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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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Alexandrinertums. Beethoven entfesselt die enthusiastischen und
dithyrambischen Kräfte der Nation. Wagner führt sie bis zu
Dante, Ambrosius und Giotto zurück. Süssigkeit der Madonnen,
Zentralverwaltung der Heiligtümer! Die Musik als der Inbegriff
aller magischen und priesterlichen Doktrinen. Nietzsche als erster
sucht den Geist dieser Musik ins Leben zu wenden, die Autoritäten
und Pseudomoralen des heiligen römischen Reichs zu stürzen
und alle Ungeheuer barbarischen Dunkels, barbarischer Härte,
barbarischer Spaltung ins Helle zu jagen. Doch die Musik ist
jetzt selbst schon blasphemisch und gottlos, im Widerspruch
mit ihrer hochstrebenden Intention, pervertiert vom grossen
Philisterreich. Nietzsche entdeckt es zu spät. Und er selbst ist nur
Ketzer, nur Protestant. So ist die Bedingung unseres Genesens:
Zusammenbruch dieses Philisterreichs, zurück zur scholastischen
Philosophie und liturgischen Mystik! Zurück in die Zeit vor der
Reformation!
147) Vergl. "Der Fatalismus des Büchner'schen "Danton"
und seine Beziehungen zur Romantik", "Wissen und Leben",
Zürich, Frühjahr 1918.
148) Ebendort.
149) Die Heiligenlehre setzt sich von Baader und Novalis
aus fort bei Schopenhauer und Wagner. Bei Nietzsche und
Kassner noch findet sich das Ideal des "Heiligen der Erkenntnis",
das ebenfalls von der Romantik (in ihren indischen Studien) ent-
deckt ist.
150) Dem "Bruder Wolf" des Franz von Assisi entspricht
bei Novalis ein "Schwester Blume". Heine vergleicht ihn mit
dem arabischen Zauberer, der nach Willkür jeden Stein zu be-
leben weiss. "Novalis sah überall Wunder und liebliche Wunder:
er belauschte das Gespräch der Pflanzen, er wusste das Geheimnis
jeder jungen Rose, er identifizierte sich endlich mit der ganzen
Natur, und als es Herbst wurde und die Blätter abfielen, da starb
er." ("Die romantische Schule", S. 72, Hendel, Verlag, Halle.)
Vergl. auch Franz von Baader, der auf Novalis stark ein-
wirkte: "Sieh die Blume, wie sie sich ihrem Bräutigam, der
Sonne, entgegenwendet! Sie sauget Licht, pranget und blühet.
Nacht, Finsternisse umgeben sie, sie welkt. Das geht täglich vor
unsern Augen vor, nach physischen Gesetzen, wie man sagt.
Und sollten im Innern der Dinge, in der Geisterwelt, diese Ge-
setze nicht wirken? Ist denn mein Geist so isoliert, abgetrennt,
willkürlich, als wir wähnen? Nein, er wendet sich hinauf zum
Quell und zu der Sonne aller Wesen, und Licht und Wahrheit und
Alexandrinertums. Beethoven entfesselt die enthusiastischen und
dithyrambischen Kräfte der Nation. Wagner führt sie bis zu
Dante, Ambrosius und Giotto zurück. Süssigkeit der Madonnen,
Zentralverwaltung der Heiligtümer! Die Musik als der Inbegriff
aller magischen und priesterlichen Doktrinen. Nietzsche als erster
sucht den Geist dieser Musik ins Leben zu wenden, die Autoritäten
und Pseudomoralen des heiligen römischen Reichs zu stürzen
und alle Ungeheuer barbarischen Dunkels, barbarischer Härte,
barbarischer Spaltung ins Helle zu jagen. Doch die Musik ist
jetzt selbst schon blasphemisch und gottlos, im Widerspruch
mit ihrer hochstrebenden Intention, pervertiert vom grossen
Philisterreich. Nietzsche entdeckt es zu spät. Und er selbst ist nur
Ketzer, nur Protestant. So ist die Bedingung unseres Genesens:
Zusammenbruch dieses Philisterreichs, zurück zur scholastischen
Philosophie und liturgischen Mystik! Zurück in die Zeit vor der
Reformation!
147) Vergl. „Der Fatalismus des Büchner'schen «Danton»
und seine Beziehungen zur Romantik“, „Wissen und Leben“,
Zürich, Frühjahr 1918.
148) Ebendort.
149) Die Heiligenlehre setzt sich von Baader und Novalis
aus fort bei Schopenhauer und Wagner. Bei Nietzsche und
Kassner noch findet sich das Ideal des „Heiligen der Erkenntnis“,
das ebenfalls von der Romantik (in ihren indischen Studien) ent-
deckt ist.
150) Dem „Bruder Wolf“ des Franz von Assisi entspricht
bei Novalis ein „Schwester Blume“. Heine vergleicht ihn mit
dem arabischen Zauberer, der nach Willkür jeden Stein zu be-
leben weiss. „Novalis sah überall Wunder und liebliche Wunder:
er belauschte das Gespräch der Pflanzen, er wusste das Geheimnis
jeder jungen Rose, er identifizierte sich endlich mit der ganzen
Natur, und als es Herbst wurde und die Blätter abfielen, da starb
er.“ („Die romantische Schule“, S. 72, Hendel, Verlag, Halle.)
Vergl. auch Franz von Baader, der auf Novalis stark ein-
wirkte: „Sieh die Blume, wie sie sich ihrem Bräutigam, der
Sonne, entgegenwendet! Sie sauget Licht, pranget und blühet.
Nacht, Finsternisse umgeben sie, sie welkt. Das geht täglich vor
unsern Augen vor, nach physischen Gesetzen, wie man sagt.
Und sollten im Innern der Dinge, in der Geisterwelt, diese Ge-
setze nicht wirken? Ist denn mein Geist so isoliert, abgetrennt,
willkürlich, als wir wähnen? Nein, er wendet sich hinauf zum
Quell und zu der Sonne aller Wesen, und Licht und Wahrheit und
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[263/0271] ¹⁴⁶⁾ Alexandrinertums. Beethoven entfesselt die enthusiastischen und dithyrambischen Kräfte der Nation. Wagner führt sie bis zu Dante, Ambrosius und Giotto zurück. Süssigkeit der Madonnen, Zentralverwaltung der Heiligtümer! Die Musik als der Inbegriff aller magischen und priesterlichen Doktrinen. Nietzsche als erster sucht den Geist dieser Musik ins Leben zu wenden, die Autoritäten und Pseudomoralen des heiligen römischen Reichs zu stürzen und alle Ungeheuer barbarischen Dunkels, barbarischer Härte, barbarischer Spaltung ins Helle zu jagen. Doch die Musik ist jetzt selbst schon blasphemisch und gottlos, im Widerspruch mit ihrer hochstrebenden Intention, pervertiert vom grossen Philisterreich. Nietzsche entdeckt es zu spät. Und er selbst ist nur Ketzer, nur Protestant. So ist die Bedingung unseres Genesens: Zusammenbruch dieses Philisterreichs, zurück zur scholastischen Philosophie und liturgischen Mystik! Zurück in die Zeit vor der Reformation! ¹⁴⁷⁾ Vergl. „Der Fatalismus des Büchner'schen «Danton» und seine Beziehungen zur Romantik“, „Wissen und Leben“, Zürich, Frühjahr 1918. ¹⁴⁸⁾ Ebendort. ¹⁴⁹⁾ Die Heiligenlehre setzt sich von Baader und Novalis aus fort bei Schopenhauer und Wagner. Bei Nietzsche und Kassner noch findet sich das Ideal des „Heiligen der Erkenntnis“, das ebenfalls von der Romantik (in ihren indischen Studien) ent- deckt ist. ¹⁵⁰⁾ Dem „Bruder Wolf“ des Franz von Assisi entspricht bei Novalis ein „Schwester Blume“. Heine vergleicht ihn mit dem arabischen Zauberer, der nach Willkür jeden Stein zu be- leben weiss. „Novalis sah überall Wunder und liebliche Wunder: er belauschte das Gespräch der Pflanzen, er wusste das Geheimnis jeder jungen Rose, er identifizierte sich endlich mit der ganzen Natur, und als es Herbst wurde und die Blätter abfielen, da starb er.“ („Die romantische Schule“, S. 72, Hendel, Verlag, Halle.) Vergl. auch Franz von Baader, der auf Novalis stark ein- wirkte: „Sieh die Blume, wie sie sich ihrem Bräutigam, der Sonne, entgegenwendet! Sie sauget Licht, pranget und blühet. Nacht, Finsternisse umgeben sie, sie welkt. Das geht täglich vor unsern Augen vor, nach physischen Gesetzen, wie man sagt. Und sollten im Innern der Dinge, in der Geisterwelt, diese Ge- setze nicht wirken? Ist denn mein Geist so isoliert, abgetrennt, willkürlich, als wir wähnen? Nein, er wendet sich hinauf zum Quell und zu der Sonne aller Wesen, und Licht und Wahrheit und

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/271>, abgerufen am 22.11.2024.