Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Vorderkiefer löst sich also, je weiter wir in das Thierreich aufsteigen,
um so mehr vom Hinterkiefer ab und legt sich an die untern Bogen der vordern
Schädelwirbel an, drängt sich ein und nimmt Antheil an ihren morphologischen
Verhältnissen, wie das Becken an den Verhältnissen der Rippen Antheil nimmt.

h. Ent-
wickelung
der Extremi-
täten.

Wenden wir nun diese morphologische Episode auf die Entwickelungs-
geschichte der Extremitäten an, so bemerke ich zuvörderst, dass ich dieselbe nur
an den Landthieren kenne, also an den viergliedrigen Extremitäten. Sie scheint
im Anfange für alle sehr übereinstimmend, wie ich an Eidechsen, Vögeln,
Schaafen, Schweinen, Kaninchen, Hunden und am Menschen beobachtet habe.
Selbst der Flügel der Vögel ist in der ersten Bildung dem Fusse derselben und
dem Fusse der Eidechsen gleich. Zuerst zeigen sich schmale, in die Länge
gestellte Leisten, die auffallend lang sind und dadurch zu beurkunden scheinen,
dass die Extremitäten ihrer ursprünglichen Idee nach dem ganzen Rumpfe ange-
hören; die Verdickung des Rückenmarkes in der ganzen Länge des Rumpfes,
welche sich dann am vordern und am hintern Ende concentrirt, dürfte auch darauf
hindeuten. Diese Leisten liegen zuerst nur auf den Bauchplatten und dehnen sich
dann nach oben und nach unten aus. Es scheint hiernach, dass die Gegend des
Wurzelgelenkes sich zuerst bildet und von hier aus die Bildung des Wurzelgliedes
sich nach oben und unten ausdehnt, woraus man später erkennt, dass die Ex-
tremität nicht bloss den Bauchplatten angehört, sondern beiden Hauptröhren
gemeinschaftlich ist. Zugleich hebt sich aus der Gegend des Wurzelgelenkes eine
Erhabenheit hervor, und wir sehen also nach aussen auch die übrigen Theile der
Extremität sich entwickeln. Die Vorragung krümmt sich etwas nach unten und
trennt sich in einen runden Stiel und eine flache Platte. Die Platte ist das End-
glied, der Stiel enthält beide Mittelglieder. Noch sind die Extremitäten gleich
uud kein Gelenk ist deutlich. Dann bekommt der Stiel einen nach aussen ge-
kehrten Winkel als Mittelgelenk. Hieraus ist ersichtlich, dass die ursprüngliche
Form der Mittelgelenke, wie ich oben annahm, die ist, mit der Streckseite
nach aussen gerichtet zu seyn. Wie nun beide Mittelgelenke ihre Individualität
ausbilden, zuerst das Endglied die Richtung der untern Mittelglieder theilt und
auch die Endgelenke ihre Besonderheit erhalten, ist in der Entwickelungs-
geschichte des Hühnchens ausführlich erzählt, hier kam es nur darauf an, zu
zeigen, in welchem Verhältniss die Entwickelung der Extremität zu dem Ent-
wickelungsschema des Rumpfes steht und dass man sie nicht für eine blosse
Wiederholung der Bauchplatten ausehen darf.

Was ich von der Entwickelung des Ober- oder Vorderkiefers gesagt habe,
stimmt ganz mit der so eben entwickelten Ansicht, dass es eine Extremität ist,

Der Vorderkiefer löst sich also, je weiter wir in das Thierreich aufsteigen,
um so mehr vom Hinterkiefer ab und legt sich an die untern Bogen der vordern
Schädelwirbel an, drängt sich ein und nimmt Antheil an ihren morphologischen
Verhältnissen, wie das Becken an den Verhältnissen der Rippen Antheil nimmt.

h. Ent-
wickelung
der Extremi-
täten.

Wenden wir nun diese morphologische Episode auf die Entwickelungs-
geschichte der Extremitäten an, so bemerke ich zuvörderst, daſs ich dieselbe nur
an den Landthieren kenne, also an den viergliedrigen Extremitäten. Sie scheint
im Anfange für alle sehr übereinstimmend, wie ich an Eidechsen, Vögeln,
Schaafen, Schweinen, Kaninchen, Hunden und am Menschen beobachtet habe.
Selbst der Flügel der Vögel ist in der ersten Bildung dem Fuſse derselben und
dem Fuſse der Eidechsen gleich. Zuerst zeigen sich schmale, in die Länge
gestellte Leisten, die auffallend lang sind und dadurch zu beurkunden scheinen,
daſs die Extremitäten ihrer ursprünglichen Idee nach dem ganzen Rumpfe ange-
hören; die Verdickung des Rückenmarkes in der ganzen Länge des Rumpfes,
welche sich dann am vordern und am hintern Ende concentrirt, dürfte auch darauf
hindeuten. Diese Leisten liegen zuerst nur auf den Bauchplatten und dehnen sich
dann nach oben und nach unten aus. Es scheint hiernach, daſs die Gegend des
Wurzelgelenkes sich zuerst bildet und von hier aus die Bildung des Wurzelgliedes
sich nach oben und unten ausdehnt, woraus man später erkennt, daſs die Ex-
tremität nicht bloſs den Bauchplatten angehört, sondern beiden Hauptröhren
gemeinschaftlich ist. Zugleich hebt sich aus der Gegend des Wurzelgelenkes eine
Erhabenheit hervor, und wir sehen also nach auſsen auch die übrigen Theile der
Extremität sich entwickeln. Die Vorragung krümmt sich etwas nach unten und
trennt sich in einen runden Stiel und eine flache Platte. Die Platte ist das End-
glied, der Stiel enthält beide Mittelglieder. Noch sind die Extremitäten gleich
uud kein Gelenk ist deutlich. Dann bekommt der Stiel einen nach auſsen ge-
kehrten Winkel als Mittelgelenk. Hieraus ist ersichtlich, daſs die ursprüngliche
Form der Mittelgelenke, wie ich oben annahm, die ist, mit der Streckseite
nach auſsen gerichtet zu seyn. Wie nun beide Mittelgelenke ihre Individualität
ausbilden, zuerst das Endglied die Richtung der untern Mittelglieder theilt und
auch die Endgelenke ihre Besonderheit erhalten, ist in der Entwickelungs-
geschichte des Hühnchens ausführlich erzählt, hier kam es nur darauf an, zu
zeigen, in welchem Verhältniſs die Entwickelung der Extremität zu dem Ent-
wickelungsschema des Rumpfes steht und daſs man sie nicht für eine bloſse
Wiederholung der Bauchplatten ausehen darf.

Was ich von der Entwickelung des Ober- oder Vorderkiefers gesagt habe,
stimmt ganz mit der so eben entwickelten Ansicht, daſs es eine Extremität ist,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0226" n="196"/>
              <p>Der Vorderkiefer löst sich also, je weiter wir in das Thierreich aufsteigen,<lb/>
um so mehr vom Hinterkiefer ab und legt sich an die untern Bogen der vordern<lb/>
Schädelwirbel an, drängt sich ein und nimmt Antheil an ihren morphologischen<lb/>
Verhältnissen, wie das Becken an den Verhältnissen der Rippen Antheil nimmt.</p><lb/>
              <note place="left"><hi rendition="#i">h.</hi> Ent-<lb/>
wickelung<lb/>
der Extremi-<lb/>
täten.</note>
              <p>Wenden wir nun diese morphologische Episode auf die Entwickelungs-<lb/>
geschichte der Extremitäten an, so bemerke ich zuvörderst, da&#x017F;s ich dieselbe nur<lb/>
an den Landthieren kenne, also an den viergliedrigen Extremitäten. Sie scheint<lb/>
im Anfange für alle sehr übereinstimmend, wie ich an Eidechsen, Vögeln,<lb/>
Schaafen, Schweinen, Kaninchen, Hunden und am Menschen beobachtet habe.<lb/>
Selbst der Flügel der Vögel ist in der ersten Bildung dem Fu&#x017F;se derselben und<lb/>
dem Fu&#x017F;se der Eidechsen gleich. Zuerst zeigen sich schmale, in die Länge<lb/>
gestellte Leisten, die auffallend lang sind und dadurch zu beurkunden scheinen,<lb/>
da&#x017F;s die Extremitäten ihrer ursprünglichen Idee nach dem ganzen Rumpfe ange-<lb/>
hören; die Verdickung des Rückenmarkes in der ganzen Länge des Rumpfes,<lb/>
welche sich dann am vordern und am hintern Ende concentrirt, dürfte auch darauf<lb/>
hindeuten. Diese Leisten liegen zuerst nur auf den Bauchplatten und dehnen sich<lb/>
dann nach oben und nach unten aus. Es scheint hiernach, da&#x017F;s die Gegend des<lb/>
Wurzelgelenkes sich zuerst bildet und von hier aus die Bildung des Wurzelgliedes<lb/>
sich nach oben und unten ausdehnt, woraus man später erkennt, da&#x017F;s die Ex-<lb/>
tremität nicht blo&#x017F;s den Bauchplatten angehört, sondern beiden Hauptröhren<lb/>
gemeinschaftlich ist. Zugleich hebt sich aus der Gegend des Wurzelgelenkes eine<lb/>
Erhabenheit hervor, und wir sehen also nach au&#x017F;sen auch die übrigen Theile der<lb/>
Extremität sich entwickeln. Die Vorragung krümmt sich etwas nach unten und<lb/>
trennt sich in einen runden Stiel und eine flache Platte. Die Platte ist das End-<lb/>
glied, der Stiel enthält beide Mittelglieder. Noch sind die Extremitäten gleich<lb/>
uud kein Gelenk ist deutlich. Dann bekommt der Stiel einen nach au&#x017F;sen ge-<lb/>
kehrten Winkel als Mittelgelenk. Hieraus ist ersichtlich, da&#x017F;s die ursprüngliche<lb/>
Form der Mittelgelenke, wie ich oben annahm, die ist, mit der Streckseite<lb/>
nach au&#x017F;sen gerichtet zu seyn. Wie nun beide Mittelgelenke ihre Individualität<lb/>
ausbilden, zuerst das Endglied die Richtung der untern Mittelglieder theilt und<lb/>
auch die Endgelenke ihre Besonderheit erhalten, ist in der Entwickelungs-<lb/>
geschichte des Hühnchens ausführlich erzählt, hier kam es nur darauf an, zu<lb/>
zeigen, in welchem Verhältni&#x017F;s die Entwickelung der Extremität zu dem Ent-<lb/>
wickelungsschema des Rumpfes steht und da&#x017F;s man sie nicht für eine blo&#x017F;se<lb/>
Wiederholung der Bauchplatten ausehen darf.</p><lb/>
              <p>Was ich von der Entwickelung des Ober- oder Vorderkiefers gesagt habe,<lb/>
stimmt ganz mit der so eben entwickelten Ansicht, da&#x017F;s es eine Extremität ist,<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[196/0226] Der Vorderkiefer löst sich also, je weiter wir in das Thierreich aufsteigen, um so mehr vom Hinterkiefer ab und legt sich an die untern Bogen der vordern Schädelwirbel an, drängt sich ein und nimmt Antheil an ihren morphologischen Verhältnissen, wie das Becken an den Verhältnissen der Rippen Antheil nimmt. Wenden wir nun diese morphologische Episode auf die Entwickelungs- geschichte der Extremitäten an, so bemerke ich zuvörderst, daſs ich dieselbe nur an den Landthieren kenne, also an den viergliedrigen Extremitäten. Sie scheint im Anfange für alle sehr übereinstimmend, wie ich an Eidechsen, Vögeln, Schaafen, Schweinen, Kaninchen, Hunden und am Menschen beobachtet habe. Selbst der Flügel der Vögel ist in der ersten Bildung dem Fuſse derselben und dem Fuſse der Eidechsen gleich. Zuerst zeigen sich schmale, in die Länge gestellte Leisten, die auffallend lang sind und dadurch zu beurkunden scheinen, daſs die Extremitäten ihrer ursprünglichen Idee nach dem ganzen Rumpfe ange- hören; die Verdickung des Rückenmarkes in der ganzen Länge des Rumpfes, welche sich dann am vordern und am hintern Ende concentrirt, dürfte auch darauf hindeuten. Diese Leisten liegen zuerst nur auf den Bauchplatten und dehnen sich dann nach oben und nach unten aus. Es scheint hiernach, daſs die Gegend des Wurzelgelenkes sich zuerst bildet und von hier aus die Bildung des Wurzelgliedes sich nach oben und unten ausdehnt, woraus man später erkennt, daſs die Ex- tremität nicht bloſs den Bauchplatten angehört, sondern beiden Hauptröhren gemeinschaftlich ist. Zugleich hebt sich aus der Gegend des Wurzelgelenkes eine Erhabenheit hervor, und wir sehen also nach auſsen auch die übrigen Theile der Extremität sich entwickeln. Die Vorragung krümmt sich etwas nach unten und trennt sich in einen runden Stiel und eine flache Platte. Die Platte ist das End- glied, der Stiel enthält beide Mittelglieder. Noch sind die Extremitäten gleich uud kein Gelenk ist deutlich. Dann bekommt der Stiel einen nach auſsen ge- kehrten Winkel als Mittelgelenk. Hieraus ist ersichtlich, daſs die ursprüngliche Form der Mittelgelenke, wie ich oben annahm, die ist, mit der Streckseite nach auſsen gerichtet zu seyn. Wie nun beide Mittelgelenke ihre Individualität ausbilden, zuerst das Endglied die Richtung der untern Mittelglieder theilt und auch die Endgelenke ihre Besonderheit erhalten, ist in der Entwickelungs- geschichte des Hühnchens ausführlich erzählt, hier kam es nur darauf an, zu zeigen, in welchem Verhältniſs die Entwickelung der Extremität zu dem Ent- wickelungsschema des Rumpfes steht und daſs man sie nicht für eine bloſse Wiederholung der Bauchplatten ausehen darf. Was ich von der Entwickelung des Ober- oder Vorderkiefers gesagt habe, stimmt ganz mit der so eben entwickelten Ansicht, daſs es eine Extremität ist,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/226
Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/226>, abgerufen am 18.12.2024.