Vivat schreien". Im ersten Rang der Oper benimmt er sich "so flegelhaft wie möglich" 97). Aber während Rimbaud seine hochbrandende Charität aus der Verkommenheit des Kontinents zu den Negern trägt und am Ende seines Lebens in Marseille nach blendenden Wirren und Abenteuern sich schluchzend zu Jesus bekennt, ist Bismarck im Sachsenwald ein Kaliban mit umgeschnalltem Schleppsäbel und doppelten Tränensäcken, dem zwei grosse Tränen betbrüderlich aus den Augen rinnen, als Dryander ihm aus der Bibel zitiert: "Vor unseligem Grosswerden behüte uns, o Herr" 98).
Der schwarze Tag von Olmütz, wo Preussen 1850 von Oesterreich eine so komplette Abfuhr erlebte, dass sich die richtigen Junker, nach Mehring, wie Katzen in Baldrian wälzten, dieser Tage lenkte den Blick seines romantischen Königs auf ihn. Bismarck, der 1848 noch die deutsche Einheit als Gefährdung der preussischen Junkerherrlichkeit verstand und als ein echter Teufel in die Menge feuern lassen wollte, wird Vertreter des gedemütigten Preussischen Hofes am wiederhergestellten Frankfurter Bundestage, und so beginnt seine Laufbahn.
Die Aera Bismarck ist typisch junkerlich. Gekenn- zeichnet in der inneren Politik durch Staatsstreiche, Massen- verbote, "Maulkorb"gesetze und alle empörenden Gewalt- massregeln einer mit dem Polizeiknüppel argumentierenden Militärdiktatur. In der äusseren Politik erst durch allererge- benstes Zukreuzekriechen (Olmütz), dann durch ein frich- fröhliches Schieben (die sogenannten "dilatorischen Ver- handlungen"), dann durch Düpierungsmanöver (1866 und 1870) und zuletzt durch eine weltgeschichtliche Provokation, die preussisch-deutsche Reichsgründung. In der Diplomatie ergänzen sich Anmassung, bäurischer Jesuitismus und fröm- melnde Heuchelei, um den völligen Mangel einer moralischen Ueberzeugung zu verdecken. Ziel ist gleichwohl die Herr- schaft über den Kontinent.
Einige Kernsprüche Bismarcks, Parade- und Gemein-
Vivat schreien“. Im ersten Rang der Oper benimmt er sich „so flegelhaft wie möglich“ 97). Aber während Rimbaud seine hochbrandende Charität aus der Verkommenheit des Kontinents zu den Negern trägt und am Ende seines Lebens in Marseille nach blendenden Wirren und Abenteuern sich schluchzend zu Jesus bekennt, ist Bismarck im Sachsenwald ein Kaliban mit umgeschnalltem Schleppsäbel und doppelten Tränensäcken, dem zwei grosse Tränen betbrüderlich aus den Augen rinnen, als Dryander ihm aus der Bibel zitiert: „Vor unseligem Grosswerden behüte uns, o Herr“ 98).
Der schwarze Tag von Olmütz, wo Preussen 1850 von Oesterreich eine so komplette Abfuhr erlebte, dass sich die richtigen Junker, nach Mehring, wie Katzen in Baldrian wälzten, dieser Tage lenkte den Blick seines romantischen Königs auf ihn. Bismarck, der 1848 noch die deutsche Einheit als Gefährdung der preussischen Junkerherrlichkeit verstand und als ein echter Teufel in die Menge feuern lassen wollte, wird Vertreter des gedemütigten Preussischen Hofes am wiederhergestellten Frankfurter Bundestage, und so beginnt seine Laufbahn.
Die Aera Bismarck ist typisch junkerlich. Gekenn- zeichnet in der inneren Politik durch Staatsstreiche, Massen- verbote, „Maulkorb“gesetze und alle empörenden Gewalt- massregeln einer mit dem Polizeiknüppel argumentierenden Militärdiktatur. In der äusseren Politik erst durch allererge- benstes Zukreuzekriechen (Olmütz), dann durch ein frich- fröhliches Schieben (die sogenannten „dilatorischen Ver- handlungen“), dann durch Düpierungsmanöver (1866 und 1870) und zuletzt durch eine weltgeschichtliche Provokation, die preussisch-deutsche Reichsgründung. In der Diplomatie ergänzen sich Anmassung, bäurischer Jesuitismus und fröm- melnde Heuchelei, um den völligen Mangel einer moralischen Ueberzeugung zu verdecken. Ziel ist gleichwohl die Herr- schaft über den Kontinent.
Einige Kernsprüche Bismarcks, Parade- und Gemein-
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Vivat schreien“. Im ersten Rang der Oper benimmt er sich
„so flegelhaft wie möglich“
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seine hochbrandende Charität aus der Verkommenheit des
Kontinents zu den Negern trägt und am Ende seines Lebens
in Marseille nach blendenden Wirren und Abenteuern sich
schluchzend zu Jesus bekennt, ist Bismarck im Sachsenwald
ein Kaliban mit umgeschnalltem Schleppsäbel und doppelten
Tränensäcken, dem zwei grosse Tränen betbrüderlich aus
den Augen rinnen, als Dryander ihm aus der Bibel zitiert:
„Vor unseligem Grosswerden behüte uns, o Herr“
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Der schwarze Tag von Olmütz, wo Preussen 1850 von
Oesterreich eine so komplette Abfuhr erlebte, dass sich die
richtigen Junker, nach Mehring, wie Katzen in Baldrian
wälzten, dieser Tage lenkte den Blick seines romantischen
Königs auf ihn. Bismarck, der 1848 noch die deutsche
Einheit als Gefährdung der preussischen Junkerherrlichkeit
verstand und als ein echter Teufel in die Menge feuern
lassen wollte, wird Vertreter des gedemütigten Preussischen
Hofes am wiederhergestellten Frankfurter Bundestage, und
so beginnt seine Laufbahn.
Die Aera Bismarck ist typisch junkerlich. Gekenn-
zeichnet in der inneren Politik durch Staatsstreiche, Massen-
verbote, „Maulkorb“gesetze und alle empörenden Gewalt-
massregeln einer mit dem Polizeiknüppel argumentierenden
Militärdiktatur. In der äusseren Politik erst durch allererge-
benstes Zukreuzekriechen (Olmütz), dann durch ein frich-
fröhliches Schieben (die sogenannten „dilatorischen Ver-
handlungen“), dann durch Düpierungsmanöver (1866 und
1870) und zuletzt durch eine weltgeschichtliche Provokation,
die preussisch-deutsche Reichsgründung. In der Diplomatie
ergänzen sich Anmassung, bäurischer Jesuitismus und fröm-
melnde Heuchelei, um den völligen Mangel einer moralischen
Ueberzeugung zu verdecken. Ziel ist gleichwohl die Herr-
schaft über den Kontinent.
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/223>, abgerufen am 24.11.2024.
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