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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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blieb, was da so aufgeregt vor Bismarcks Zeiten nach Re-
volution schrie.

Das Eine sah Marx, dass Deutschland hinter den anderen
Staaten unendlich weit zurückblieb. Er fand, Deutschland
sei längst noch nicht dort angelangt, wo Frankreich schon
vor 1789 stand; sah, dass Deutschland zwar keine moderne
Revolution mitgemacht, dafür aber die Restaurationen aller
anderen Völker geteilt habe. "Ich gebe zu, sogar die Scham
ist in Deutschland noch nicht vorhanden; im Gegenteil,
diese Elenden sind noch Patrioten". "Die Deutschtümelei
ist sogar in die Materie gefahren; während das Problem
in Frankreich und England lautet: Politische Oekonomie
oder Herrschaft der Sozietät über den Reichtum, lautet es
in Deutschland: Nationalökonomie oder Herrschaft des
Privateigentums über die Nationalität" 23). Einzig die Philo-
sophie, und zwar die Hegel'sche findet Anerkennung. Sie
ist ihm "die einzige, mit der offiziellen modernen Gegen-
wart al pari stehende deutsche Geschichte" 24). Das war
die Hegel'sche Philosophie zwar nicht, wenigstens wurde
sie in Paris nicht al pari anerkannt, und Paris entscheidet
nun einmal über den letzten Wert von Philosophien. Aber
sie bot immerhin die Möglichkeit eines antithetischen Systems
der Un-Vernunft, das, in Hegel'schen Massen aufgestellt, al
pari mit der historischen Entwicklung Europas hätte stehen
können 25), und wenn weder Marx, noch Bauer, noch Feuer-
bach ein solches System lieferten, so blieb ihnen als dok-
trinären Atheisten, Materialisten und Anthropomorphisten das
Verdienst, zwar die englische und französische Aufklärung
von Grund aus zu verstehen, nicht aber den neuen christ-
lichen Geist, den in England und Frankreich das Elend
des Proletariats wachrief. Marx irrte sich genau wie Heine,
wenn er, von Hegel und Feuerbach erfüllt, die protestan-
tische Philosophie als Ausgangspunkt einer Revolution über-
schätzte. Nicht nur, dass die politische Situation in Deutsch-
land, zerrissen und zerspalten wie sie war, in keiner Weise

blieb, was da so aufgeregt vor Bismarcks Zeiten nach Re-
volution schrie.

Das Eine sah Marx, dass Deutschland hinter den anderen
Staaten unendlich weit zurückblieb. Er fand, Deutschland
sei längst noch nicht dort angelangt, wo Frankreich schon
vor 1789 stand; sah, dass Deutschland zwar keine moderne
Revolution mitgemacht, dafür aber die Restaurationen aller
anderen Völker geteilt habe. „Ich gebe zu, sogar die Scham
ist in Deutschland noch nicht vorhanden; im Gegenteil,
diese Elenden sind noch Patrioten“. „Die Deutschtümelei
ist sogar in die Materie gefahren; während das Problem
in Frankreich und England lautet: Politische Oekonomie
oder Herrschaft der Sozietät über den Reichtum, lautet es
in Deutschland: Nationalökonomie oder Herrschaft des
Privateigentums über die Nationalität“ 23). Einzig die Philo-
sophie, und zwar die Hegel'sche findet Anerkennung. Sie
ist ihm „die einzige, mit der offiziellen modernen Gegen-
wart al pari stehende deutsche Geschichte“ 24). Das war
die Hegel'sche Philosophie zwar nicht, wenigstens wurde
sie in Paris nicht al pari anerkannt, und Paris entscheidet
nun einmal über den letzten Wert von Philosophien. Aber
sie bot immerhin die Möglichkeit eines antithetischen Systems
der Un-Vernunft, das, in Hegel'schen Massen aufgestellt, al
pari mit der historischen Entwicklung Europas hätte stehen
können 25), und wenn weder Marx, noch Bauer, noch Feuer-
bach ein solches System lieferten, so blieb ihnen als dok-
trinären Atheisten, Materialisten und Anthropomorphisten das
Verdienst, zwar die englische und französische Aufklärung
von Grund aus zu verstehen, nicht aber den neuen christ-
lichen Geist, den in England und Frankreich das Elend
des Proletariats wachrief. Marx irrte sich genau wie Heine,
wenn er, von Hegel und Feuerbach erfüllt, die protestan-
tische Philosophie als Ausgangspunkt einer Revolution über-
schätzte. Nicht nur, dass die politische Situation in Deutsch-
land, zerrissen und zerspalten wie sie war, in keiner Weise

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[182/0190] blieb, was da so aufgeregt vor Bismarcks Zeiten nach Re- volution schrie. Das Eine sah Marx, dass Deutschland hinter den anderen Staaten unendlich weit zurückblieb. Er fand, Deutschland sei längst noch nicht dort angelangt, wo Frankreich schon vor 1789 stand; sah, dass Deutschland zwar keine moderne Revolution mitgemacht, dafür aber die Restaurationen aller anderen Völker geteilt habe. „Ich gebe zu, sogar die Scham ist in Deutschland noch nicht vorhanden; im Gegenteil, diese Elenden sind noch Patrioten“. „Die Deutschtümelei ist sogar in die Materie gefahren; während das Problem in Frankreich und England lautet: Politische Oekonomie oder Herrschaft der Sozietät über den Reichtum, lautet es in Deutschland: Nationalökonomie oder Herrschaft des Privateigentums über die Nationalität“ ²³⁾ . Einzig die Philo- sophie, und zwar die Hegel'sche findet Anerkennung. Sie ist ihm „die einzige, mit der offiziellen modernen Gegen- wart al pari stehende deutsche Geschichte“ ²⁴⁾ . Das war die Hegel'sche Philosophie zwar nicht, wenigstens wurde sie in Paris nicht al pari anerkannt, und Paris entscheidet nun einmal über den letzten Wert von Philosophien. Aber sie bot immerhin die Möglichkeit eines antithetischen Systems der Un-Vernunft, das, in Hegel'schen Massen aufgestellt, al pari mit der historischen Entwicklung Europas hätte stehen können ²⁵⁾ , und wenn weder Marx, noch Bauer, noch Feuer- bach ein solches System lieferten, so blieb ihnen als dok- trinären Atheisten, Materialisten und Anthropomorphisten das Verdienst, zwar die englische und französische Aufklärung von Grund aus zu verstehen, nicht aber den neuen christ- lichen Geist, den in England und Frankreich das Elend des Proletariats wachrief. Marx irrte sich genau wie Heine, wenn er, von Hegel und Feuerbach erfüllt, die protestan- tische Philosophie als Ausgangspunkt einer Revolution über- schätzte. Nicht nur, dass die politische Situation in Deutsch- land, zerrissen und zerspalten wie sie war, in keiner Weise

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/190>, abgerufen am 21.11.2024.