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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828.

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Embryo nie durch eine andre Thierform hindurchgeht, sondern nur durch den
Indifferenzzustand zwischen seiner Form und einer andern, und je weiter er rückt,
desto geringer ist der Unterschied der Formen, zwischen welchen die Indifferenz
liegt. In der That zeigt die Abbildung, dass der Embryo einer gewissen Thier-
form im Anfange nur ein unbestimmtes Wirbelthier, dann ein unbestimmter
Vogel und so weiter ist. Da er zugleich innerlich sich ausbildet, so ist er in der
ganzen Reihe seiner Ausbildung zugleich ein immer mehr entwickeltes Thier.

Aber, wird man hier einwenden, wenn dieses Entwickelungsgesetz
richtig seyn sollte, wie war es möglich, dass man für das frühere so viele un-
läugbare Gründe anführen konnte. Die Sache ist ziemlich leicht erklärlich.
Zuvörderst ist der Unterschied so gross nicht, als er beim ersten Anblicke scheint,
und zweitens hat man, wie ich glaube, bei jener Ansicht zuerst sich eine An-
nahme erlaubt und nachher vergessen, dass sie nicht erwiesen war, vor allen
Dingen aber den Unterschied zwischen Typus der Organisation und Stufe ihrer
Ausbildung nicht beachtet. Da nämlich der Embryo allmählig durch fortgehende
histologische und morphologische Sonderung sich ausbildet, so muss er in dieser
Hinsicht
mit wenig entwickelten Thieren um so mehr übereinstimmen, je jünger
er ist. Ferner weichen die verschiedenen Thierformen bald mehr bald weniger
vom Haupttypus ab. Der Typus selbst ist natürlich nirgends rein ausgebildet,
sondern nur unter bestimmten Modificationen. Nun scheint es aber ganz noth-
wendig, dass diejenigen Formen, in welchen die Thierheit am höchsten ausge-
bildet ist, am meisten vom Grundtypus abweichen. In allen Grundtypen näm-
lich, wenn ich sie richtig aufgefunden habe, liegt eine gleichmässige Vertheilung
der organischen Elemente. Wenn nun vorherrschende Centralorgane sich bilden,
und vor allen Dingen ein Centraltheil des Nervensystemes, wonach wir doch am
meisten die höhere Ausbildung abmessen müssen, so wird nothwendig der Typus
bedeutend modificirt. Die Würmer, die Myriopoden haben einen gleichgliedrigen
Körper und stehen dem Typus näher als die Schmetterlinge. Ist nun das Gesetz
wahr, dass bei der individuellen Ausbildung der Haupttypus zuerst bestimmt
wird und nachher die Modificationen, so muss der unentwickelte Schmetterling
der ausgebildeten Scolopendra und selbst dem ausgebildeten Rundwurme ähnlicher
seyn, als umgekehrt die junge Scolopendra oder der junge Rundwurm dem aus-
gebildeten Schmetterlinge. Nimmt man nun auf die Eigenthümlichkeiten des
Rundwurmes, das rothe Blut z. B., das er auch erst später erhält, nicht Rück-
sicht, so kann man leicht sagen, der Schmetterling sey anfangs ein Wurm.
Dasselbe ist deutlich bei den Wirbelthieren. Die Fische sind weniger vom
Grundtypus entfernt, als die Säugethiere, und besonders der grosshirnige Mensch.

Embryo nie durch eine andre Thierform hindurchgeht, sondern nur durch den
Indifferenzzustand zwischen seiner Form und einer andern, und je weiter er rückt,
desto geringer ist der Unterschied der Formen, zwischen welchen die Indifferenz
liegt. In der That zeigt die Abbildung, daſs der Embryo einer gewissen Thier-
form im Anfange nur ein unbestimmtes Wirbelthier, dann ein unbestimmter
Vogel und so weiter ist. Da er zugleich innerlich sich ausbildet, so ist er in der
ganzen Reihe seiner Ausbildung zugleich ein immer mehr entwickeltes Thier.

Aber, wird man hier einwenden, wenn dieses Entwickelungsgesetz
richtig seyn sollte, wie war es möglich, daſs man für das frühere so viele un-
läugbare Gründe anführen konnte. Die Sache ist ziemlich leicht erklärlich.
Zuvörderst ist der Unterschied so groſs nicht, als er beim ersten Anblicke scheint,
und zweitens hat man, wie ich glaube, bei jener Ansicht zuerst sich eine An-
nahme erlaubt und nachher vergessen, daſs sie nicht erwiesen war, vor allen
Dingen aber den Unterschied zwischen Typus der Organisation und Stufe ihrer
Ausbildung nicht beachtet. Da nämlich der Embryo allmählig durch fortgehende
histologische und morphologische Sonderung sich ausbildet, so muſs er in dieser
Hinsicht
mit wenig entwickelten Thieren um so mehr übereinstimmen, je jünger
er ist. Ferner weichen die verschiedenen Thierformen bald mehr bald weniger
vom Haupttypus ab. Der Typus selbst ist natürlich nirgends rein ausgebildet,
sondern nur unter bestimmten Modificationen. Nun scheint es aber ganz noth-
wendig, daſs diejenigen Formen, in welchen die Thierheit am höchsten ausge-
bildet ist, am meisten vom Grundtypus abweichen. In allen Grundtypen näm-
lich, wenn ich sie richtig aufgefunden habe, liegt eine gleichmäſsige Vertheilung
der organischen Elemente. Wenn nun vorherrschende Centralorgane sich bilden,
und vor allen Dingen ein Centraltheil des Nervensystemes, wonach wir doch am
meisten die höhere Ausbildung abmessen müssen, so wird nothwendig der Typus
bedeutend modificirt. Die Würmer, die Myriopoden haben einen gleichgliedrigen
Körper und stehen dem Typus näher als die Schmetterlinge. Ist nun das Gesetz
wahr, daſs bei der individuellen Ausbildung der Haupttypus zuerst bestimmt
wird und nachher die Modificationen, so muſs der unentwickelte Schmetterling
der ausgebildeten Scolopendra und selbst dem ausgebildeten Rundwurme ähnlicher
seyn, als umgekehrt die junge Scolopendra oder der junge Rundwurm dem aus-
gebildeten Schmetterlinge. Nimmt man nun auf die Eigenthümlichkeiten des
Rundwurmes, das rothe Blut z. B., das er auch erst später erhält, nicht Rück-
sicht, so kann man leicht sagen, der Schmetterling sey anfangs ein Wurm.
Dasselbe ist deutlich bei den Wirbelthieren. Die Fische sind weniger vom
Grundtypus entfernt, als die Säugethiere, und besonders der groſshirnige Mensch.

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[230/0262] Embryo nie durch eine andre Thierform hindurchgeht, sondern nur durch den Indifferenzzustand zwischen seiner Form und einer andern, und je weiter er rückt, desto geringer ist der Unterschied der Formen, zwischen welchen die Indifferenz liegt. In der That zeigt die Abbildung, daſs der Embryo einer gewissen Thier- form im Anfange nur ein unbestimmtes Wirbelthier, dann ein unbestimmter Vogel und so weiter ist. Da er zugleich innerlich sich ausbildet, so ist er in der ganzen Reihe seiner Ausbildung zugleich ein immer mehr entwickeltes Thier. Aber, wird man hier einwenden, wenn dieses Entwickelungsgesetz richtig seyn sollte, wie war es möglich, daſs man für das frühere so viele un- läugbare Gründe anführen konnte. Die Sache ist ziemlich leicht erklärlich. Zuvörderst ist der Unterschied so groſs nicht, als er beim ersten Anblicke scheint, und zweitens hat man, wie ich glaube, bei jener Ansicht zuerst sich eine An- nahme erlaubt und nachher vergessen, daſs sie nicht erwiesen war, vor allen Dingen aber den Unterschied zwischen Typus der Organisation und Stufe ihrer Ausbildung nicht beachtet. Da nämlich der Embryo allmählig durch fortgehende histologische und morphologische Sonderung sich ausbildet, so muſs er in dieser Hinsicht mit wenig entwickelten Thieren um so mehr übereinstimmen, je jünger er ist. Ferner weichen die verschiedenen Thierformen bald mehr bald weniger vom Haupttypus ab. Der Typus selbst ist natürlich nirgends rein ausgebildet, sondern nur unter bestimmten Modificationen. Nun scheint es aber ganz noth- wendig, daſs diejenigen Formen, in welchen die Thierheit am höchsten ausge- bildet ist, am meisten vom Grundtypus abweichen. In allen Grundtypen näm- lich, wenn ich sie richtig aufgefunden habe, liegt eine gleichmäſsige Vertheilung der organischen Elemente. Wenn nun vorherrschende Centralorgane sich bilden, und vor allen Dingen ein Centraltheil des Nervensystemes, wonach wir doch am meisten die höhere Ausbildung abmessen müssen, so wird nothwendig der Typus bedeutend modificirt. Die Würmer, die Myriopoden haben einen gleichgliedrigen Körper und stehen dem Typus näher als die Schmetterlinge. Ist nun das Gesetz wahr, daſs bei der individuellen Ausbildung der Haupttypus zuerst bestimmt wird und nachher die Modificationen, so muſs der unentwickelte Schmetterling der ausgebildeten Scolopendra und selbst dem ausgebildeten Rundwurme ähnlicher seyn, als umgekehrt die junge Scolopendra oder der junge Rundwurm dem aus- gebildeten Schmetterlinge. Nimmt man nun auf die Eigenthümlichkeiten des Rundwurmes, das rothe Blut z. B., das er auch erst später erhält, nicht Rück- sicht, so kann man leicht sagen, der Schmetterling sey anfangs ein Wurm. Dasselbe ist deutlich bei den Wirbelthieren. Die Fische sind weniger vom Grundtypus entfernt, als die Säugethiere, und besonders der groſshirnige Mensch.

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Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/262>, abgerufen am 23.11.2024.