kritik? Oder ist man moralisch, wenn man den Leitzordner handhabt? Die moralische Weltordnung Fichtes ist ein germanisch-professoraler Leitzordner "Universum" mit meta- physischen Wänden. Hat man ihn einmal erfunden, so ist alle Moral (die von oben kommt) fertig. "Freiheit ist des Zwanges Zweck". Klappe auf, klappe zu, dialektischer Schwindel. Sansculotten und Bolschewiken, Robespierres, Marats und Lenins sind störend und fernzuhalten.
Fichte wurde der Grossahne Chamberlains als einer der Eifrigsten, die sich um Exaltierung des "deutschen Gedankens" bemühten. Ach, dass er die Freiheit verwechselte mit der erlaubten, der "intelligiblen" Freiheit auf Widerruf und auf Kündigung! "Alle, die entweder selbst schöpferisch und hervorbringend das Neue leben oder die, falls ihnen dies nicht zuteil geworden wäre, das Nichtige wenigstens ent- schieden fallen lassen und aufmerkend dastehen, ob irgendwo der Fluss ursprünglichen Lebens sie ergreifen werde, oder die, falls sie auch nicht so weit wären, die Freiheit wenigstens ahnen und sie nicht hassen oder vor ihr erschrecken, sondern sie lieben: alle diese sind ursprüngliche Menschen, sie sind, wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk schlechtweg, Deutsche" 60). Eine schlichte Formel geistiger Annexion! Und doch hatte gerade Fichte einmal (1799) Veranlassung gehabt, Worte zu schreiben, die heute wieder sehr aktuell geworden sind: "Es ist nichts gewisser als das Gewisseste: dass, wenn nicht die Franzosen die un- geheuerste Uebermacht erringen und in Deutschland, wenigs- tens einem beträchtlichen Teile desselben, eine Veränderung durchsetzen, in einigen Jahren in Deutschland kein Mensch mehr, der dafür bekannt ist, in seinem Leben einen freien Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden wird" 61). Wie stellte sich Fichte die Freiheit vor? Trotz seiner Erfahrungen von 1799 empfahl er nach der Niederlage von Jena, die Jugend dem Staate anzuvertrauen, und dem Staate empfahl er, nach Pestalozzis Methode pestalozzianische
kritik? Oder ist man moralisch, wenn man den Leitzordner handhabt? Die moralische Weltordnung Fichtes ist ein germanisch-professoraler Leitzordner „Universum“ mit meta- physischen Wänden. Hat man ihn einmal erfunden, so ist alle Moral (die von oben kommt) fertig. „Freiheit ist des Zwanges Zweck“. Klappe auf, klappe zu, dialektischer Schwindel. Sansculotten und Bolschewiken, Robespierres, Marats und Lenins sind störend und fernzuhalten.
Fichte wurde der Grossahne Chamberlains als einer der Eifrigsten, die sich um Exaltierung des „deutschen Gedankens“ bemühten. Ach, dass er die Freiheit verwechselte mit der erlaubten, der „intelligiblen“ Freiheit auf Widerruf und auf Kündigung! „Alle, die entweder selbst schöpferisch und hervorbringend das Neue leben oder die, falls ihnen dies nicht zuteil geworden wäre, das Nichtige wenigstens ent- schieden fallen lassen und aufmerkend dastehen, ob irgendwo der Fluss ursprünglichen Lebens sie ergreifen werde, oder die, falls sie auch nicht so weit wären, die Freiheit wenigstens ahnen und sie nicht hassen oder vor ihr erschrecken, sondern sie lieben: alle diese sind ursprüngliche Menschen, sie sind, wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk schlechtweg, Deutsche“ 60). Eine schlichte Formel geistiger Annexion! Und doch hatte gerade Fichte einmal (1799) Veranlassung gehabt, Worte zu schreiben, die heute wieder sehr aktuell geworden sind: „Es ist nichts gewisser als das Gewisseste: dass, wenn nicht die Franzosen die un- geheuerste Uebermacht erringen und in Deutschland, wenigs- tens einem beträchtlichen Teile desselben, eine Veränderung durchsetzen, in einigen Jahren in Deutschland kein Mensch mehr, der dafür bekannt ist, in seinem Leben einen freien Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden wird“ 61). Wie stellte sich Fichte die Freiheit vor? Trotz seiner Erfahrungen von 1799 empfahl er nach der Niederlage von Jena, die Jugend dem Staate anzuvertrauen, und dem Staate empfahl er, nach Pestalozzis Methode pestalozzianische
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0082"n="74"/>
kritik? Oder ist man moralisch, wenn man den Leitzordner<lb/>
handhabt? Die moralische Weltordnung Fichtes ist ein<lb/>
germanisch-professoraler Leitzordner „Universum“ mit meta-<lb/>
physischen Wänden. Hat man ihn einmal erfunden, so ist<lb/>
alle Moral (die von oben kommt) fertig. „Freiheit ist des<lb/>
Zwanges Zweck“. Klappe auf, klappe zu, dialektischer<lb/>
Schwindel. Sansculotten und Bolschewiken, Robespierres,<lb/>
Marats und Lenins sind störend und fernzuhalten.</p><lb/><p>Fichte wurde der Grossahne Chamberlains als einer der<lb/>
Eifrigsten, die sich um Exaltierung des „deutschen Gedankens“<lb/>
bemühten. Ach, dass er die Freiheit verwechselte mit der<lb/>
erlaubten, der „intelligiblen“ Freiheit auf Widerruf und auf<lb/>
Kündigung! „Alle, die entweder selbst schöpferisch und<lb/>
hervorbringend das Neue leben oder die, falls ihnen dies<lb/>
nicht zuteil geworden wäre, das Nichtige wenigstens ent-<lb/>
schieden fallen lassen und aufmerkend dastehen, ob irgendwo<lb/>
der Fluss ursprünglichen Lebens sie ergreifen werde, oder<lb/>
die, falls sie auch nicht so weit wären, die Freiheit wenigstens<lb/>
ahnen und sie nicht hassen oder vor ihr erschrecken, sondern<lb/>
sie lieben: alle diese sind ursprüngliche Menschen, sie sind,<lb/>
wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk<lb/>
schlechtweg, Deutsche“<notexml:id="id60b"next="id60b60b"place="end"n="60)"/>. Eine schlichte Formel geistiger<lb/>
Annexion! Und doch hatte gerade Fichte einmal (1799)<lb/>
Veranlassung gehabt, Worte zu schreiben, die heute wieder<lb/>
sehr aktuell geworden sind: „Es ist nichts gewisser als<lb/>
das Gewisseste: dass, wenn nicht die Franzosen die un-<lb/>
geheuerste Uebermacht erringen und in Deutschland, wenigs-<lb/>
tens einem beträchtlichen Teile desselben, eine Veränderung<lb/>
durchsetzen, in einigen Jahren in Deutschland kein Mensch<lb/>
mehr, der dafür bekannt ist, in seinem Leben einen freien<lb/>
Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden wird“<notexml:id="id61b"next="id61b61b"place="end"n="61)"/>.<lb/>
Wie stellte sich Fichte die Freiheit vor? Trotz seiner<lb/>
Erfahrungen von 1799 empfahl er nach der Niederlage<lb/>
von Jena, die Jugend dem Staate anzuvertrauen, und dem<lb/>
Staate empfahl er, nach Pestalozzis Methode pestalozzianische<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[74/0082]
kritik? Oder ist man moralisch, wenn man den Leitzordner
handhabt? Die moralische Weltordnung Fichtes ist ein
germanisch-professoraler Leitzordner „Universum“ mit meta-
physischen Wänden. Hat man ihn einmal erfunden, so ist
alle Moral (die von oben kommt) fertig. „Freiheit ist des
Zwanges Zweck“. Klappe auf, klappe zu, dialektischer
Schwindel. Sansculotten und Bolschewiken, Robespierres,
Marats und Lenins sind störend und fernzuhalten.
Fichte wurde der Grossahne Chamberlains als einer der
Eifrigsten, die sich um Exaltierung des „deutschen Gedankens“
bemühten. Ach, dass er die Freiheit verwechselte mit der
erlaubten, der „intelligiblen“ Freiheit auf Widerruf und auf
Kündigung! „Alle, die entweder selbst schöpferisch und
hervorbringend das Neue leben oder die, falls ihnen dies
nicht zuteil geworden wäre, das Nichtige wenigstens ent-
schieden fallen lassen und aufmerkend dastehen, ob irgendwo
der Fluss ursprünglichen Lebens sie ergreifen werde, oder
die, falls sie auch nicht so weit wären, die Freiheit wenigstens
ahnen und sie nicht hassen oder vor ihr erschrecken, sondern
sie lieben: alle diese sind ursprüngliche Menschen, sie sind,
wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk
schlechtweg, Deutsche“
⁶⁰⁾
. Eine schlichte Formel geistiger
Annexion! Und doch hatte gerade Fichte einmal (1799)
Veranlassung gehabt, Worte zu schreiben, die heute wieder
sehr aktuell geworden sind: „Es ist nichts gewisser als
das Gewisseste: dass, wenn nicht die Franzosen die un-
geheuerste Uebermacht erringen und in Deutschland, wenigs-
tens einem beträchtlichen Teile desselben, eine Veränderung
durchsetzen, in einigen Jahren in Deutschland kein Mensch
mehr, der dafür bekannt ist, in seinem Leben einen freien
Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden wird“
⁶¹⁾
.
Wie stellte sich Fichte die Freiheit vor? Trotz seiner
Erfahrungen von 1799 empfahl er nach der Niederlage
von Jena, die Jugend dem Staate anzuvertrauen, und dem
Staate empfahl er, nach Pestalozzis Methode pestalozzianische
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/82>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.