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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828.

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fentlich von ihnen zu sprechen, als bis ich eine Reihe von Untersuchungen vorle-
gen würde. Auch war meine Ueberzeugung in Bezug auf jenes Gesetz damals
mehr negirend. Jetzt glaube ich ein anderes an die Stelle setzen zu können, und
die erste Abhandlung dieser Sammlung giebt, wie ich glaube, eine passende Ge-
legenheit, dieses zu entwickeln.

Es wird nicht überflüssig seyn, vor allen Dingen einige Einwendungen
gegen die so eben besprochene Lehre anzuführen, die schon aus früheren Unter-
suchungen von Embryonen sich machen liessen und die dazu dienen mögen, in
denjenigen Lesern, welche ihr völlig zugethan sind, dem Zweifel Raum zu geben.
Es kommt dabei gar nicht auf eine Vollständigkeit an. Auch werde ich mich mit
kurzen Andeutungen begnügen.

Vor allen Dingen erregte es Bedenken in mir, dass man fast nur die Ent-
wickelungsgeschichte der höchsten Formen kannte, die Entwickelung der Säuge-
thiere mit Inbegriff des Menschen und die der Vögel. Was nun in ihrem Embryo-
nen-Zustande vom bleibenden abwich, musste wohl, wenn es irgend in der
Thierreihe eine Analogie fand, diese fast immer unter den niedern Thieren finden.

Dass aber überhaupt zwischen dem Embryonenzustande einzelner Thiere
und dem entwickelten Zustande anderer einige Uebereinstimmungen vorkommen,
scheint ganz nothwendig und nicht von Bedeutung. Sie können nicht fehlen, da
die Embryonen nicht ausserhalb der Sphäre der Thierwelt liegen, und die Varia-
tionen, deren der thierische Leib fähig ist, doch durch eine innere Verknüpfung
und Wechselwirkung der einzelnen Organe für jede Form bestimmt werden, wo-
durch einzelne Wiederholungen nothwendig werden.

Um sich zu überzeugen, dass ein solcher Zweifel nicht ganz ohne Gewicht
ist, denke man sich nur, die Vögel hätten ihre Entwickelungsgeschichte studirt,
und sie wären es, welche nun den Bau des ausgewachsenen Säugethiers und des
Menschen untersuchten. Würden nicht ihre physiologischen Lehrbücher Folgen-
des lehren können? "Jene vier- und zweibeinigen Thiere haben viele Embryo-
"nenähnlichkeit, denn ihre Schädelknochen sind getrennt, sie haben keinen
"Schnabel, wie wir in den fünf oder sechs ersten Tagen der Bebrütung; ihre Ex-
"tremitäten sind ziemlich gleich unter sich, wie die unsrigen ungefähr eben so
"lange; nicht eine einzige wahre Feder sitzt auf ihrem Leibe, sondern nur dünne
"Federschafte, so dass wir schon im Neste weiter sind, als sie jemals kommen,
"ihre Knochen sind wenig spröde und enthalten, wie die unsrigen in der Jugend

quodque subit animal, evolutioni, quam in animalium scrie observandam putant, respondere"
a natura alienam esse contende.
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fentlich von ihnen zu sprechen, als bis ich eine Reihe von Untersuchungen vorle-
gen würde. Auch war meine Ueberzeugung in Bezug auf jenes Gesetz damals
mehr negirend. Jetzt glaube ich ein anderes an die Stelle setzen zu können, und
die erste Abhandlung dieser Sammlung giebt, wie ich glaube, eine passende Ge-
legenheit, dieses zu entwickeln.

Es wird nicht überflüssig seyn, vor allen Dingen einige Einwendungen
gegen die so eben besprochene Lehre anzuführen, die schon aus früheren Unter-
suchungen von Embryonen sich machen lieſsen und die dazu dienen mögen, in
denjenigen Lesern, welche ihr völlig zugethan sind, dem Zweifel Raum zu geben.
Es kommt dabei gar nicht auf eine Vollständigkeit an. Auch werde ich mich mit
kurzen Andeutungen begnügen.

Vor allen Dingen erregte es Bedenken in mir, daſs man fast nur die Ent-
wickelungsgeschichte der höchsten Formen kannte, die Entwickelung der Säuge-
thiere mit Inbegriff des Menschen und die der Vögel. Was nun in ihrem Embryo-
nen-Zustande vom bleibenden abwich, muſste wohl, wenn es irgend in der
Thierreihe eine Analogie fand, diese fast immer unter den niedern Thieren finden.

Daſs aber überhaupt zwischen dem Embryonenzustande einzelner Thiere
und dem entwickelten Zustande anderer einige Uebereinstimmungen vorkommen,
scheint ganz nothwendig und nicht von Bedeutung. Sie können nicht fehlen, da
die Embryonen nicht auſserhalb der Sphäre der Thierwelt liegen, und die Varia-
tionen, deren der thierische Leib fähig ist, doch durch eine innere Verknüpfung
und Wechselwirkung der einzelnen Organe für jede Form bestimmt werden, wo-
durch einzelne Wiederholungen nothwendig werden.

Um sich zu überzeugen, daſs ein solcher Zweifel nicht ganz ohne Gewicht
ist, denke man sich nur, die Vögel hätten ihre Entwickelungsgeschichte studirt,
und sie wären es, welche nun den Bau des ausgewachsenen Säugethiers und des
Menschen untersuchten. Würden nicht ihre physiologischen Lehrbücher Folgen-
dés lehren können? „Jene vier- und zweibeinigen Thiere haben viele Embryo-
„nenähnlichkeit, denn ihre Schädelknochen sind getrennt, sie haben keinen
„Schnabel, wie wir in den fünf oder sechs ersten Tagen der Bebrütung; ihre Ex-
„tremitäten sind ziemlich gleich unter sich, wie die unsrigen ungefähr eben so
„lange; nicht eine einzige wahre Feder sitzt auf ihrem Leibe, sondern nur dünne
„Federschafte, so daſs wir schon im Neste weiter sind, als sie jemals kommen,
„ihre Knochen sind wenig spröde und enthalten, wie die unsrigen in der Jugend

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[203/0233] fentlich von ihnen zu sprechen, als bis ich eine Reihe von Untersuchungen vorle- gen würde. Auch war meine Ueberzeugung in Bezug auf jenes Gesetz damals mehr negirend. Jetzt glaube ich ein anderes an die Stelle setzen zu können, und die erste Abhandlung dieser Sammlung giebt, wie ich glaube, eine passende Ge- legenheit, dieses zu entwickeln. Es wird nicht überflüssig seyn, vor allen Dingen einige Einwendungen gegen die so eben besprochene Lehre anzuführen, die schon aus früheren Unter- suchungen von Embryonen sich machen lieſsen und die dazu dienen mögen, in denjenigen Lesern, welche ihr völlig zugethan sind, dem Zweifel Raum zu geben. Es kommt dabei gar nicht auf eine Vollständigkeit an. Auch werde ich mich mit kurzen Andeutungen begnügen. Vor allen Dingen erregte es Bedenken in mir, daſs man fast nur die Ent- wickelungsgeschichte der höchsten Formen kannte, die Entwickelung der Säuge- thiere mit Inbegriff des Menschen und die der Vögel. Was nun in ihrem Embryo- nen-Zustande vom bleibenden abwich, muſste wohl, wenn es irgend in der Thierreihe eine Analogie fand, diese fast immer unter den niedern Thieren finden. Daſs aber überhaupt zwischen dem Embryonenzustande einzelner Thiere und dem entwickelten Zustande anderer einige Uebereinstimmungen vorkommen, scheint ganz nothwendig und nicht von Bedeutung. Sie können nicht fehlen, da die Embryonen nicht auſserhalb der Sphäre der Thierwelt liegen, und die Varia- tionen, deren der thierische Leib fähig ist, doch durch eine innere Verknüpfung und Wechselwirkung der einzelnen Organe für jede Form bestimmt werden, wo- durch einzelne Wiederholungen nothwendig werden. Um sich zu überzeugen, daſs ein solcher Zweifel nicht ganz ohne Gewicht ist, denke man sich nur, die Vögel hätten ihre Entwickelungsgeschichte studirt, und sie wären es, welche nun den Bau des ausgewachsenen Säugethiers und des Menschen untersuchten. Würden nicht ihre physiologischen Lehrbücher Folgen- dés lehren können? „Jene vier- und zweibeinigen Thiere haben viele Embryo- „nenähnlichkeit, denn ihre Schädelknochen sind getrennt, sie haben keinen „Schnabel, wie wir in den fünf oder sechs ersten Tagen der Bebrütung; ihre Ex- „tremitäten sind ziemlich gleich unter sich, wie die unsrigen ungefähr eben so „lange; nicht eine einzige wahre Feder sitzt auf ihrem Leibe, sondern nur dünne „Federschafte, so daſs wir schon im Neste weiter sind, als sie jemals kommen, „ihre Knochen sind wenig spröde und enthalten, wie die unsrigen in der Jugend *) *) quodque subit animal, evolutioni, quam in animalium scrie observandam putant, respondere” a natura alienam esse contende. C c 2

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Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/233>, abgerufen am 27.04.2024.