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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828.

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fecten ein Hirn zuschreiben. Nur muss man sich dieser Bedeutung bewusst blei-
ben, und für die erstere Bestimmung scheinen in den Spinnen die im Bruststücke
zusammengedrängten Nervenknoten als Hirn betrachtet werden zu müssen. Eine
Art Bewegungshirn!

Dasselbe gilt für das Nervenhalsband der Mollusken. Es ist nicht das Or-
gan,
welches wir Hirn nennen, auch nicht in den Cephalopoden, sondern ledig-
lich der Centraltheil eines Nervensystems, welches in seinen allgemeinsten Bezie-
hungen mit dem plastischen Nervensystem der Wirbelthiere verglichen werden
kann, welches aber, da es nicht an ein Hirn und Rückenmark als beherrschen-
den Centraltheil sich anschliesst, eine andere Form hat. Das sogenannte Hirn der
Cephalopoden kann ich für nichts anders als das Nervenhalsband der Gasteropoden
ansehn. In jenem sind die Ganglien zusammengeschmolzen, in diesem sind sie
mehr getrennt. Es ist ein Centrum des plastischen Nervensystems und kann nur
mit den Ganglien verglichen werden, welche in Wirbelthieren Fäden an die Sin-
nesorgane und andre Kopftheile abgeben, hier aber kein herrschendes Centrum
haben, sondern sich dem Hirne unterordnen. Betrachtet man in den Wirbelthie-
ren das Ganglion maxillare, das sogar auch einen Nerven aus dem Ohre erhält, in
Verbindung mit dem Ganglion caroticum, petrosum, Vidianum, ciliare, und den
Fäden, die an die Sinnesorgane und die Schlingwerkzeuge gehen, so hat man auch
einen Ring, durch welchen der Anfang des verdauenden Kanales durchgeht.

Wie jeder Theil nur verstanden werden kann aus seiner Beziehung zum
Typus und seiner Entwickelung aus demselben, lehren uns andre Theile noch auf-
fallender. Die Luftröhren der Insecten sind freilich lustführende Organe, aber
nicht das Organ, welches wir in Wirbelthieren Luftröhre nenuen, weil dieses
eine Entwickelung der Schleimhautröhre ist, die Luftröhren der Insecten aber ent-
weder durch histologische Sonderung oder durch Hineinstülpung der äussern Haut
entstanden seyn müssen.

Zuweilen hat man dasselbe Wort für verschiedene Organe nur aus Mangel
eines andern Wortes angewendet, die Verschiedenheit aber allgemein anerkannt.
So hat kein Anatom wohl die Flügel der Insecten für gleich mit den Flügeln der
Vögel angesehen. Auch in den Füssen hat man die wesentliche Verschiedenheit
der ersten Glieder wohl nie verkannt. Für die Antennen hat man mit Recht ein
besonderes Wort verwendet. Sie sind auch allerdings nicht in den Wirbelthieren.
Allein sie sind die Flügel des Kopfringes, das lehrt nicht nur ihre Stellung, son-
dern auch ihre Entwickelungsweise. Sie haben in der Puppe dasselbe Lagenver-
hältniss wie die Flügel, mit dem Unterschiede nur, dass sie vom Kopfe kommen.
Eben deshalb sind sie auch übereinstimmend mit den Seitenanhängen der Krebse.

fecten ein Hirn zuschreiben. Nur muſs man sich dieser Bedeutung bewuſst blei-
ben, und für die erstere Bestimmung scheinen in den Spinnen die im Bruststücke
zusammengedrängten Nervenknoten als Hirn betrachtet werden zu müssen. Eine
Art Bewegungshirn!

Dasselbe gilt für das Nervenhalsband der Mollusken. Es ist nicht das Or-
gan,
welches wir Hirn nennen, auch nicht in den Cephalopoden, sondern ledig-
lich der Centraltheil eines Nervensystems, welches in seinen allgemeinsten Bezie-
hungen mit dem plastischen Nervensystem der Wirbelthiere verglichen werden
kann, welches aber, da es nicht an ein Hirn und Rückenmark als beherrschen-
den Centraltheil sich anschlieſst, eine andere Form hat. Das sogenannte Hirn der
Cephalopoden kann ich für nichts anders als das Nervenhalsband der Gasteropoden
ansehn. In jenem sind die Ganglien zusammengeschmolzen, in diesem sind sie
mehr getrennt. Es ist ein Centrum des plastischen Nervensystems und kann nur
mit den Ganglien verglichen werden, welche in Wirbelthieren Fäden an die Sin-
nesorgane und andre Kopftheile abgeben, hier aber kein herrschendes Centrum
haben, sondern sich dem Hirne unterordnen. Betrachtet man in den Wirbelthie-
ren das Ganglion maxillare, das sogar auch einen Nerven aus dem Ohre erhält, in
Verbindung mit dem Ganglion caroticum, petrosum, Vidianum, ciliare, und den
Fäden, die an die Sinnesorgane und die Schlingwerkzeuge gehen, so hat man auch
einen Ring, durch welchen der Anfang des verdauenden Kanales durchgeht.

Wie jeder Theil nur verstanden werden kann aus seiner Beziehung zum
Typus und seiner Entwickelung aus demselben, lehren uns andre Theile noch auf-
fallender. Die Luftröhren der Insecten sind freilich luſtführende Organe, aber
nicht das Organ, welches wir in Wirbelthieren Luftröhre nenuen, weil dieses
eine Entwickelung der Schleimhautröhre ist, die Luftröhren der Insecten aber ent-
weder durch histologische Sonderung oder durch Hineinstülpung der äuſsern Haut
entstanden seyn müssen.

Zuweilen hat man dasselbe Wort für verschiedene Organe nur aus Mangel
eines andern Wortes angewendet, die Verschiedenheit aber allgemein anerkannt.
So hat kein Anatom wohl die Flügel der Insecten für gleich mit den Flügeln der
Vögel angesehen. Auch in den Füſsen hat man die wesentliche Verschiedenheit
der ersten Glieder wohl nie verkannt. Für die Antennen hat man mit Recht ein
besonderes Wort verwendet. Sie sind auch allerdings nicht in den Wirbelthieren.
Allein sie sind die Flügel des Kopfringes, das lehrt nicht nur ihre Stellung, son-
dern auch ihre Entwickelungsweise. Sie haben in der Puppe dasselbe Lagenver-
hältniſs wie die Flügel, mit dem Unterschiede nur, daſs sie vom Kopfe kommen.
Eben deshalb sind sie auch übereinstimmend mit den Seitenanhängen der Krebse.

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[236/0268] fecten ein Hirn zuschreiben. Nur muſs man sich dieser Bedeutung bewuſst blei- ben, und für die erstere Bestimmung scheinen in den Spinnen die im Bruststücke zusammengedrängten Nervenknoten als Hirn betrachtet werden zu müssen. Eine Art Bewegungshirn! Dasselbe gilt für das Nervenhalsband der Mollusken. Es ist nicht das Or- gan, welches wir Hirn nennen, auch nicht in den Cephalopoden, sondern ledig- lich der Centraltheil eines Nervensystems, welches in seinen allgemeinsten Bezie- hungen mit dem plastischen Nervensystem der Wirbelthiere verglichen werden kann, welches aber, da es nicht an ein Hirn und Rückenmark als beherrschen- den Centraltheil sich anschlieſst, eine andere Form hat. Das sogenannte Hirn der Cephalopoden kann ich für nichts anders als das Nervenhalsband der Gasteropoden ansehn. In jenem sind die Ganglien zusammengeschmolzen, in diesem sind sie mehr getrennt. Es ist ein Centrum des plastischen Nervensystems und kann nur mit den Ganglien verglichen werden, welche in Wirbelthieren Fäden an die Sin- nesorgane und andre Kopftheile abgeben, hier aber kein herrschendes Centrum haben, sondern sich dem Hirne unterordnen. Betrachtet man in den Wirbelthie- ren das Ganglion maxillare, das sogar auch einen Nerven aus dem Ohre erhält, in Verbindung mit dem Ganglion caroticum, petrosum, Vidianum, ciliare, und den Fäden, die an die Sinnesorgane und die Schlingwerkzeuge gehen, so hat man auch einen Ring, durch welchen der Anfang des verdauenden Kanales durchgeht. Wie jeder Theil nur verstanden werden kann aus seiner Beziehung zum Typus und seiner Entwickelung aus demselben, lehren uns andre Theile noch auf- fallender. Die Luftröhren der Insecten sind freilich luſtführende Organe, aber nicht das Organ, welches wir in Wirbelthieren Luftröhre nenuen, weil dieses eine Entwickelung der Schleimhautröhre ist, die Luftröhren der Insecten aber ent- weder durch histologische Sonderung oder durch Hineinstülpung der äuſsern Haut entstanden seyn müssen. Zuweilen hat man dasselbe Wort für verschiedene Organe nur aus Mangel eines andern Wortes angewendet, die Verschiedenheit aber allgemein anerkannt. So hat kein Anatom wohl die Flügel der Insecten für gleich mit den Flügeln der Vögel angesehen. Auch in den Füſsen hat man die wesentliche Verschiedenheit der ersten Glieder wohl nie verkannt. Für die Antennen hat man mit Recht ein besonderes Wort verwendet. Sie sind auch allerdings nicht in den Wirbelthieren. Allein sie sind die Flügel des Kopfringes, das lehrt nicht nur ihre Stellung, son- dern auch ihre Entwickelungsweise. Sie haben in der Puppe dasselbe Lagenver- hältniſs wie die Flügel, mit dem Unterschiede nur, daſs sie vom Kopfe kommen. Eben deshalb sind sie auch übereinstimmend mit den Seitenanhängen der Krebse.

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Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/268>, abgerufen am 24.11.2024.