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Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881.

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zu solch' schreienden Widersprüchen, dass sich nur im
Bruch gewaltsamer Revolutionen ein neues Gleichgewicht
herstellen lässt. Es ergiebt sich deshalb die Aufgabe, hier
eine feine Fühlung zu erhalten, besonders in der Jurispru-
denz, welche dies zunächst in den "fictiones legis" zu erreichen
sucht, wodurch die Gesellschaft "escaped from their swadd-
ling clothes" (s. Maine), während sich später dann im Rück-
greifen auf das Naturrecht der Grundsatz der Billigkeit bot
(the very conception of a set of principles invested with a
higher sacredness, than those of the original law), und
schliesslich tritt, bei volksthümlicher Staatsverfassung, die
bewusste Gesetzgebung in ihre Rechte.

So, wenn im religiösen System die Orthodoxie stark
genug bleibt, die steten Erschütterungen aus heterodox
ketzerischen Secte machtlos niederzuschlagen, wenn sie die
ununterbrochen mit Erweiterung und Veränderung des Hori-
zonte's, im Rollen der Tageswandlungen neu aufsprudelnden
Fragen mit den Entscheidungen aus unfehlbarer Alterthums-
weisheit erdrücken zu müssen meint, so hat sie selbst damit
den Zwiespalt der Weltanschauung herbeigeführt, wie wir
ihn so oft zwischen Religion und Philosophie klaffen sehen, --
gesehen haben und sehen werden, bis eine auch die Psychologie
umschliessende Naturwissenschaft sich zu dem Versuche fähig
fühlen dürfte, eine einigende Brücke zu schlagen.


Im Gegensatz zu dem früheren, aus einer fest abge-
grenzten Geschichtsbetrachtung natürlichem Bestreben, Ana-
logien, wenn in socialen Gebräuchen oder religiösen Vor-
stellungen entgegentretend, auf historische Beziehungen zurück-
zuführen, und daraus zu erklären, hat es unter der mit
Erweiterung des geographischen Gesichtskreises anwachsenden
Masse des Materiales, als die Aufgabe der Ethnologie er-
scheinen müssen, zunächst auf elementare Grundgesetze*)

*) Bei Feststellung allgemein gültig durchgehender Fundamentalgesetze,
als erblich dem Rassentypus einwohnend, wird kritische Sichtung verlangt,

zu solch’ schreienden Widersprüchen, dass sich nur im
Bruch gewaltsamer Revolutionen ein neues Gleichgewicht
herstellen lässt. Es ergiebt sich deshalb die Aufgabe, hier
eine feine Fühlung zu erhalten, besonders in der Jurispru-
denz, welche dies zunächst in den „fictiones legis“ zu erreichen
sucht, wodurch die Gesellschaft „escaped from their swadd-
ling clothes“ (s. Maine), während sich später dann im Rück-
greifen auf das Naturrecht der Grundsatz der Billigkeit bot
(the very conception of a set of principles invested with a
higher sacredness, than those of the original law), und
schliesslich tritt, bei volksthümlicher Staatsverfassung, die
bewusste Gesetzgebung in ihre Rechte.

So, wenn im religiösen System die Orthodoxie stark
genug bleibt, die steten Erschütterungen aus heterodox
ketzerischen Secte machtlos niederzuschlagen, wenn sie die
ununterbrochen mit Erweiterung und Veränderung des Hori-
zonte’s, im Rollen der Tageswandlungen neu aufsprudelnden
Fragen mit den Entscheidungen aus unfehlbarer Alterthums-
weisheit erdrücken zu müssen meint, so hat sie selbst damit
den Zwiespalt der Weltanschauung herbeigeführt, wie wir
ihn so oft zwischen Religion und Philosophie klaffen sehen, —
gesehen haben und sehen werden, bis eine auch die Psychologie
umschliessende Naturwissenschaft sich zu dem Versuche fähig
fühlen dürfte, eine einigende Brücke zu schlagen.


Im Gegensatz zu dem früheren, aus einer fest abge-
grenzten Geschichtsbetrachtung natürlichem Bestreben, Ana-
logien, wenn in socialen Gebräuchen oder religiösen Vor-
stellungen entgegentretend, auf historische Beziehungen zurück-
zuführen, und daraus zu erklären, hat es unter der mit
Erweiterung des geographischen Gesichtskreises anwachsenden
Masse des Materiales, als die Aufgabe der Ethnologie er-
scheinen müssen, zunächst auf elementare Grundgesetze*)

*) Bei Feststellung allgemein gültig durchgehender Fundamentalgesetze,
als erblich dem Rassentypus einwohnend, wird kritische Sichtung verlangt,
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[118/0152] zu solch’ schreienden Widersprüchen, dass sich nur im Bruch gewaltsamer Revolutionen ein neues Gleichgewicht herstellen lässt. Es ergiebt sich deshalb die Aufgabe, hier eine feine Fühlung zu erhalten, besonders in der Jurispru- denz, welche dies zunächst in den „fictiones legis“ zu erreichen sucht, wodurch die Gesellschaft „escaped from their swadd- ling clothes“ (s. Maine), während sich später dann im Rück- greifen auf das Naturrecht der Grundsatz der Billigkeit bot (the very conception of a set of principles invested with a higher sacredness, than those of the original law), und schliesslich tritt, bei volksthümlicher Staatsverfassung, die bewusste Gesetzgebung in ihre Rechte. So, wenn im religiösen System die Orthodoxie stark genug bleibt, die steten Erschütterungen aus heterodox ketzerischen Secte machtlos niederzuschlagen, wenn sie die ununterbrochen mit Erweiterung und Veränderung des Hori- zonte’s, im Rollen der Tageswandlungen neu aufsprudelnden Fragen mit den Entscheidungen aus unfehlbarer Alterthums- weisheit erdrücken zu müssen meint, so hat sie selbst damit den Zwiespalt der Weltanschauung herbeigeführt, wie wir ihn so oft zwischen Religion und Philosophie klaffen sehen, — gesehen haben und sehen werden, bis eine auch die Psychologie umschliessende Naturwissenschaft sich zu dem Versuche fähig fühlen dürfte, eine einigende Brücke zu schlagen. Im Gegensatz zu dem früheren, aus einer fest abge- grenzten Geschichtsbetrachtung natürlichem Bestreben, Ana- logien, wenn in socialen Gebräuchen oder religiösen Vor- stellungen entgegentretend, auf historische Beziehungen zurück- zuführen, und daraus zu erklären, hat es unter der mit Erweiterung des geographischen Gesichtskreises anwachsenden Masse des Materiales, als die Aufgabe der Ethnologie er- scheinen müssen, zunächst auf elementare Grundgesetze *) *) Bei Feststellung allgemein gültig durchgehender Fundamentalgesetze, als erblich dem Rassentypus einwohnend, wird kritische Sichtung verlangt,

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Zitationshilfe: Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bastian_voelkergedanke_1881/152>, abgerufen am 21.11.2024.