Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

Bild:
<< vorherige Seite

Heiligen, Platon Karatajew gegenüber, den kleinen Bauern-
märtyrer, und das ganze Buch stellt den Gegensatz zwischen
dem christlichen Ideal dem napoleonischen Natur-Götzen-
tum dar 7).

Die ernsthafte, wilde, blonde und schöne Bestie
(Schlegel, Schiller, Nietzsche, Wedekind) findet bei den
russischen Philosophen und Dichtern keinen Eingang. Im
Gegenteil: Trauer und Klage, dass das entsetzliche Tier im
Menschen noch immer nicht erstorben ist. Die Kultur der
Kraft- und Halbgötter, jene epigonide Renaissance, die in
Deutschland an Einfluss gewann, als sie anderwärts bereits
in ihren letzten Ausläufern Napoleon und Stendhal über-
wunden war, konnten das russische Genie des 19. Jahr-
hunderts nicht bestechen 8), und es ist bezeichnend genug,
dass die Ablehnung der Renaissance-Ideologie ihre Vor-
kämpfer gerade unter den Slawophilen (Danilewsky, Stra-
chow u. a.) fand, die man in Deutschland als Vertreter
aller expansiven Barbarei der Feindschaft gegen die "euro-
päische Kultur" verdächtigte 9).

Die Russen aber wandten sich gegen das Antichristen-
tum nicht nur nach aussen, sondern auch nach innen. Die
Raskolniken predigten, dass die orthodoxe Autokratie
religiös unmöglich sei. Sie waren die ersten, die die
russische Autokratie ein Reich des Antichrist nannten.
Damit gelangten sie, als Vorläufer Tolstois, zur religiösen
Anarchie. Der Katechismus der Dekabristen Pestel und
Rylejew (1825) enthielt den Passus: "Was befiehlt nun
Gottes Gesetz dem russischen Volke und der russischen
Armee zu tun? Ihre lange Knechtschaft zu bereuen, sich
gegen die Tyrannei und Gottlosigkeit zu erheben und zu
schwören, dass es nur einen König auf Erden und im
Himmel gibt, Jesum Christum" 10).

Tschaadajew hielt die Orthodoxie für die grösste
Sünde. "Erst an dem Tage sind wir wirklich frei, wo sich
unseren Lippen das Bekenntnis aller Sünden der Vergangen-

Heiligen, Platon Karatajew gegenüber, den kleinen Bauern-
märtyrer, und das ganze Buch stellt den Gegensatz zwischen
dem christlichen Ideal dem napoleonischen Natur-Götzen-
tum dar 7).

Die ernsthafte, wilde, blonde und schöne Bestie
(Schlegel, Schiller, Nietzsche, Wedekind) findet bei den
russischen Philosophen und Dichtern keinen Eingang. Im
Gegenteil: Trauer und Klage, dass das entsetzliche Tier im
Menschen noch immer nicht erstorben ist. Die Kultur der
Kraft- und Halbgötter, jene epigonide Renaissance, die in
Deutschland an Einfluss gewann, als sie anderwärts bereits
in ihren letzten Ausläufern Napoleon und Stendhal über-
wunden war, konnten das russische Genie des 19. Jahr-
hunderts nicht bestechen 8), und es ist bezeichnend genug,
dass die Ablehnung der Renaissance-Ideologie ihre Vor-
kämpfer gerade unter den Slawophilen (Danilewsky, Stra-
chow u. a.) fand, die man in Deutschland als Vertreter
aller expansiven Barbarei der Feindschaft gegen die „euro-
päische Kultur“ verdächtigte 9).

Die Russen aber wandten sich gegen das Antichristen-
tum nicht nur nach aussen, sondern auch nach innen. Die
Raskolniken predigten, dass die orthodoxe Autokratie
religiös unmöglich sei. Sie waren die ersten, die die
russische Autokratie ein Reich des Antichrist nannten.
Damit gelangten sie, als Vorläufer Tolstois, zur religiösen
Anarchie. Der Katechismus der Dekabristen Pestel und
Rylejew (1825) enthielt den Passus: „Was befiehlt nun
Gottes Gesetz dem russischen Volke und der russischen
Armee zu tun? Ihre lange Knechtschaft zu bereuen, sich
gegen die Tyrannei und Gottlosigkeit zu erheben und zu
schwören, dass es nur einen König auf Erden und im
Himmel gibt, Jesum Christum“ 10).

Tschaadajew hielt die Orthodoxie für die grösste
Sünde. „Erst an dem Tage sind wir wirklich frei, wo sich
unseren Lippen das Bekenntnis aller Sünden der Vergangen-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0141" n="133"/>
Heiligen, Platon Karatajew gegenüber, den kleinen Bauern-<lb/>
märtyrer, und das ganze Buch stellt den Gegensatz zwischen<lb/>
dem christlichen Ideal dem napoleonischen Natur-Götzen-<lb/>
tum dar <note xml:id="id7c" next="id7c7c" place="end" n="7)"/>.</p><lb/>
          <p>Die ernsthafte, wilde, blonde und schöne Bestie<lb/>
(Schlegel, Schiller, Nietzsche, Wedekind) findet bei den<lb/>
russischen Philosophen und Dichtern keinen Eingang. Im<lb/>
Gegenteil: Trauer und Klage, dass das entsetzliche Tier im<lb/>
Menschen noch immer nicht erstorben ist. Die Kultur der<lb/>
Kraft- und Halbgötter, jene epigonide Renaissance, die in<lb/>
Deutschland an Einfluss gewann, als sie anderwärts bereits<lb/>
in ihren letzten Ausläufern Napoleon und Stendhal über-<lb/>
wunden war, konnten das russische Genie des 19. Jahr-<lb/>
hunderts nicht bestechen <note xml:id="id8c" next="id8c8c" place="end" n="8)"/>, und es ist bezeichnend genug,<lb/>
dass die Ablehnung der Renaissance-Ideologie ihre Vor-<lb/>
kämpfer gerade unter den Slawophilen (Danilewsky, Stra-<lb/>
chow u. a.) fand, die man in Deutschland als Vertreter<lb/>
aller expansiven Barbarei der Feindschaft gegen die &#x201E;euro-<lb/>
päische Kultur&#x201C; verdächtigte <note xml:id="id9c" next="id9c9c" place="end" n="9)"/>.</p><lb/>
          <p>Die Russen aber wandten sich gegen das Antichristen-<lb/>
tum nicht nur nach aussen, sondern auch nach innen. Die<lb/>
Raskolniken predigten, dass die orthodoxe Autokratie<lb/><hi rendition="#i">religiös</hi> unmöglich sei. Sie waren die ersten, die die<lb/>
russische Autokratie ein Reich des Antichrist nannten.<lb/>
Damit gelangten sie, als Vorläufer Tolstois, zur religiösen<lb/>
Anarchie. Der Katechismus der Dekabristen Pestel und<lb/>
Rylejew (1825) enthielt den Passus: &#x201E;Was befiehlt nun<lb/>
Gottes Gesetz dem russischen Volke und der russischen<lb/>
Armee zu tun? Ihre lange Knechtschaft zu bereuen, sich<lb/>
gegen die Tyrannei und Gottlosigkeit zu erheben und zu<lb/>
schwören, dass es nur einen König auf Erden und im<lb/>
Himmel gibt, Jesum Christum&#x201C; <note xml:id="id10c" next="id10c10c" place="end" n="10)"/>.</p><lb/>
          <p>Tschaadajew hielt die Orthodoxie für die grösste<lb/>
Sünde. &#x201E;Erst an dem Tage sind wir wirklich frei, wo sich<lb/>
unseren Lippen das Bekenntnis aller Sünden der Vergangen-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[133/0141] Heiligen, Platon Karatajew gegenüber, den kleinen Bauern- märtyrer, und das ganze Buch stellt den Gegensatz zwischen dem christlichen Ideal dem napoleonischen Natur-Götzen- tum dar ⁷⁾ . Die ernsthafte, wilde, blonde und schöne Bestie (Schlegel, Schiller, Nietzsche, Wedekind) findet bei den russischen Philosophen und Dichtern keinen Eingang. Im Gegenteil: Trauer und Klage, dass das entsetzliche Tier im Menschen noch immer nicht erstorben ist. Die Kultur der Kraft- und Halbgötter, jene epigonide Renaissance, die in Deutschland an Einfluss gewann, als sie anderwärts bereits in ihren letzten Ausläufern Napoleon und Stendhal über- wunden war, konnten das russische Genie des 19. Jahr- hunderts nicht bestechen ⁸⁾ , und es ist bezeichnend genug, dass die Ablehnung der Renaissance-Ideologie ihre Vor- kämpfer gerade unter den Slawophilen (Danilewsky, Stra- chow u. a.) fand, die man in Deutschland als Vertreter aller expansiven Barbarei der Feindschaft gegen die „euro- päische Kultur“ verdächtigte ⁹⁾ . Die Russen aber wandten sich gegen das Antichristen- tum nicht nur nach aussen, sondern auch nach innen. Die Raskolniken predigten, dass die orthodoxe Autokratie religiös unmöglich sei. Sie waren die ersten, die die russische Autokratie ein Reich des Antichrist nannten. Damit gelangten sie, als Vorläufer Tolstois, zur religiösen Anarchie. Der Katechismus der Dekabristen Pestel und Rylejew (1825) enthielt den Passus: „Was befiehlt nun Gottes Gesetz dem russischen Volke und der russischen Armee zu tun? Ihre lange Knechtschaft zu bereuen, sich gegen die Tyrannei und Gottlosigkeit zu erheben und zu schwören, dass es nur einen König auf Erden und im Himmel gibt, Jesum Christum“ ¹⁰⁾ . Tschaadajew hielt die Orthodoxie für die grösste Sünde. „Erst an dem Tage sind wir wirklich frei, wo sich unseren Lippen das Bekenntnis aller Sünden der Vergangen-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Schulz, Dienstleister (Muttersprachler): Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-02-17T09:20:45Z)
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-02-17T09:20:45Z)

Weitere Informationen:

  • Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/141
Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/141>, abgerufen am 23.11.2024.