübelnden Staatsweisheit, dessen Erhaltung ihre ordnende Hand nothwendig mache und recht- fertige, weshalb denn die merkwürdigen Kämpfe der Zünfte gegen die Zumuthungen der Obern, welche nur dann einen schwachen Sieg gegen die Zünfte zu erringen vermochten, wenn diese in der Ueberfülle ihrer natürlichen gesunden Lebenskraft die Symptome eines hypertrophischen Körpers zeigten und in diesem Befunde über sich ergehen ließen, daß die Magistrate in der matten Ban- nungsformel der sogenannten "Morgensprache" sich die kahle formelle Macht beilegten, "die Zünfte zu mehren, zu mindern oder gänzlich aufzuheben", ohne daß Magistrat und Zünfte jemals ernstlich daran denken konnten, daß diese leere, äußerlich wie ein Lebensabspruch lautende Drohung jemals That und Wahrheit wer- den und in der sogenannten Gewerbefreiheit das Bürgerthum zur bloßen Staatshörigkeit, ohne Sonderung und Sicherung gegen das Proletariat, überführen würde.
Der tief in alle socialpolitischen Verhältnisse hineinwirkende Einfluß dieser beklagenswerthen Aufhebung der Zünfte hat den ernsten Blick der Staatsmänner auf die Geschichte der Zünfte zurückgelenkt, um möglichst wieder zu gewinnen, was verloren gegangen ist, und durch verständige Reform noch zu retten, was auch hier dem Materialismus gänzlich zum Opfer zu fallen droht. Man ist gerechter damit gegen Volk und Geschichte als jene Zeit,
ſammengefunden hatte: es iſt die Offenbarung des wunderbar kräftigen Bürgerthums ſelbſt, aus welcher allein man die Pſy- chologie dieſes Bürgerthums ergründen und conſtruiren kann, um die ganze gewaltige Geltung und die ſo ſeltſame und wunder- bar wechſelnde Protection, Befehdung, Aufhebung und Wieder- einſetzung der Zünfte durch Magiſtrat, Landesherrn und Kaiſer begreifen zu lernen. Das Zunftweſen hielt das ganze mittelalter- liche ſocialpolitiſche Leben aufrecht; das Zunftweſen ſchuf vor den Augen der Magiſtrate und der Landesherren die deutſche Polizei mit ſolcher innern Natürlichkeit, daß Magiſtrat und Landesherren ſelbſt gern in dem Glauben ſich ergingen, die aus tief chriſtlich- ſittlichem, deutſch-geiſtigem Leben hervorſprießende Ordnung ſei das gelungene Meiſterſtück ihrer künſtlichen grübelnden Staatsweisheit, deſſen Erhaltung ihre ordnende Hand nothwendig mache und recht- fertige, weshalb denn die merkwürdigen Kämpfe der Zünfte gegen die Zumuthungen der Obern, welche nur dann einen ſchwachen Sieg gegen die Zünfte zu erringen vermochten, wenn dieſe in der Ueberfülle ihrer natürlichen geſunden Lebenskraft die Symptome eines hypertrophiſchen Körpers zeigten und in dieſem Befunde über ſich ergehen ließen, daß die Magiſtrate in der matten Ban- nungsformel der ſogenannten „Morgenſprache“ ſich die kahle formelle Macht beilegten, „die Zünfte zu mehren, zu mindern oder gänzlich aufzuheben“, ohne daß Magiſtrat und Zünfte jemals ernſtlich daran denken konnten, daß dieſe leere, äußerlich wie ein Lebensabſpruch lautende Drohung jemals That und Wahrheit wer- den und in der ſogenannten Gewerbefreiheit das Bürgerthum zur bloßen Staatshörigkeit, ohne Sonderung und Sicherung gegen das Proletariat, überführen würde.
Der tief in alle ſocialpolitiſchen Verhältniſſe hineinwirkende Einfluß dieſer beklagenswerthen Aufhebung der Zünfte hat den ernſten Blick der Staatsmänner auf die Geſchichte der Zünfte zurückgelenkt, um möglichſt wieder zu gewinnen, was verloren gegangen iſt, und durch verſtändige Reform noch zu retten, was auch hier dem Materialismus gänzlich zum Opfer zu fallen droht. Man iſt gerechter damit gegen Volk und Geſchichte als jene Zeit,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0150"n="116"/>ſammengefunden hatte: es iſt die Offenbarung des wunderbar<lb/>
kräftigen Bürgerthums ſelbſt, aus welcher allein man die Pſy-<lb/>
chologie dieſes Bürgerthums ergründen und conſtruiren kann, um<lb/>
die ganze gewaltige Geltung und die ſo ſeltſame und wunder-<lb/>
bar wechſelnde Protection, Befehdung, Aufhebung und Wieder-<lb/>
einſetzung der Zünfte durch Magiſtrat, Landesherrn und Kaiſer<lb/>
begreifen zu lernen. Das Zunftweſen hielt das ganze mittelalter-<lb/>
liche ſocialpolitiſche Leben aufrecht; das Zunftweſen ſchuf vor<lb/>
den Augen der Magiſtrate und der Landesherren die deutſche Polizei<lb/>
mit ſolcher innern Natürlichkeit, daß Magiſtrat und Landesherren<lb/>ſelbſt gern in dem Glauben ſich ergingen, die aus tief chriſtlich-<lb/>ſittlichem, deutſch-geiſtigem Leben hervorſprießende Ordnung ſei das<lb/>
gelungene Meiſterſtück ihrer künſtlichen grübelnden Staatsweisheit,<lb/>
deſſen Erhaltung ihre ordnende Hand nothwendig mache und recht-<lb/>
fertige, weshalb denn die merkwürdigen Kämpfe der Zünfte gegen<lb/>
die Zumuthungen der Obern, welche nur dann einen ſchwachen<lb/>
Sieg gegen die Zünfte zu erringen vermochten, wenn dieſe in der<lb/>
Ueberfülle ihrer natürlichen geſunden Lebenskraft die Symptome<lb/>
eines hypertrophiſchen Körpers zeigten und in dieſem Befunde<lb/>
über ſich ergehen ließen, daß die Magiſtrate in der matten Ban-<lb/>
nungsformel der ſogenannten „Morgenſprache“ſich die kahle<lb/>
formelle Macht beilegten, „die Zünfte zu mehren, zu mindern<lb/>
oder gänzlich aufzuheben“, ohne daß Magiſtrat und Zünfte jemals<lb/>
ernſtlich daran denken konnten, daß dieſe leere, äußerlich wie ein<lb/>
Lebensabſpruch lautende Drohung jemals That und Wahrheit wer-<lb/>
den und in der ſogenannten Gewerbefreiheit das Bürgerthum zur<lb/>
bloßen Staatshörigkeit, ohne Sonderung und Sicherung gegen<lb/>
das Proletariat, überführen würde.</p><lb/><p>Der tief in alle ſocialpolitiſchen Verhältniſſe hineinwirkende<lb/>
Einfluß dieſer beklagenswerthen Aufhebung der Zünfte hat den<lb/>
ernſten Blick der Staatsmänner auf die Geſchichte der Zünfte<lb/>
zurückgelenkt, um möglichſt wieder zu gewinnen, was verloren<lb/>
gegangen iſt, und durch verſtändige Reform noch zu retten, was<lb/>
auch hier dem Materialismus gänzlich zum Opfer zu fallen droht.<lb/>
Man iſt gerechter damit gegen Volk und Geſchichte als jene Zeit,<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[116/0150]
ſammengefunden hatte: es iſt die Offenbarung des wunderbar
kräftigen Bürgerthums ſelbſt, aus welcher allein man die Pſy-
chologie dieſes Bürgerthums ergründen und conſtruiren kann, um
die ganze gewaltige Geltung und die ſo ſeltſame und wunder-
bar wechſelnde Protection, Befehdung, Aufhebung und Wieder-
einſetzung der Zünfte durch Magiſtrat, Landesherrn und Kaiſer
begreifen zu lernen. Das Zunftweſen hielt das ganze mittelalter-
liche ſocialpolitiſche Leben aufrecht; das Zunftweſen ſchuf vor
den Augen der Magiſtrate und der Landesherren die deutſche Polizei
mit ſolcher innern Natürlichkeit, daß Magiſtrat und Landesherren
ſelbſt gern in dem Glauben ſich ergingen, die aus tief chriſtlich-
ſittlichem, deutſch-geiſtigem Leben hervorſprießende Ordnung ſei das
gelungene Meiſterſtück ihrer künſtlichen grübelnden Staatsweisheit,
deſſen Erhaltung ihre ordnende Hand nothwendig mache und recht-
fertige, weshalb denn die merkwürdigen Kämpfe der Zünfte gegen
die Zumuthungen der Obern, welche nur dann einen ſchwachen
Sieg gegen die Zünfte zu erringen vermochten, wenn dieſe in der
Ueberfülle ihrer natürlichen geſunden Lebenskraft die Symptome
eines hypertrophiſchen Körpers zeigten und in dieſem Befunde
über ſich ergehen ließen, daß die Magiſtrate in der matten Ban-
nungsformel der ſogenannten „Morgenſprache“ ſich die kahle
formelle Macht beilegten, „die Zünfte zu mehren, zu mindern
oder gänzlich aufzuheben“, ohne daß Magiſtrat und Zünfte jemals
ernſtlich daran denken konnten, daß dieſe leere, äußerlich wie ein
Lebensabſpruch lautende Drohung jemals That und Wahrheit wer-
den und in der ſogenannten Gewerbefreiheit das Bürgerthum zur
bloßen Staatshörigkeit, ohne Sonderung und Sicherung gegen
das Proletariat, überführen würde.
Der tief in alle ſocialpolitiſchen Verhältniſſe hineinwirkende
Einfluß dieſer beklagenswerthen Aufhebung der Zünfte hat den
ernſten Blick der Staatsmänner auf die Geſchichte der Zünfte
zurückgelenkt, um möglichſt wieder zu gewinnen, was verloren
gegangen iſt, und durch verſtändige Reform noch zu retten, was
auch hier dem Materialismus gänzlich zum Opfer zu fallen droht.
Man iſt gerechter damit gegen Volk und Geſchichte als jene Zeit,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/150>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.