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Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881.

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"Ueber die Natur philosophiren, heisst die Natur schaffen"
(sagt Schelling), d. h. indem wir über das Geschaffen philo-
sophiren, lernen wir es kennen*). Und zunächst zwar berührt
uns das von menschlicher Natur Geschaffene in dem Reflex
des Makrokosmus aus seinem Mikrokosmus, wogegen der
Makrokosmus der grossen Natur, unter der Zerstückelung
der aus ihm im eigenen Mikrokosmus reflectirten Strahlen,
nicht abgeschlossen verstanden werden kann (bei den Be-
ziehungen mit von noch unübersehbarem Universum), sondern
nur in vorläufigen Feststellungen von Einzelnheiten, soweit
sie zu beherrschen.

"Begriff, Urtheil und Schluss sind die Elementarformen,
in welchen sich das Denken weiss und das Wissen beweist"
(nach Biedermann), aber das Wissen geht auf das Verständ-
niss des Geschaffenen selbst, wofür der logische Weg nur
den Eintritt öffnet, wie in der Botanik das practisch Be-
deutungsvolle die verwerthbaren Früchte oder Blumen selbst
sind, obwohl uns zur richtigen Pflege derselben die Kennt-
niss der Vorgänge im Wachsthum helfen werden (wenigstens
zur Verbesserung), während die Keimanlagen an sich schon
aus dem Urgrund der Natur hervortreiben.

Nach Aristoteles würde es sich der Mühe nicht lohnen,
mit denjenigen sich zu beschäftigen, die in mythischer Form
philosophiren (gleichsam in Comte's, "etat theologique ou
fictif"), und in den lege artis zusammengefügten Structuren
speculativ verfeinerter Schulwissenschaft dürfen sich so rohe
Gebilde anfangs nicht zwischenfügen. Dem mythischen Ur-
grund stehen sie aber trotz dessen (oder vielleicht gerade
wegen dessen) um so näher, und da sich in jedem als existi-
rend, damit dann auch seine Existenzfähigkeit**) beweisenden

*) Das Bewusstsein hat keinen Inhalt, der nicht es selbst wäre, und vom
Inhalt giebt es kein Bewusstsein, das nicht er selbst wäre (s. Bergmann).
**) Comme rien ne peut exister, s'il ne reunit les conditions, qui
rendent sa existence possible, les differentes parties de chaque etre doivent
etre coordonnees de maniere a rendre possible l'etre total (s. Cuvier).

„Ueber die Natur philosophiren, heisst die Natur schaffen“
(sagt Schelling), d. h. indem wir über das Geschaffen philo-
sophiren, lernen wir es kennen*). Und zunächst zwar berührt
uns das von menschlicher Natur Geschaffene in dem Reflex
des Makrokosmus aus seinem Mikrokosmus, wogegen der
Makrokosmus der grossen Natur, unter der Zerstückelung
der aus ihm im eigenen Mikrokosmus reflectirten Strahlen,
nicht abgeschlossen verstanden werden kann (bei den Be-
ziehungen mit von noch unübersehbarem Universum), sondern
nur in vorläufigen Feststellungen von Einzelnheiten, soweit
sie zu beherrschen.

„Begriff, Urtheil und Schluss sind die Elementarformen,
in welchen sich das Denken weiss und das Wissen beweist“
(nach Biedermann), aber das Wissen geht auf das Verständ-
niss des Geschaffenen selbst, wofür der logische Weg nur
den Eintritt öffnet, wie in der Botanik das practisch Be-
deutungsvolle die verwerthbaren Früchte oder Blumen selbst
sind, obwohl uns zur richtigen Pflege derselben die Kennt-
niss der Vorgänge im Wachsthum helfen werden (wenigstens
zur Verbesserung), während die Keimanlagen an sich schon
aus dem Urgrund der Natur hervortreiben.

Nach Aristoteles würde es sich der Mühe nicht lohnen,
mit denjenigen sich zu beschäftigen, die in mythischer Form
philosophiren (gleichsam in Comté’s, „état théologique ou
fictif“), und in den lege artis zusammengefügten Structuren
speculativ verfeinerter Schulwissenschaft dürfen sich so rohe
Gebilde anfangs nicht zwischenfügen. Dem mythischen Ur-
grund stehen sie aber trotz dessen (oder vielleicht gerade
wegen dessen) um so näher, und da sich in jedem als existi-
rend, damit dann auch seine Existenzfähigkeit**) beweisenden

*) Das Bewusstsein hat keinen Inhalt, der nicht es selbst wäre, und vom
Inhalt giebt es kein Bewusstsein, das nicht er selbst wäre (s. Bergmann).
**) Comme rien ne peut exister, s’il ne reunit les conditions, qui
rendent sa existence possible, les différentes parties de chaque être doivent
être coordonnées de manière à rendre possible l’être total (s. Cuvier).
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[77/0111] „Ueber die Natur philosophiren, heisst die Natur schaffen“ (sagt Schelling), d. h. indem wir über das Geschaffen philo- sophiren, lernen wir es kennen *). Und zunächst zwar berührt uns das von menschlicher Natur Geschaffene in dem Reflex des Makrokosmus aus seinem Mikrokosmus, wogegen der Makrokosmus der grossen Natur, unter der Zerstückelung der aus ihm im eigenen Mikrokosmus reflectirten Strahlen, nicht abgeschlossen verstanden werden kann (bei den Be- ziehungen mit von noch unübersehbarem Universum), sondern nur in vorläufigen Feststellungen von Einzelnheiten, soweit sie zu beherrschen. „Begriff, Urtheil und Schluss sind die Elementarformen, in welchen sich das Denken weiss und das Wissen beweist“ (nach Biedermann), aber das Wissen geht auf das Verständ- niss des Geschaffenen selbst, wofür der logische Weg nur den Eintritt öffnet, wie in der Botanik das practisch Be- deutungsvolle die verwerthbaren Früchte oder Blumen selbst sind, obwohl uns zur richtigen Pflege derselben die Kennt- niss der Vorgänge im Wachsthum helfen werden (wenigstens zur Verbesserung), während die Keimanlagen an sich schon aus dem Urgrund der Natur hervortreiben. Nach Aristoteles würde es sich der Mühe nicht lohnen, mit denjenigen sich zu beschäftigen, die in mythischer Form philosophiren (gleichsam in Comté’s, „état théologique ou fictif“), und in den lege artis zusammengefügten Structuren speculativ verfeinerter Schulwissenschaft dürfen sich so rohe Gebilde anfangs nicht zwischenfügen. Dem mythischen Ur- grund stehen sie aber trotz dessen (oder vielleicht gerade wegen dessen) um so näher, und da sich in jedem als existi- rend, damit dann auch seine Existenzfähigkeit **) beweisenden *) Das Bewusstsein hat keinen Inhalt, der nicht es selbst wäre, und vom Inhalt giebt es kein Bewusstsein, das nicht er selbst wäre (s. Bergmann). **) Comme rien ne peut exister, s’il ne reunit les conditions, qui rendent sa existence possible, les différentes parties de chaque être doivent être coordonnées de manière à rendre possible l’être total (s. Cuvier).

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Zitationshilfe: Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bastian_voelkergedanke_1881/111>, abgerufen am 24.11.2024.