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Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881.

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Phasen vor uns haben, wird damit dann das Gesammtbild
des Wachsthumsgesetzes, -- wie es webt, wie es lebt, wie
in Entwicklung emporstrebend, wie es unter localer Modifi-
cation in seiner Phaemenologie buntschillernd variirt, -- der
Reflex des geistigen Mikrokosmos, den Augen entgegenge-
treten sein, zur Kenntniss und, durch sie, zum Verständniss.

Während die Culturgeschichte das abgeschlossen voll-
endete Product in umrundeter Formung erzeugt, -- strahlende
Kunstideale oft, denen der von Bewunderung umfangene
Geist sich mit des Forschers nüchternem Blick kaum zu
nahen wagt, -- überrascht uns in der Ethnologie der Mensch-
heitsbaum in den jugendlich wild und frisch zur Geltung
drängenden Stadien der Vorentwicklung. Wir treffen ihn,
wenn eben und kaum leichte Schossen aus der Erde spriessen,
wenn das Stämmchen Blätter ansetzt, wenn es sich in Blüthen
entfaltet, in Blumen prangt, mitunter selbst wenn schon
Früchtchen gewährend -- und wo wir ihn so treffen, da mögen
wir ihn packen, ihn greifen und zausen, zerblättern, zer-
pflücken zum Besten der Wissenschaft, auch viviseciren,
denn es handelt sich ja doch nur um den verachteten Wilden,
der aber in solchem Opfer geweiht, mit Fülle des Wissens
bereichert.

Diese Anknüpfung an die Naturvölker mag auf dem Ge-
biete der Culturgeschichte eine ähnliche Umwälzung hervor-
rufen, wie Hofmeister's vergleichende Untersuchungen auf
dem der Botanik, seitdem Nägeli "die Kryptogamen nicht nur
in den Bereich methodischer Forschung hineingezogen,
sondern geradezu zum Ausgangspunkt derselben erhoben".
(s. Sachs), indem er seine morphologischen Untersuchungen
möglichst an die niederen Kryptogamen anknüpfte, um sie
"an den höheren und an den Phanerogamen weiterzuführen"
(unter den niederen Kryptogamen lehrreiche Beispiele für
allgemein morphologische Sätze aufsuchend).

Wie wir in einem Kunstwerk die Züge des begabten
Genius zu erkennen streben, der dasselbe geschaffen hat, so

Phasen vor uns haben, wird damit dann das Gesammtbild
des Wachsthumsgesetzes, — wie es webt, wie es lebt, wie
in Entwicklung emporstrebend, wie es unter localer Modifi-
cation in seiner Phaemenologie buntschillernd variirt, — der
Reflex des geistigen Mikrokosmos, den Augen entgegenge-
treten sein, zur Kenntniss und, durch sie, zum Verständniss.

Während die Culturgeschichte das abgeschlossen voll-
endete Product in umrundeter Formung erzeugt, — strahlende
Kunstideale oft, denen der von Bewunderung umfangene
Geist sich mit des Forschers nüchternem Blick kaum zu
nahen wagt, — überrascht uns in der Ethnologie der Mensch-
heitsbaum in den jugendlich wild und frisch zur Geltung
drängenden Stadien der Vorentwicklung. Wir treffen ihn,
wenn eben und kaum leichte Schossen aus der Erde spriessen,
wenn das Stämmchen Blätter ansetzt, wenn es sich in Blüthen
entfaltet, in Blumen prangt, mitunter selbst wenn schon
Früchtchen gewährend — und wo wir ihn so treffen, da mögen
wir ihn packen, ihn greifen und zausen, zerblättern, zer-
pflücken zum Besten der Wissenschaft, auch viviseciren,
denn es handelt sich ja doch nur um den verachteten Wilden,
der aber in solchem Opfer geweiht, mit Fülle des Wissens
bereichert.

Diese Anknüpfung an die Naturvölker mag auf dem Ge-
biete der Culturgeschichte eine ähnliche Umwälzung hervor-
rufen, wie Hofmeister’s vergleichende Untersuchungen auf
dem der Botanik, seitdem Nägeli „die Kryptogamen nicht nur
in den Bereich methodischer Forschung hineingezogen,
sondern geradezu zum Ausgangspunkt derselben erhoben“.
(s. Sachs), indem er seine morphologischen Untersuchungen
möglichst an die niederen Kryptogamen anknüpfte, um sie
„an den höheren und an den Phanerogamen weiterzuführen“
(unter den niederen Kryptogamen lehrreiche Beispiele für
allgemein morphologische Sätze aufsuchend).

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Genius zu erkennen streben, der dasselbe geschaffen hat, so

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[8/0042] Phasen vor uns haben, wird damit dann das Gesammtbild des Wachsthumsgesetzes, — wie es webt, wie es lebt, wie in Entwicklung emporstrebend, wie es unter localer Modifi- cation in seiner Phaemenologie buntschillernd variirt, — der Reflex des geistigen Mikrokosmos, den Augen entgegenge- treten sein, zur Kenntniss und, durch sie, zum Verständniss. Während die Culturgeschichte das abgeschlossen voll- endete Product in umrundeter Formung erzeugt, — strahlende Kunstideale oft, denen der von Bewunderung umfangene Geist sich mit des Forschers nüchternem Blick kaum zu nahen wagt, — überrascht uns in der Ethnologie der Mensch- heitsbaum in den jugendlich wild und frisch zur Geltung drängenden Stadien der Vorentwicklung. Wir treffen ihn, wenn eben und kaum leichte Schossen aus der Erde spriessen, wenn das Stämmchen Blätter ansetzt, wenn es sich in Blüthen entfaltet, in Blumen prangt, mitunter selbst wenn schon Früchtchen gewährend — und wo wir ihn so treffen, da mögen wir ihn packen, ihn greifen und zausen, zerblättern, zer- pflücken zum Besten der Wissenschaft, auch viviseciren, denn es handelt sich ja doch nur um den verachteten Wilden, der aber in solchem Opfer geweiht, mit Fülle des Wissens bereichert. Diese Anknüpfung an die Naturvölker mag auf dem Ge- biete der Culturgeschichte eine ähnliche Umwälzung hervor- rufen, wie Hofmeister’s vergleichende Untersuchungen auf dem der Botanik, seitdem Nägeli „die Kryptogamen nicht nur in den Bereich methodischer Forschung hineingezogen, sondern geradezu zum Ausgangspunkt derselben erhoben“. (s. Sachs), indem er seine morphologischen Untersuchungen möglichst an die niederen Kryptogamen anknüpfte, um sie „an den höheren und an den Phanerogamen weiterzuführen“ (unter den niederen Kryptogamen lehrreiche Beispiele für allgemein morphologische Sätze aufsuchend). Wie wir in einem Kunstwerk die Züge des begabten Genius zu erkennen streben, der dasselbe geschaffen hat, so

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Zitationshilfe: Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bastian_voelkergedanke_1881/42>, abgerufen am 02.05.2024.