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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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vergessen und begraben werden. Da hat man auch den "ideolo-
gischen Ueberbau", den Marx meinte, und als dessen Basis und
Realität er den gröbsten Materialismus und Fatalismus erkannt
und bezeichnet hat. Alle jene abstrusen dialektischen Prozesse, mit
denen Hegel und Marx in der Geschichte zur Moralität zu gelangen
glaubten, sind nur verzweifelte Versuche, über die ursprüngliche
Immoral und ekelhafte materialistische Begehrlichkeit hinweg-
zutäuschen. Niemand hat tiefer als Erneste Hello (in seinem
grossmütigen Buche "Philosophie et Atheisme", Neuausgabe
Perrin & Co., Paris 1903) den moralischen Nihilismus der Hegel-
schen Philosophie aufgedeckt. "Par cette theorie de l'identite
des contraires, ou Hegel a-t-il ete conduit? Si, en effet, l'affir-
mation et la negation sont identiques, toutes les doctrines
deviennent egales et indifferentes. Hegel proclame l'egalite, l'identite
de l'etre et du neant. Voila l'erreur radicale, fondamentale, immense
de ce siecle-ci; voila la negation mere; voila ce doute absolu,
qui est l'absence meme de philosophie, erige en philosophie
absolue". Und er bezeichnete auch die Wurzel dieser Philosophie
des Nichts: "le grand malheur, le peche originel de la societe
moderne: le protestantisme" (L'Allemagne et le Christianisme,
S. 247-260).
174) Rosenkranz, S. 328.
175) In seiner Heidelberger Rede hatte er ausdrücklich an
das auserwählte Volk der Juden erinnert.
176) Rosenkranz, S. 328, bemerkt indessen, dass Hegel der
"Kant'schen Philosophie, der ursprünglich Preussischen, seine
eigene Philosophie in den wesentlichsten Punkten verdankte",
und das trifft auch zu.
177) Rosenkranz, S. 411.
178) Ebendort, S. 412.
179) Philosophie des Rechts, § 341/342.
180) Erst Schopenhauer und Nietzsche haben Gegensysteme
gegen Hegel aufgestellt, mit denen sie auf der absoluten Un-
vernunft der Geschichte einen neuen (heroischen) Idealismus zu
errichten hofften. Die Ekrasierung Gottes aus dem Weltgetriebe,
die Schopenhauer vornahm, ist eine Ekrasierung der optimistischen
Hegel'schen Voraussetzung einer universalen Vernunft. Die
wahrhafte Theodicee war für Hegel "die Rechtfertigung Gottes
in der Geschichte" (Philosophie der Geschichte). "Nur die Einsicht",
schrieb er, "kann den Geist mit der (preussischen) Weltgeschichte
und der (preussischen) Wirklichkeit versöhnen, dass das, was
geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott,
vergessen und begraben werden. Da hat man auch den „ideolo-
gischen Ueberbau“, den Marx meinte, und als dessen Basis und
Realität er den gröbsten Materialismus und Fatalismus erkannt
und bezeichnet hat. Alle jene abstrusen dialektischen Prozesse, mit
denen Hegel und Marx in der Geschichte zur Moralität zu gelangen
glaubten, sind nur verzweifelte Versuche, über die ursprüngliche
Immoral und ekelhafte materialistische Begehrlichkeit hinweg-
zutäuschen. Niemand hat tiefer als Erneste Hello (in seinem
grossmütigen Buche „Philosophie et Athéisme“, Neuausgabe
Perrin & Co., Paris 1903) den moralischen Nihilismus der Hegel-
schen Philosophie aufgedeckt. „Par cette théorie de l'identité
des contraires, où Hegel a-t-il été conduit? Si, en effet, l'affir-
mation et la négation sont identiques, toutes les doctrines
deviennent égales et indifférentes. Hegel proclame l'égalité, l'identité
de l'être et du néant. Voilà l'erreur radicale, fondamentale, immense
de ce siècle-ci; voilà la négation mère; voilà ce doute absolu,
qui est l'absence même de philosophie, érigé en philosophie
absolue“. Und er bezeichnete auch die Wurzel dieser Philosophie
des Nichts: „le grand malheur, le pêché originel de la société
moderne: le protestantisme“ (L'Allemagne et le Christianisme,
S. 247-260).
174) Rosenkranz, S. 328.
175) In seiner Heidelberger Rede hatte er ausdrücklich an
das auserwählte Volk der Juden erinnert.
176) Rosenkranz, S. 328, bemerkt indessen, dass Hegel der
„Kant'schen Philosophie, der ursprünglich Preussischen, seine
eigene Philosophie in den wesentlichsten Punkten verdankte“,
und das trifft auch zu.
177) Rosenkranz, S. 411.
178) Ebendort, S. 412.
179) Philosophie des Rechts, § 341/342.
180) Erst Schopenhauer und Nietzsche haben Gegensysteme
gegen Hegel aufgestellt, mit denen sie auf der absoluten Un-
vernunft der Geschichte einen neuen (heroischen) Idealismus zu
errichten hofften. Die Ekrasierung Gottes aus dem Weltgetriebe,
die Schopenhauer vornahm, ist eine Ekrasierung der optimistischen
Hegel'schen Voraussetzung einer universalen Vernunft. Die
wahrhafte Theodicee war für Hegel „die Rechtfertigung Gottes
in der Geschichte“ (Philosophie der Geschichte). „Nur die Einsicht“,
schrieb er, „kann den Geist mit der (preussischen) Weltgeschichte
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[268/0276] ¹⁷³⁾ vergessen und begraben werden. Da hat man auch den „ideolo- gischen Ueberbau“, den Marx meinte, und als dessen Basis und Realität er den gröbsten Materialismus und Fatalismus erkannt und bezeichnet hat. Alle jene abstrusen dialektischen Prozesse, mit denen Hegel und Marx in der Geschichte zur Moralität zu gelangen glaubten, sind nur verzweifelte Versuche, über die ursprüngliche Immoral und ekelhafte materialistische Begehrlichkeit hinweg- zutäuschen. Niemand hat tiefer als Erneste Hello (in seinem grossmütigen Buche „Philosophie et Athéisme“, Neuausgabe Perrin & Co., Paris 1903) den moralischen Nihilismus der Hegel- schen Philosophie aufgedeckt. „Par cette théorie de l'identité des contraires, où Hegel a-t-il été conduit? Si, en effet, l'affir- mation et la négation sont identiques, toutes les doctrines deviennent égales et indifférentes. Hegel proclame l'égalité, l'identité de l'être et du néant. Voilà l'erreur radicale, fondamentale, immense de ce siècle-ci; voilà la négation mère; voilà ce doute absolu, qui est l'absence même de philosophie, érigé en philosophie absolue“. Und er bezeichnete auch die Wurzel dieser Philosophie des Nichts: „le grand malheur, le pêché originel de la société moderne: le protestantisme“ (L'Allemagne et le Christianisme, S. 247-260). ¹⁷⁴⁾ Rosenkranz, S. 328. ¹⁷⁵⁾ In seiner Heidelberger Rede hatte er ausdrücklich an das auserwählte Volk der Juden erinnert. ¹⁷⁶⁾ Rosenkranz, S. 328, bemerkt indessen, dass Hegel der „Kant'schen Philosophie, der ursprünglich Preussischen, seine eigene Philosophie in den wesentlichsten Punkten verdankte“, und das trifft auch zu. ¹⁷⁷⁾ Rosenkranz, S. 411. ¹⁷⁸⁾ Ebendort, S. 412. ¹⁷⁹⁾ Philosophie des Rechts, § 341/342. ¹⁸⁰⁾ Erst Schopenhauer und Nietzsche haben Gegensysteme gegen Hegel aufgestellt, mit denen sie auf der absoluten Un- vernunft der Geschichte einen neuen (heroischen) Idealismus zu errichten hofften. Die Ekrasierung Gottes aus dem Weltgetriebe, die Schopenhauer vornahm, ist eine Ekrasierung der optimistischen Hegel'schen Voraussetzung einer universalen Vernunft. Die wahrhafte Theodicee war für Hegel „die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte“ (Philosophie der Geschichte). „Nur die Einsicht“, schrieb er, „kann den Geist mit der (preussischen) Weltgeschichte und der (preussischen) Wirklichkeit versöhnen, dass das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott,

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/276>, abgerufen am 22.11.2024.