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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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Enthält sie nicht eine kategorische Warnung an alle Unter-
tanen? Ist sie nicht eine Maxime der Zwangserziehung?
Was hat die preussische Gesetzgebung mit der Bergpredigt
gemein? Birgt sich hinter der Kant'schen Moralmaxime nicht
ebenso Friedrich Wilhelms Knutenregiment wie Friedrichs
Pflichtideal im kategorischen Imperativ? Noch heute steht
unsere ganze Gesetzgebung im Widerspruch mit der ur-
sprünglichen christlichen Sittenlehre. Damals aber? Was
verstand man in Preussen unter christlicher Sittenlehre,
wenn nicht den strengsten Staatslutheranismus? Jener Im-
manuel Kant aber, der so wenig Bonhommie zeigte, dass
er sich eine andere Wohnung suchte, als seines Nachbars
allzu laut krähender Hahn sich nicht beschwichtigen liess16);
jener Kant, der so unnachsichtlich zur Polizei ging, um
auf Abstellung des Singens im Gefängnis zu dringen, weil
es ihn bei der Arbeit an seinen Moralgesetzen störte 17),
-- er wollte seine Maximen nicht nur zum allgemeinen
Gesetz, sondern sogar zum allgemeinen Naturgesetz erhoben
wissen18)! So zeigen sich auch persönlich bei ihm Züge
von Despotismus, und das Ausdenken allgemein verbindlicher
Sätze, wenn es von einem hagestolzen und vereinsamten
Manne kommt, kann wohl gar zu nichts anderem führen 19).

Es ist nicht erforderlich, hier auf die gefährliche
Separation einzugehen, die Kant zwischen Intellekt und
Moral, zwischen geistiger Persönlichkeit und sozialem Wirken
statuierte, indem er das Einheitsgewissen zersprengte und
jene beiden von einander untrennbaren Gewissenskräfte,
Verstand und Gefühl gesondert abzuleiten versuchte. Kein
Geringerer als der Kardinal Mercier hat in einer langjährigen
Aktion, und neuerdings in einem hervorragenden Buche,
das die hohe religiöse Lehre des Thomas von Aquin zu
neuen Triumphen führt, den Kantianismus als das nach-
gewiesen, was er ist, als eine Doktrin, die die Grundlagen
der moralischen Ordnung kompromittierte 20). Im Geiste
unseres grossen Franz von Baader bestätigte er die innerste

Enthält sie nicht eine kategorische Warnung an alle Unter-
tanen? Ist sie nicht eine Maxime der Zwangserziehung?
Was hat die preussische Gesetzgebung mit der Bergpredigt
gemein? Birgt sich hinter der Kant'schen Moralmaxime nicht
ebenso Friedrich Wilhelms Knutenregiment wie Friedrichs
Pflichtideal im kategorischen Imperativ? Noch heute steht
unsere ganze Gesetzgebung im Widerspruch mit der ur-
sprünglichen christlichen Sittenlehre. Damals aber? Was
verstand man in Preussen unter christlicher Sittenlehre,
wenn nicht den strengsten Staatslutheranismus? Jener Im-
manuel Kant aber, der so wenig Bonhommie zeigte, dass
er sich eine andere Wohnung suchte, als seines Nachbars
allzu laut krähender Hahn sich nicht beschwichtigen liess16);
jener Kant, der so unnachsichtlich zur Polizei ging, um
auf Abstellung des Singens im Gefängnis zu dringen, weil
es ihn bei der Arbeit an seinen Moralgesetzen störte 17),
— er wollte seine Maximen nicht nur zum allgemeinen
Gesetz, sondern sogar zum allgemeinen Naturgesetz erhoben
wissen18)! So zeigen sich auch persönlich bei ihm Züge
von Despotismus, und das Ausdenken allgemein verbindlicher
Sätze, wenn es von einem hagestolzen und vereinsamten
Manne kommt, kann wohl gar zu nichts anderem führen 19).

Es ist nicht erforderlich, hier auf die gefährliche
Separation einzugehen, die Kant zwischen Intellekt und
Moral, zwischen geistiger Persönlichkeit und sozialem Wirken
statuierte, indem er das Einheitsgewissen zersprengte und
jene beiden von einander untrennbaren Gewissenskräfte,
Verstand und Gefühl gesondert abzuleiten versuchte. Kein
Geringerer als der Kardinal Mercier hat in einer langjährigen
Aktion, und neuerdings in einem hervorragenden Buche,
das die hohe religiöse Lehre des Thomas von Aquin zu
neuen Triumphen führt, den Kantianismus als das nach-
gewiesen, was er ist, als eine Doktrin, die die Grundlagen
der moralischen Ordnung kompromittierte 20). Im Geiste
unseres grossen Franz von Baader bestätigte er die innerste

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[57/0065] Enthält sie nicht eine kategorische Warnung an alle Unter- tanen? Ist sie nicht eine Maxime der Zwangserziehung? Was hat die preussische Gesetzgebung mit der Bergpredigt gemein? Birgt sich hinter der Kant'schen Moralmaxime nicht ebenso Friedrich Wilhelms Knutenregiment wie Friedrichs Pflichtideal im kategorischen Imperativ? Noch heute steht unsere ganze Gesetzgebung im Widerspruch mit der ur- sprünglichen christlichen Sittenlehre. Damals aber? Was verstand man in Preussen unter christlicher Sittenlehre, wenn nicht den strengsten Staatslutheranismus? Jener Im- manuel Kant aber, der so wenig Bonhommie zeigte, dass er sich eine andere Wohnung suchte, als seines Nachbars allzu laut krähender Hahn sich nicht beschwichtigen liess ¹⁶⁾ ; jener Kant, der so unnachsichtlich zur Polizei ging, um auf Abstellung des Singens im Gefängnis zu dringen, weil es ihn bei der Arbeit an seinen Moralgesetzen störte ¹⁷⁾ , — er wollte seine Maximen nicht nur zum allgemeinen Gesetz, sondern sogar zum allgemeinen Naturgesetz erhoben wissen ¹⁸⁾ ! So zeigen sich auch persönlich bei ihm Züge von Despotismus, und das Ausdenken allgemein verbindlicher Sätze, wenn es von einem hagestolzen und vereinsamten Manne kommt, kann wohl gar zu nichts anderem führen ¹⁹⁾ . Es ist nicht erforderlich, hier auf die gefährliche Separation einzugehen, die Kant zwischen Intellekt und Moral, zwischen geistiger Persönlichkeit und sozialem Wirken statuierte, indem er das Einheitsgewissen zersprengte und jene beiden von einander untrennbaren Gewissenskräfte, Verstand und Gefühl gesondert abzuleiten versuchte. Kein Geringerer als der Kardinal Mercier hat in einer langjährigen Aktion, und neuerdings in einem hervorragenden Buche, das die hohe religiöse Lehre des Thomas von Aquin zu neuen Triumphen führt, den Kantianismus als das nach- gewiesen, was er ist, als eine Doktrin, die die Grundlagen der moralischen Ordnung kompromittierte ²⁰⁾ . Im Geiste unseres grossen Franz von Baader bestätigte er die innerste

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/65>, abgerufen am 30.11.2024.