Fremde Schriftsteller sind es, welche die erste Urkunde gaben von dem Dasein der germanischen Völker. Jhre Nachrichten sind nur einseitig und dürftig. Aber das Wenige, was Julius Cäsar und Tacitus mit sicherm Griffel über unsere Vorfahren aufgezeich- net haben, ist ein vollgültiges Zeugniß körperlicher, geistiger und sittlicher Tüchtigkeit, hochherziger Gesinnung, fester Treue, uner- schrockenen Muthes, glühender Freiheitsliebe und kräftigen Volks- ehrgefühls, tiefer Verehrung des Weibes und erhabener, würdiger Begriffe von der Gottheit. So wird uns in den vielen germani- schen Stämmen ein einiges Volk dargestellt auf jener festen Grund- lage, welche die Basis zur Vollkommenheit ist und das Streben und Ringen nach Vollkommenheit zu einem so natürlichen und nothwendigen Lebensproceß macht, wie das ununterbrochene Her- vordringen immer zahlreicherer Triebe, Blätter und Blüten eines gewaltigen Stammes, dessen mächtiger Wurzeltrieb tief und weit in den dunkeln, mit geheimnißvollen Schätzen der Mythe und Sage reich durchzogenen Erdboden faßt und dem Stamme unver- gängliche Nahrung schafft. Bei keines Volkes Geschichte begreift man vollkommener, daß das Volk vor seiner Volksgeschichte eine tiefe, reiche Sprachgeschichte hatte; bei keiner Volksgeschichte strebt man eifriger, auf seine Sprachgeschichte zu dringen und seine Sprache zu begreifen, als bei dem deutschen Volke, sobald nur die Geschichte beginnt. Denn schon seine erste Erscheinung als historisches Volk ist so vollmächtig, daß man sogleich bei seinem ersten Begreifen nicht anders als auf eine gleich vollmächtige Sprache schließen kann, und vor allem sieht man in der deutschen Mythe und Sage in prägnantester Weise die Sprachgeschichte des deutschen Volkes angedeutet. So muß die Sprachforschung beim Weiterstreben in Geschichte und Sprache immer und immer wieder in die alte Offenbarung der Mythe und Sage zurückblicken, um nicht nur an den vollendet mächtigen Gesang des Volkes, als an
Drittes Kapitel. C.Die deutſche Sprache.
Fremde Schriftſteller ſind es, welche die erſte Urkunde gaben von dem Daſein der germaniſchen Völker. Jhre Nachrichten ſind nur einſeitig und dürftig. Aber das Wenige, was Julius Cäſar und Tacitus mit ſicherm Griffel über unſere Vorfahren aufgezeich- net haben, iſt ein vollgültiges Zeugniß körperlicher, geiſtiger und ſittlicher Tüchtigkeit, hochherziger Geſinnung, feſter Treue, uner- ſchrockenen Muthes, glühender Freiheitsliebe und kräftigen Volks- ehrgefühls, tiefer Verehrung des Weibes und erhabener, würdiger Begriffe von der Gottheit. So wird uns in den vielen germani- ſchen Stämmen ein einiges Volk dargeſtellt auf jener feſten Grund- lage, welche die Baſis zur Vollkommenheit iſt und das Streben und Ringen nach Vollkommenheit zu einem ſo natürlichen und nothwendigen Lebensproceß macht, wie das ununterbrochene Her- vordringen immer zahlreicherer Triebe, Blätter und Blüten eines gewaltigen Stammes, deſſen mächtiger Wurzeltrieb tief und weit in den dunkeln, mit geheimnißvollen Schätzen der Mythe und Sage reich durchzogenen Erdboden faßt und dem Stamme unver- gängliche Nahrung ſchafft. Bei keines Volkes Geſchichte begreift man vollkommener, daß das Volk vor ſeiner Volksgeſchichte eine tiefe, reiche Sprachgeſchichte hatte; bei keiner Volksgeſchichte ſtrebt man eifriger, auf ſeine Sprachgeſchichte zu dringen und ſeine Sprache zu begreifen, als bei dem deutſchen Volke, ſobald nur die Geſchichte beginnt. Denn ſchon ſeine erſte Erſcheinung als hiſtoriſches Volk iſt ſo vollmächtig, daß man ſogleich bei ſeinem erſten Begreifen nicht anders als auf eine gleich vollmächtige Sprache ſchließen kann, und vor allem ſieht man in der deutſchen Mythe und Sage in prägnanteſter Weiſe die Sprachgeſchichte des deutſchen Volkes angedeutet. So muß die Sprachforſchung beim Weiterſtreben in Geſchichte und Sprache immer und immer wieder in die alte Offenbarung der Mythe und Sage zurückblicken, um nicht nur an den vollendet mächtigen Geſang des Volkes, als an
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Drittes Kapitel.
C. Die deutſche Sprache.
Fremde Schriftſteller ſind es, welche die erſte Urkunde gaben
von dem Daſein der germaniſchen Völker. Jhre Nachrichten ſind
nur einſeitig und dürftig. Aber das Wenige, was Julius Cäſar
und Tacitus mit ſicherm Griffel über unſere Vorfahren aufgezeich-
net haben, iſt ein vollgültiges Zeugniß körperlicher, geiſtiger und
ſittlicher Tüchtigkeit, hochherziger Geſinnung, feſter Treue, uner-
ſchrockenen Muthes, glühender Freiheitsliebe und kräftigen Volks-
ehrgefühls, tiefer Verehrung des Weibes und erhabener, würdiger
Begriffe von der Gottheit. So wird uns in den vielen germani-
ſchen Stämmen ein einiges Volk dargeſtellt auf jener feſten Grund-
lage, welche die Baſis zur Vollkommenheit iſt und das Streben
und Ringen nach Vollkommenheit zu einem ſo natürlichen und
nothwendigen Lebensproceß macht, wie das ununterbrochene Her-
vordringen immer zahlreicherer Triebe, Blätter und Blüten eines
gewaltigen Stammes, deſſen mächtiger Wurzeltrieb tief und weit
in den dunkeln, mit geheimnißvollen Schätzen der Mythe und
Sage reich durchzogenen Erdboden faßt und dem Stamme unver-
gängliche Nahrung ſchafft. Bei keines Volkes Geſchichte begreift
man vollkommener, daß das Volk vor ſeiner Volksgeſchichte eine
tiefe, reiche Sprachgeſchichte hatte; bei keiner Volksgeſchichte ſtrebt
man eifriger, auf ſeine Sprachgeſchichte zu dringen und ſeine
Sprache zu begreifen, als bei dem deutſchen Volke, ſobald nur
die Geſchichte beginnt. Denn ſchon ſeine erſte Erſcheinung als
hiſtoriſches Volk iſt ſo vollmächtig, daß man ſogleich bei ſeinem
erſten Begreifen nicht anders als auf eine gleich vollmächtige
Sprache ſchließen kann, und vor allem ſieht man in der deutſchen
Mythe und Sage in prägnanteſter Weiſe die Sprachgeſchichte des
deutſchen Volkes angedeutet. So muß die Sprachforſchung beim
Weiterſtreben in Geſchichte und Sprache immer und immer wieder
in die alte Offenbarung der Mythe und Sage zurückblicken, um
nicht nur an den vollendet mächtigen Geſang des Volkes, als an
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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/38>, abgerufen am 14.12.2024.
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