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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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Gott geköpft, wie Heine voreilig meinte 10), wohl aber den
Pietismus. Er verwies die Mystifikation aus dem Reich der
Vernunft, und wenn einer seiner frühesten Biographen 11) auch meint, Kant habe die jungen Theologen gelehrt, der
"falschen, windigen, viel prahlenden und nichts fruchtenden
Aufklärung" auszuweichen 12), (indem er jene Trennung
zwischen Jenseits und Diesseits in der Metaphysik vornahm),
so blieb das doch ein Irrtum. Gleichwohl war Kant auch
nicht der Scharfrichter, den Heine hinter ihm vermutete.
Seine Strenge traf mehr die Methode als ihren Gegenstand.
Er verflüchtigte Gott zur Idee, und Atheisten wie Hegel,
Schopenhauer und Nietzsche konnten sich ebenso gut auf
ihn berufen, wie die Theologie, die Kant in der "Kritik
der reinen Vernunft" erst entthronte, in der "Kritik der
praktischen Vernunft" aber nach ihrer Degradierung und
Scheidung von den Wissenschaften wieder einsetzte.

Die Auffassung Borowskys, der zu den ältesten akade-
mischen Schülern Kants gehörte, beweist immerhin die
Vieldeutigkeit sogar unserer anerkanntesten Philosophie. Man
würde die deutsche Philosophie in ihren Vorzügen und
Schwächen ganz falsch bewerten, wollte man nicht beachten,
aus welchen politischen Zuständen sie geboren ist. Wenn
Fichte noch 1799 schreiben konnte 13): "Vom Departement
der Wissenschaften zu Dresden ist bekannt gemacht worden,
dass keiner, der sich auf die neue Philosophie lege, befördert
werde, oder, wenn er es schon ist, weiterrücken solle. In
der Freischule zu Leipzig ist sogar die Rosenmüller'sche
Aufklärung bedenklich gefunden; Luthers Katechismus ist
neuerlich dort wieder eingeführt, und die Lehrer sind von
neuem auf die symbolischen Bücher konfirmiert worden.
Das wird weitergehen und sich verbreiten", -- wie mag
es dann erst unter den preussischen Soldatenkönigen mit
der Lehrfreiheit bestellt gewesen sein? In Preussen, von
dem Winckelmann 1763 schrieb: "Es schauert mich die
Haut vom Wirbel bis zur Zehe, wenn ich an den preussi-

Gott geköpft, wie Heine voreilig meinte 10), wohl aber den
Pietismus. Er verwies die Mystifikation aus dem Reich der
Vernunft, und wenn einer seiner frühesten Biographen 11) auch meint, Kant habe die jungen Theologen gelehrt, der
„falschen, windigen, viel prahlenden und nichts fruchtenden
Aufklärung“ auszuweichen 12), (indem er jene Trennung
zwischen Jenseits und Diesseits in der Metaphysik vornahm),
so blieb das doch ein Irrtum. Gleichwohl war Kant auch
nicht der Scharfrichter, den Heine hinter ihm vermutete.
Seine Strenge traf mehr die Methode als ihren Gegenstand.
Er verflüchtigte Gott zur Idee, und Atheisten wie Hegel,
Schopenhauer und Nietzsche konnten sich ebenso gut auf
ihn berufen, wie die Theologie, die Kant in der „Kritik
der reinen Vernunft“ erst entthronte, in der „Kritik der
praktischen Vernunft“ aber nach ihrer Degradierung und
Scheidung von den Wissenschaften wieder einsetzte.

Die Auffassung Borowskys, der zu den ältesten akade-
mischen Schülern Kants gehörte, beweist immerhin die
Vieldeutigkeit sogar unserer anerkanntesten Philosophie. Man
würde die deutsche Philosophie in ihren Vorzügen und
Schwächen ganz falsch bewerten, wollte man nicht beachten,
aus welchen politischen Zuständen sie geboren ist. Wenn
Fichte noch 1799 schreiben konnte 13): „Vom Departement
der Wissenschaften zu Dresden ist bekannt gemacht worden,
dass keiner, der sich auf die neue Philosophie lege, befördert
werde, oder, wenn er es schon ist, weiterrücken solle. In
der Freischule zu Leipzig ist sogar die Rosenmüller'sche
Aufklärung bedenklich gefunden; Luthers Katechismus ist
neuerlich dort wieder eingeführt, und die Lehrer sind von
neuem auf die symbolischen Bücher konfirmiert worden.
Das wird weitergehen und sich verbreiten“, — wie mag
es dann erst unter den preussischen Soldatenkönigen mit
der Lehrfreiheit bestellt gewesen sein? In Preussen, von
dem Winckelmann 1763 schrieb: „Es schauert mich die
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[55/0063] Gott geköpft, wie Heine voreilig meinte ¹⁰⁾ , wohl aber den Pietismus. Er verwies die Mystifikation aus dem Reich der Vernunft, und wenn einer seiner frühesten Biographen ¹¹⁾ auch meint, Kant habe die jungen Theologen gelehrt, der „falschen, windigen, viel prahlenden und nichts fruchtenden Aufklärung“ auszuweichen ¹²⁾ , (indem er jene Trennung zwischen Jenseits und Diesseits in der Metaphysik vornahm), so blieb das doch ein Irrtum. Gleichwohl war Kant auch nicht der Scharfrichter, den Heine hinter ihm vermutete. Seine Strenge traf mehr die Methode als ihren Gegenstand. Er verflüchtigte Gott zur Idee, und Atheisten wie Hegel, Schopenhauer und Nietzsche konnten sich ebenso gut auf ihn berufen, wie die Theologie, die Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ erst entthronte, in der „Kritik der praktischen Vernunft“ aber nach ihrer Degradierung und Scheidung von den Wissenschaften wieder einsetzte. Die Auffassung Borowskys, der zu den ältesten akade- mischen Schülern Kants gehörte, beweist immerhin die Vieldeutigkeit sogar unserer anerkanntesten Philosophie. Man würde die deutsche Philosophie in ihren Vorzügen und Schwächen ganz falsch bewerten, wollte man nicht beachten, aus welchen politischen Zuständen sie geboren ist. Wenn Fichte noch 1799 schreiben konnte ¹³⁾ : „Vom Departement der Wissenschaften zu Dresden ist bekannt gemacht worden, dass keiner, der sich auf die neue Philosophie lege, befördert werde, oder, wenn er es schon ist, weiterrücken solle. In der Freischule zu Leipzig ist sogar die Rosenmüller'sche Aufklärung bedenklich gefunden; Luthers Katechismus ist neuerlich dort wieder eingeführt, und die Lehrer sind von neuem auf die symbolischen Bücher konfirmiert worden. Das wird weitergehen und sich verbreiten“, — wie mag es dann erst unter den preussischen Soldatenkönigen mit der Lehrfreiheit bestellt gewesen sein? In Preussen, von dem Winckelmann 1763 schrieb: „Es schauert mich die Haut vom Wirbel bis zur Zehe, wenn ich an den preussi-

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/63>, abgerufen am 17.05.2024.