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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828.

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welche sich an andre Kopftheile anlegt und mit ihnen verwächst. Dagegen
könnte man in der Entwickelungsgeschichte des Unterkiefers einen Beweis finden,
dass er eine Rippe sey. Die Kiemenbogen sind nämlich getrennte Abschnitte der
Bauchplatten, und wenn in ihnen ohne weitere Veränderung Knochenbogen sich
entwickeln, so müssten wir diese Rippen nennen. Nun habe ich gesagt, dass
aus dem ersten Kiemenbogen der Unterkiefer sich bildet. Ich freue mich, schon
bei Ausarbeitung der Entwickelungsgeschichte bemerkt zu haben, dass sich der
erste Kiemenbogen durch Auflagerung neuer Masse verdickt. Noch viel deut-
licher habe ich dies Verhältniss später in Embryonen von Säugethieren gesehen,
wie ich in Meckel's Archiv für Anatomie und Physiologie, Jahrgang 1828.
Heft 1. berichtet habe. Die Verdickung des ersten Kiemenbogens erfolgt also
nicht durch gleichmässige Ausdehnung nach allen Seiten, sondern durch Auf-
lagerung, d. h. durch Vermehrung der Masse unter der Haut, wie man daraus
erkennt, dass der Gefässbogen ganz nach innen liegt. Es ist mithin auch hier der
Kiefer, obgleich vom ersten Kiemenbogen nicht getrennt, ein aufliegender Theil,
so wie sich auch sein Wurzelglied als aufliegender Theil am Schädel bildet.

Corollarium über eine consequentere Eintheilung und
Bearbeitung der Anatomie.

Die Entwickelungsgeschichte könnte uns veranlassen, eine consequentere
Bearbeitung der Anatomie einzuführen. Man pflegt seit Bichat's unsterblichen
Untersuchungen eine allgemeine Anatomie, oder die Lehre von den verschiedenen
Geweben, in neuerer Zeit Histologie genannt, von der Beschreibung der einzelnen
Theile zu sondern. In dem beschreibenden Theile lässt man aber Inbegriffe von
gleichartigen Theilen, die sogenannten organischen Systeme, und Inbegriffe von
ungleichartigen Theilen, die Apparate, auf einander folgen. Diese Eintheilung
ist nicht consequent, denn jene Gleichartigkeit beruht nur in der Ueberein-
stimmung des innern Baues oder des Gewebes, uud die Ungleichartigkeit in der
Ungleichartigkeit der Gestaltung. In ersterer Hinsicht glaubt man das Hirn nicht
von den Nerven trennen zu dürfen. Man ist aber auch darin nicht consequent,
denn das Herz, das im Gefässsystem mit aufgeführt wird, hat ein anderes Gewebe,
als die Gefässe. Man fasst diese wegen des innigen Zusammenhanges und der
gemeinschaftlichen Wirkung zusammen. Im Grunde ist also das Princip, dem
man folgt, vorzüglich biologisch. Aber auch darin ist man wieder unbeständig,
denn alle Theile der Hand wirken gemeinschaftlich, doch glaubt man die

welche sich an andre Kopftheile anlegt und mit ihnen verwächst. Dagegen
könnte man in der Entwickelungsgeschichte des Unterkiefers einen Beweis finden,
daſs er eine Rippe sey. Die Kiemenbogen sind nämlich getrennte Abschnitte der
Bauchplatten, und wenn in ihnen ohne weitere Veränderung Knochenbogen sich
entwickeln, so müſsten wir diese Rippen nennen. Nun habe ich gesagt, daſs
aus dem ersten Kiemenbogen der Unterkiefer sich bildet. Ich freue mich, schon
bei Ausarbeitung der Entwickelungsgeschichte bemerkt zu haben, daſs sich der
erste Kiemenbogen durch Auflagerung neuer Masse verdickt. Noch viel deut-
licher habe ich dies Verhältniſs später in Embryonen von Säugethieren gesehen,
wie ich in Meckel’s Archiv für Anatomie und Physiologie, Jahrgang 1828.
Heft 1. berichtet habe. Die Verdickung des ersten Kiemenbogens erfolgt also
nicht durch gleichmäſsige Ausdehnung nach allen Seiten, sondern durch Auf-
lagerung, d. h. durch Vermehrung der Masse unter der Haut, wie man daraus
erkennt, daſs der Gefäſsbogen ganz nach innen liegt. Es ist mithin auch hier der
Kiefer, obgleich vom ersten Kiemenbogen nicht getrennt, ein aufliegender Theil,
so wie sich auch sein Wurzelglied als aufliegender Theil am Schädel bildet.

Corollarium über eine consequentere Eintheilung und
Bearbeitung der Anatomie.

Die Entwickelungsgeschichte könnte uns veranlassen, eine consequentere
Bearbeitung der Anatomie einzuführen. Man pflegt seit Bichat’s unsterblichen
Untersuchungen eine allgemeine Anatomie, oder die Lehre von den verschiedenen
Geweben, in neuerer Zeit Histologie genannt, von der Beschreibung der einzelnen
Theile zu sondern. In dem beschreibenden Theile läſst man aber Inbegriffe von
gleichartigen Theilen, die sogenannten organischen Systeme, und Inbegriffe von
ungleichartigen Theilen, die Apparate, auf einander folgen. Diese Eintheilung
ist nicht consequent, denn jene Gleichartigkeit beruht nur in der Ueberein-
stimmung des innern Baues oder des Gewebes, uud die Ungleichartigkeit in der
Ungleichartigkeit der Gestaltung. In ersterer Hinsicht glaubt man das Hirn nicht
von den Nerven trennen zu dürfen. Man ist aber auch darin nicht consequent,
denn das Herz, das im Gefäſssystem mit aufgeführt wird, hat ein anderes Gewebe,
als die Gefäſse. Man faſst diese wegen des innigen Zusammenhanges und der
gemeinschaftlichen Wirkung zusammen. Im Grunde ist also das Princip, dem
man folgt, vorzüglich biologisch. Aber auch darin ist man wieder unbeständig,
denn alle Theile der Hand wirken gemeinschaftlich, doch glaubt man die

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[197/0227] welche sich an andre Kopftheile anlegt und mit ihnen verwächst. Dagegen könnte man in der Entwickelungsgeschichte des Unterkiefers einen Beweis finden, daſs er eine Rippe sey. Die Kiemenbogen sind nämlich getrennte Abschnitte der Bauchplatten, und wenn in ihnen ohne weitere Veränderung Knochenbogen sich entwickeln, so müſsten wir diese Rippen nennen. Nun habe ich gesagt, daſs aus dem ersten Kiemenbogen der Unterkiefer sich bildet. Ich freue mich, schon bei Ausarbeitung der Entwickelungsgeschichte bemerkt zu haben, daſs sich der erste Kiemenbogen durch Auflagerung neuer Masse verdickt. Noch viel deut- licher habe ich dies Verhältniſs später in Embryonen von Säugethieren gesehen, wie ich in Meckel’s Archiv für Anatomie und Physiologie, Jahrgang 1828. Heft 1. berichtet habe. Die Verdickung des ersten Kiemenbogens erfolgt also nicht durch gleichmäſsige Ausdehnung nach allen Seiten, sondern durch Auf- lagerung, d. h. durch Vermehrung der Masse unter der Haut, wie man daraus erkennt, daſs der Gefäſsbogen ganz nach innen liegt. Es ist mithin auch hier der Kiefer, obgleich vom ersten Kiemenbogen nicht getrennt, ein aufliegender Theil, so wie sich auch sein Wurzelglied als aufliegender Theil am Schädel bildet. Corollarium über eine consequentere Eintheilung und Bearbeitung der Anatomie. Die Entwickelungsgeschichte könnte uns veranlassen, eine consequentere Bearbeitung der Anatomie einzuführen. Man pflegt seit Bichat’s unsterblichen Untersuchungen eine allgemeine Anatomie, oder die Lehre von den verschiedenen Geweben, in neuerer Zeit Histologie genannt, von der Beschreibung der einzelnen Theile zu sondern. In dem beschreibenden Theile läſst man aber Inbegriffe von gleichartigen Theilen, die sogenannten organischen Systeme, und Inbegriffe von ungleichartigen Theilen, die Apparate, auf einander folgen. Diese Eintheilung ist nicht consequent, denn jene Gleichartigkeit beruht nur in der Ueberein- stimmung des innern Baues oder des Gewebes, uud die Ungleichartigkeit in der Ungleichartigkeit der Gestaltung. In ersterer Hinsicht glaubt man das Hirn nicht von den Nerven trennen zu dürfen. Man ist aber auch darin nicht consequent, denn das Herz, das im Gefäſssystem mit aufgeführt wird, hat ein anderes Gewebe, als die Gefäſse. Man faſst diese wegen des innigen Zusammenhanges und der gemeinschaftlichen Wirkung zusammen. Im Grunde ist also das Princip, dem man folgt, vorzüglich biologisch. Aber auch darin ist man wieder unbeständig, denn alle Theile der Hand wirken gemeinschaftlich, doch glaubt man die

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Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/227>, abgerufen am 28.04.2024.