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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828.

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Rückenmarkes und diesem dunklen Faden nicht begreifen zu können. Ueber-
haupt hat mich die Erfahrung gelehrt, dass der Fortgang der Entwickelung
so einfach und so gleichmässig ist, dass man, so bald er für irgend einen Theil
gefunden ist, nicht begreifen kann, wie man ihn nicht vorher gesehen hatte.
Es wird sich immer finden, dass unter allen möglichen Weisen, die man
sich ersinnen kann, die Natur die einfachste und zunächst liegende befolgt.
So kann ich jetzt nicht ohne Vergnügen an die lange Sorge denken, die mir
die Entstehungsweise der Leber verursacht hat. Ihr erstes Auftreten ist sehr
schwer aufzufinden, und wird nur zu leicht verkannt, weil die Vorbildung
zur Leber selbst gar keine äussere Aehnlichkeit hat. Nachdem ich nun, im-
iner rückwärts gehend, die Weise der Entstehung vollständig gefunden,
konnte ich nicht mehr begreifen, wie ich andre Möglichkeiten in meinem
Geiste gestattet hatte. Nicht anders ist es mir mit dem Athmungsapparate
ergangen. Seine Entstehungsweise, lange ein Räthsel für mich, ist die mög-
lichst einfache. Unsre Phantasie aber schreitet so leicht über den einfachen
Gang der Natur weg!

Ich habe aber noch Historisches zu berichten. Bis zum Jahr 1823
waren also meine Untersuchungen fortgesetzt und hatten mir bereits die Fun-
damental-Resultate gegeben, von welchen aus alles übrige betrachtet werden
muss. Vorzüglich hatte ich jedoch in der frühern Bildung mich zu orienti-
ren gesucht, und da ich schon mit dem Gedanken umging, einst eine aus-
führliche Darstellung zu geben, mich vor allen Dingen bemüht, die schwie-
rigen ersten Tage der Entwickelung vollständig kennen zu lernen. Darauf
trat eine lange Lücke ein, indem die Anlegung eines zoologischen Museums
hieselbst mir die Nöthigung auflegte, mich näher mit der beschreibenden Zoo-
logie zu beschäftigen, auch einzelne anatomische Arbeiten mich in Anspruch
nahmen.

b

Rückenmarkes und diesem dunklen Faden nicht begreifen zu können. Ueber-
haupt hat mich die Erfahrung gelehrt, daſs der Fortgang der Entwickelung
so einfach und so gleichmäſsig ist, daſs man, so bald er für irgend einen Theil
gefunden ist, nicht begreifen kann, wie man ihn nicht vorher gesehen hatte.
Es wird sich immer finden, daſs unter allen möglichen Weisen, die man
sich ersinnen kann, die Natur die einfachste und zunächst liegende befolgt.
So kann ich jetzt nicht ohne Vergnügen an die lange Sorge denken, die mir
die Entstehungsweise der Leber verursacht hat. Ihr erstes Auftreten ist sehr
schwer aufzufinden, und wird nur zu leicht verkannt, weil die Vorbildung
zur Leber selbst gar keine äuſsere Aehnlichkeit hat. Nachdem ich nun, im-
iner rückwärts gehend, die Weise der Entstehung vollständig gefunden,
konnte ich nicht mehr begreifen, wie ich andre Möglichkeiten in meinem
Geiste gestattet hatte. Nicht anders ist es mir mit dem Athmungsapparate
ergangen. Seine Entstehungsweise, lange ein Räthsel für mich, ist die mög-
lichst einfache. Unsre Phantasie aber schreitet so leicht über den einfachen
Gang der Natur weg!

Ich habe aber noch Historisches zu berichten. Bis zum Jahr 1823
waren also meine Untersuchungen fortgesetzt und hatten mir bereits die Fun-
damental-Resultate gegeben, von welchen aus alles übrige betrachtet werden
muſs. Vorzüglich hatte ich jedoch in der frühern Bildung mich zu orienti-
ren gesucht, und da ich schon mit dem Gedanken umging, einst eine aus-
führliche Darstellung zu geben, mich vor allen Dingen bemüht, die schwie-
rigen ersten Tage der Entwickelung vollständig kennen zu lernen. Darauf
trat eine lange Lücke ein, indem die Anlegung eines zoologischen Museums
hieselbst mir die Nöthigung auflegte, mich näher mit der beschreibenden Zoo-
logie zu beschäftigen, auch einzelne anatomische Arbeiten mich in Anspruch
nahmen.

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[IX/0015] Rückenmarkes und diesem dunklen Faden nicht begreifen zu können. Ueber- haupt hat mich die Erfahrung gelehrt, daſs der Fortgang der Entwickelung so einfach und so gleichmäſsig ist, daſs man, so bald er für irgend einen Theil gefunden ist, nicht begreifen kann, wie man ihn nicht vorher gesehen hatte. Es wird sich immer finden, daſs unter allen möglichen Weisen, die man sich ersinnen kann, die Natur die einfachste und zunächst liegende befolgt. So kann ich jetzt nicht ohne Vergnügen an die lange Sorge denken, die mir die Entstehungsweise der Leber verursacht hat. Ihr erstes Auftreten ist sehr schwer aufzufinden, und wird nur zu leicht verkannt, weil die Vorbildung zur Leber selbst gar keine äuſsere Aehnlichkeit hat. Nachdem ich nun, im- iner rückwärts gehend, die Weise der Entstehung vollständig gefunden, konnte ich nicht mehr begreifen, wie ich andre Möglichkeiten in meinem Geiste gestattet hatte. Nicht anders ist es mir mit dem Athmungsapparate ergangen. Seine Entstehungsweise, lange ein Räthsel für mich, ist die mög- lichst einfache. Unsre Phantasie aber schreitet so leicht über den einfachen Gang der Natur weg! Ich habe aber noch Historisches zu berichten. Bis zum Jahr 1823 waren also meine Untersuchungen fortgesetzt und hatten mir bereits die Fun- damental-Resultate gegeben, von welchen aus alles übrige betrachtet werden muſs. Vorzüglich hatte ich jedoch in der frühern Bildung mich zu orienti- ren gesucht, und da ich schon mit dem Gedanken umging, einst eine aus- führliche Darstellung zu geben, mich vor allen Dingen bemüht, die schwie- rigen ersten Tage der Entwickelung vollständig kennen zu lernen. Darauf trat eine lange Lücke ein, indem die Anlegung eines zoologischen Museums hieselbst mir die Nöthigung auflegte, mich näher mit der beschreibenden Zoo- logie zu beschäftigen, auch einzelne anatomische Arbeiten mich in Anspruch nahmen. b

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Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828, S. IX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/15>, abgerufen am 20.04.2024.