rolle der Mars, die ich in Paris darin bewundert hatte, nachspielen zu können, sagte er grämlich: "Zu meinem Schmerz muß ich sehen, daß auch Sie nur gefallen und in Effektrollen applaudirt werden wollen -- die wahre Flamme der Kunst glüht nicht in ihrer Seele!" Und Tieck kam nicht in diese Vorstellung und suchte das Stück überhaupt todtzuschweigen.
Selbst seine liebste und begabteste Schülerin, Julie Rettich, die auf seinen Wunsch mit ihrem Gatten von Wien nach Dresden berufen war, konnte der alte Drama¬ turg mit verletzender Gleichgültigkeit wieder nach Wien ziehen sehen, als die Künstlerin ihm selbstständiger ent¬ gegentrat, unpassende Rollen zurückwies und nicht mehr regelmäßig vor seinem Lesepulte saß. Kalt konnte er sagen: "Julie Rettich ist nicht mehr das einfach edle Talent, wie vor ihrem Wiener Engagement. Sie hat sich zu sehr nach dem Geschmack des Wiener Publikums gerichtet und trägt die Farben zu stark auf. Ich habe mich in ihr geirrt!" -- Und doch war die holde Künst¬ lerin als Julie Gley jahrelang Tieck's Liebling und lebte mit der Familie wie ein Kind vom Hause.
Emil Devrient, der herrliche Hamlet, Egmont, Posa, Tasso, gehörte auch schon zu den bei Tieck in Un¬ gnade Gefallenen, als ich nach Dresden kam. In den ersten Jahren seiner langjährigen Bühnenthätigkeit am Dresdener Hoftheater, als der junge Emil noch pflicht¬ schuldigst bei keiner Vorlesung Tieck's fehlte und neue Rollen unter den Augen und Lippen des alten Drama¬
rolle der Mars, die ich in Paris darin bewundert hatte, nachſpielen zu können, ſagte er grämlich: »Zu meinem Schmerz muß ich ſehen, daß auch Sie nur gefallen und in Effektrollen applaudirt werden wollen — die wahre Flamme der Kunſt glüht nicht in ihrer Seele!« Und Tieck kam nicht in dieſe Vorſtellung und ſuchte das Stück überhaupt todtzuſchweigen.
Selbſt ſeine liebſte und begabteſte Schülerin, Julie Rettich, die auf ſeinen Wunſch mit ihrem Gatten von Wien nach Dresden berufen war, konnte der alte Drama¬ turg mit verletzender Gleichgültigkeit wieder nach Wien ziehen ſehen, als die Künſtlerin ihm ſelbſtſtändiger ent¬ gegentrat, unpaſſende Rollen zurückwies und nicht mehr regelmäßig vor ſeinem Leſepulte ſaß. Kalt konnte er ſagen: »Julie Rettich iſt nicht mehr das einfach edle Talent, wie vor ihrem Wiener Engagement. Sie hat ſich zu ſehr nach dem Geſchmack des Wiener Publikums gerichtet und trägt die Farben zu ſtark auf. Ich habe mich in ihr geirrt!« — Und doch war die holde Künſt¬ lerin als Julie Gley jahrelang Tieck's Liebling und lebte mit der Familie wie ein Kind vom Hauſe.
Emil Devrient, der herrliche Hamlet, Egmont, Poſa, Taſſo, gehörte auch ſchon zu den bei Tieck in Un¬ gnade Gefallenen, als ich nach Dresden kam. In den erſten Jahren ſeiner langjährigen Bühnenthätigkeit am Dresdener Hoftheater, als der junge Emil noch pflicht¬ ſchuldigſt bei keiner Vorleſung Tieck's fehlte und neue Rollen unter den Augen und Lippen des alten Drama¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0450"n="422"/>
rolle der Mars, die ich in Paris darin bewundert hatte,<lb/>
nachſpielen zu können, ſagte er grämlich: »Zu meinem<lb/>
Schmerz muß ich ſehen, daß auch Sie nur gefallen und<lb/>
in Effektrollen applaudirt werden wollen — die wahre<lb/>
Flamme der Kunſt glüht nicht in ihrer Seele!« Und<lb/>
Tieck kam nicht in dieſe Vorſtellung und ſuchte das Stück<lb/>
überhaupt todtzuſchweigen.</p><lb/><p>Selbſt ſeine liebſte und begabteſte Schülerin, Julie<lb/>
Rettich, die auf ſeinen Wunſch mit ihrem Gatten von<lb/>
Wien nach Dresden berufen war, konnte der alte Drama¬<lb/>
turg mit verletzender Gleichgültigkeit wieder nach Wien<lb/>
ziehen ſehen, als die Künſtlerin ihm ſelbſtſtändiger ent¬<lb/>
gegentrat, unpaſſende Rollen zurückwies und nicht mehr<lb/>
regelmäßig vor ſeinem Leſepulte ſaß. Kalt konnte er<lb/>ſagen: »Julie Rettich iſt nicht mehr das einfach edle<lb/>
Talent, wie vor ihrem Wiener Engagement. Sie hat<lb/>ſich zu ſehr nach dem Geſchmack des Wiener Publikums<lb/>
gerichtet und trägt die Farben zu ſtark auf. Ich habe<lb/>
mich in ihr geirrt!« — Und doch war die holde Künſt¬<lb/>
lerin als Julie Gley jahrelang Tieck's Liebling und lebte<lb/>
mit der Familie wie ein Kind vom Hauſe.</p><lb/><p>Emil Devrient, der herrliche Hamlet, Egmont,<lb/>
Poſa, Taſſo, gehörte auch ſchon zu den bei Tieck in Un¬<lb/>
gnade Gefallenen, als ich nach Dresden kam. In den<lb/>
erſten Jahren ſeiner langjährigen Bühnenthätigkeit am<lb/>
Dresdener Hoftheater, als der junge Emil noch pflicht¬<lb/>ſchuldigſt bei keiner Vorleſung Tieck's fehlte und neue<lb/>
Rollen unter den Augen und Lippen des alten Drama¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[422/0450]
rolle der Mars, die ich in Paris darin bewundert hatte,
nachſpielen zu können, ſagte er grämlich: »Zu meinem
Schmerz muß ich ſehen, daß auch Sie nur gefallen und
in Effektrollen applaudirt werden wollen — die wahre
Flamme der Kunſt glüht nicht in ihrer Seele!« Und
Tieck kam nicht in dieſe Vorſtellung und ſuchte das Stück
überhaupt todtzuſchweigen.
Selbſt ſeine liebſte und begabteſte Schülerin, Julie
Rettich, die auf ſeinen Wunſch mit ihrem Gatten von
Wien nach Dresden berufen war, konnte der alte Drama¬
turg mit verletzender Gleichgültigkeit wieder nach Wien
ziehen ſehen, als die Künſtlerin ihm ſelbſtſtändiger ent¬
gegentrat, unpaſſende Rollen zurückwies und nicht mehr
regelmäßig vor ſeinem Leſepulte ſaß. Kalt konnte er
ſagen: »Julie Rettich iſt nicht mehr das einfach edle
Talent, wie vor ihrem Wiener Engagement. Sie hat
ſich zu ſehr nach dem Geſchmack des Wiener Publikums
gerichtet und trägt die Farben zu ſtark auf. Ich habe
mich in ihr geirrt!« — Und doch war die holde Künſt¬
lerin als Julie Gley jahrelang Tieck's Liebling und lebte
mit der Familie wie ein Kind vom Hauſe.
Emil Devrient, der herrliche Hamlet, Egmont,
Poſa, Taſſo, gehörte auch ſchon zu den bei Tieck in Un¬
gnade Gefallenen, als ich nach Dresden kam. In den
erſten Jahren ſeiner langjährigen Bühnenthätigkeit am
Dresdener Hoftheater, als der junge Emil noch pflicht¬
ſchuldigſt bei keiner Vorleſung Tieck's fehlte und neue
Rollen unter den Augen und Lippen des alten Drama¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bauer, Karoline: Aus meinem Bühnenleben. Berlin, 1871, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bauer_buehnenleben_1871/450>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.