Rousseau: der Gesetzgeber der neuen Moral. Goethe lebte nach seinen Maximen; die Literatur halb Europas von seinem Ruhm. Der "Contrat social" wurde die Bergpredigt ver- jüngter Völker. Korsen und Polen erbaten sich Verfassungen von ihm. Die Revolution aber machte die Probe aufs Exempel; die Revolution, dieser Brennpunkt aller Geistesgegenwart eines Volkes. Wo ist Charakter? Wo jeder sagt, was er denkt, und der Augenblick über das Wort entscheidet.
Einen ungeheuren Verbrauch von Philosophien zeigt der französische Volksaufstand. Kritik des Systems und aller Systeme, lautet die Losung. Die Ideologien, von denen Na- poleon sprach, als er nach Deutschland kam, und die gotischen Vorurteile, von denen er sprach, als er im Marcolini-Palais scheiternd vor Metternich stand, diese Vorurteile und Ideo- logien hat die französische Revolution zerstört. Von nun an interessierte nicht mehr die Prätention, sondern das Herz, das dahinter schlug. Scheingrössen verschwanden.
Die Verfassung von 1793 setzte die Herrschaft der Menge fest. Die Masse ist Quell der Gewalt und auch Quell ihrer Ausübung. "Je mehr der Staatskörper schwitzt", ruft Collot-Herbois, "desto gesünder wird er". Der Staatskörper schwitzte aber Blut, nicht Limonade. Männer wie Danton: ihre Partei ging ihnen über Rücksicht, Gesetz, über Mensch- lichkeit. Um der Sache des Menschen willen. Die Gedanken wurden locker, die Köpfe sassen nicht fest mehr zwischen den Schultern. Von Saint-Just höhnte Desmoulins, dass er seinen Kopf "wie das heilige Sakrament mit Ehrfurcht auf seinen Schultern trage". Man hat die Guillotinagen der Re- volution verflucht, aber man hat darüber die Feste des Genies und der Tugend vergessen und jenes berauschte Wort Robespierres: "Volk, überlassen wir uns heute dem Entzücken einer reinen Freude! Morgen bekämpfen wir aufs neue die Laster und die Tyrannen".
"Eine Revolution ist die Wirkung der verschiedenen Systeme, die das Jahrhundert, in dem sie entstanden ist, in
Rousseau: der Gesetzgeber der neuen Moral. Goethe lebte nach seinen Maximen; die Literatur halb Europas von seinem Ruhm. Der „Contrat social“ wurde die Bergpredigt ver- jüngter Völker. Korsen und Polen erbaten sich Verfassungen von ihm. Die Revolution aber machte die Probe aufs Exempel; die Revolution, dieser Brennpunkt aller Geistesgegenwart eines Volkes. Wo ist Charakter? Wo jeder sagt, was er denkt, und der Augenblick über das Wort entscheidet.
Einen ungeheuren Verbrauch von Philosophien zeigt der französische Volksaufstand. Kritik des Systems und aller Systeme, lautet die Losung. Die Ideologien, von denen Na- poleon sprach, als er nach Deutschland kam, und die gotischen Vorurteile, von denen er sprach, als er im Marcolini-Palais scheiternd vor Metternich stand, diese Vorurteile und Ideo- logien hat die französische Revolution zerstört. Von nun an interessierte nicht mehr die Prätention, sondern das Herz, das dahinter schlug. Scheingrössen verschwanden.
Die Verfassung von 1793 setzte die Herrschaft der Menge fest. Die Masse ist Quell der Gewalt und auch Quell ihrer Ausübung. „Je mehr der Staatskörper schwitzt“, ruft Collot-Herbois, „desto gesünder wird er“. Der Staatskörper schwitzte aber Blut, nicht Limonade. Männer wie Danton: ihre Partei ging ihnen über Rücksicht, Gesetz, über Mensch- lichkeit. Um der Sache des Menschen willen. Die Gedanken wurden locker, die Köpfe sassen nicht fest mehr zwischen den Schultern. Von Saint-Just höhnte Desmoulins, dass er seinen Kopf „wie das heilige Sakrament mit Ehrfurcht auf seinen Schultern trage“. Man hat die Guillotinagen der Re- volution verflucht, aber man hat darüber die Feste des Genies und der Tugend vergessen und jenes berauschte Wort Robespierres: „Volk, überlassen wir uns heute dem Entzücken einer reinen Freude! Morgen bekämpfen wir aufs neue die Laster und die Tyrannen“.
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Rousseau: der Gesetzgeber der neuen Moral. Goethe lebte
nach seinen Maximen; die Literatur halb Europas von seinem
Ruhm. Der „Contrat social“ wurde die Bergpredigt ver-
jüngter Völker. Korsen und Polen erbaten sich Verfassungen
von ihm. Die Revolution aber machte die Probe aufs Exempel;
die Revolution, dieser Brennpunkt aller Geistesgegenwart
eines Volkes. Wo ist Charakter? Wo jeder sagt, was er
denkt, und der Augenblick über das Wort entscheidet.
Einen ungeheuren Verbrauch von Philosophien zeigt
der französische Volksaufstand. Kritik des Systems und aller
Systeme, lautet die Losung. Die Ideologien, von denen Na-
poleon sprach, als er nach Deutschland kam, und die gotischen
Vorurteile, von denen er sprach, als er im Marcolini-Palais
scheiternd vor Metternich stand, diese Vorurteile und Ideo-
logien hat die französische Revolution zerstört. Von nun
an interessierte nicht mehr die Prätention, sondern das
Herz, das dahinter schlug. Scheingrössen verschwanden.
Die Verfassung von 1793 setzte die Herrschaft der
Menge fest. Die Masse ist Quell der Gewalt und auch Quell
ihrer Ausübung. „Je mehr der Staatskörper schwitzt“, ruft
Collot-Herbois, „desto gesünder wird er“. Der Staatskörper
schwitzte aber Blut, nicht Limonade. Männer wie Danton:
ihre Partei ging ihnen über Rücksicht, Gesetz, über Mensch-
lichkeit. Um der Sache des Menschen willen. Die Gedanken
wurden locker, die Köpfe sassen nicht fest mehr zwischen
den Schultern. Von Saint-Just höhnte Desmoulins, dass er
seinen Kopf „wie das heilige Sakrament mit Ehrfurcht auf
seinen Schultern trage“. Man hat die Guillotinagen der Re-
volution verflucht, aber man hat darüber die Feste des
Genies und der Tugend vergessen und jenes berauschte Wort
Robespierres: „Volk, überlassen wir uns heute dem Entzücken
einer reinen Freude! Morgen bekämpfen wir aufs neue die
Laster und die Tyrannen“.
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/86>, abgerufen am 28.11.2024.
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