Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_142.001 Thesauro invento, qui limina mortis inibat, pba_142.002 1 pba_142.005Liquit ovans laqueum, quo periturus erat. pba_142.003 At qui, quod terrae abdiderat, non reperit aurum, pba_142.004 Quem laqueum invenit, nexuit et periit: wovon das griechische Original in der Anthologie zu finden. Oder aus pba_142.006 Anera tis lipoguion uper notoio lipauges pba_142.009 2 pba_142.010Ere podas khresas, ommata khresamenos. Wer ist so blödsinnig, daß er die großen Wahrheiten, von welchen diese pba_142.011 pba_142.014 pba_142.022 1 pba_142.034 'Nen Schatz fand einer, der sich eben hängen wollte, pba_142.035 Froh ließ er die Todesschlinge an dem Ort zurück. pba_142.036 Als aber jener das Gold nicht fand, der es vergraben, pba_142.037 Hing er in der gefund'nen Schlinge sich auf und starb. 2 pba_142.038
Auf dem Rücken daher trug einen Gelähmten ein Blinder, pba_142.039 Brauchte die Beine für ihn, borgte von ihm das Gesicht. pba_142.001 Thesauro invento, qui limina mortis inibat, pba_142.002 1 pba_142.005Liquit ovans laqueum, quo periturus erat. pba_142.003 At qui, quod terrae abdiderat, non reperit aurum, pba_142.004 Quem laqueum invenit, nexuit et periit: wovon das griechische Original in der Anthologie zu finden. Oder aus pba_142.006 Ἀνέρα τις λιπογύιον ὑπὲρ νώτοιο λιπαυγὴς pba_142.009 2 pba_142.010Ἦρε πόδας χρήσας, ὄμματα χρησάμενος. Wer ist so blödsinnig, daß er die großen Wahrheiten, von welchen diese pba_142.011 pba_142.014 pba_142.022 1 pba_142.034 'Nen Schatz fand einer, der sich eben hängen wollte, pba_142.035 Froh ließ er die Todesschlinge an dem Ort zurück. pba_142.036 Als aber jener das Gold nicht fand, der es vergraben, pba_142.037 Hing er in der gefund'nen Schlinge sich auf und starb. 2 pba_142.038
Auf dem Rücken daher trug einen Gelähmten ein Blinder, pba_142.039 Brauchte die Beine für ihn, borgte von ihm das Gesicht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0160" n="142"/> <lb n="pba_142.001"/> <lg> <l> <hi rendition="#aq">Thesauro invento, qui limina mortis inibat,</hi> </l> <lb n="pba_142.002"/> <l> <hi rendition="#aq"> Liquit ovans laqueum, quo periturus erat.</hi> </l> <lb n="pba_142.003"/> <l> <hi rendition="#aq">At qui, quod terrae abdiderat, non reperit aurum,</hi> </l> <lb n="pba_142.004"/> <l><hi rendition="#aq"> Quem laqueum invenit, nexuit et periit</hi>:</l> </lg> <note xml:id="pba_142_1" place="foot" n="1"> <lb n="pba_142.034"/> <lg> <l>'Nen Schatz fand einer, der sich eben hängen wollte,</l> <lb n="pba_142.035"/> <l>Froh ließ er die Todesschlinge an dem Ort zurück.</l> <lb n="pba_142.036"/> <l>Als aber jener das Gold nicht fand, der es vergraben,</l> <lb n="pba_142.037"/> <l>Hing er in der gefund'nen Schlinge sich auf und starb.</l> </lg> </note> <lb n="pba_142.005"/> <p>wovon das griechische Original in der Anthologie zu finden. Oder aus <lb n="pba_142.006"/> eben dieser Anthologie die von mehreren Dichtern daselbst vorgetragene <lb n="pba_142.007"/> Geschichte vom Lahmen und Blinden:</p> <lb n="pba_142.008"/> <lg> <l> <hi rendition="#aq"> <foreign xml:lang="grc">Ἀνέρα τις λιπογύιον ὑπὲρ νώτοιο λιπαυγὴς</foreign> </hi> </l> <lb n="pba_142.009"/> <l><hi rendition="#aq"><foreign xml:lang="grc">Ἦρε πόδας χρήσας, ὄμματα χρησάμενος</foreign></hi>.</l> </lg> <note xml:id="pba_142_2" place="foot" n="2"> <lb n="pba_142.038"/> <lg> <l> Auf dem Rücken daher trug einen Gelähmten ein Blinder,</l> <lb n="pba_142.039"/> <l>Brauchte die Beine für ihn, borgte von ihm das Gesicht.</l> </lg> </note> <lb n="pba_142.010"/> <p>Wer ist so blödsinnig, daß er die großen Wahrheiten, von welchen diese <lb n="pba_142.011"/> Erzählungen Beispiele sind, nicht mit ihnen zugleich denke? Und was <lb n="pba_142.012"/> auf eine so vorzügliche Art einen Sinn in sich schließt, das wird doch <lb n="pba_142.013"/> wohl ein Sinngedicht heißen können?</p> <p><lb n="pba_142.014"/> „Doch auch das nicht. Und warum sollte es ein Sinngedicht <lb n="pba_142.015"/> heißen, wenn es etwas weit Besseres heißen kann? Mit einem Worte: <lb n="pba_142.016"/> es ist ein Apolog, eine wahre Äsopische Fabel; denn die gedrungene <lb n="pba_142.017"/> Kürze, mit welcher sie vorgetragen ist, kann ihr Wesen nicht verändern, <lb n="pba_142.018"/> sondern allenfalls nur lehren, wie die Griechen solcherlei Fabeln vorzutragen <lb n="pba_142.019"/> liebten. Es kommen deren, außer den zwei angeführten, in <lb n="pba_142.020"/> der Anthologie noch verschiedene vor; — — alle sind mit der äußersten <lb n="pba_142.021"/> Präcision erzählt — — —.</p> <p><lb n="pba_142.022"/> „Der wesentliche Unterschied, der sich zwischen dem Sinngedicht und <lb n="pba_142.023"/> der Fabel findet, beruht aber darin, daß die Teile, welche in dem Sinngedichte <lb n="pba_142.024"/> eines auf das andere folgen, in der Fabel in eins zusammenfallen <lb n="pba_142.025"/> und daher nur in der Abstraktion Teile sind. Der einzelne Fall <lb n="pba_142.026"/> der Fabel kann keine <hi rendition="#g">Erwartung</hi> erregen, weil man ihn nicht ausgehört <lb n="pba_142.027"/> haben kann, ohne daß der <hi rendition="#g">Aufschluß</hi> zugleich mit da ist; sie <lb n="pba_142.028"/> macht einen einzigen Eindruck und ist keiner Folge verschiedener Eindrücke <lb n="pba_142.029"/> fähig. Das Sinngedicht hingegen enthält sich eben darum entweder <lb n="pba_142.030"/> überhaupt solcher einzelnen Fälle, in welchen eine allgemeine Wahrheit <lb n="pba_142.031"/> anschauend zu erkennen, oder läßt doch diese Wahrheit beiseite liegen, <lb n="pba_142.032"/> und zieht unsere Aufmerksamkeit auf eine Folge, die weniger notwendig <lb n="pba_142.033"/> daraus fließt. Und nur dadurch entsteht <hi rendition="#g">Erwartung,</hi> die dieses </p> </div> </body> </text> </TEI> [142/0160]
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Quem laqueum invenit, nexuit et periit:
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wovon das griechische Original in der Anthologie zu finden. Oder aus pba_142.006
eben dieser Anthologie die von mehreren Dichtern daselbst vorgetragene pba_142.007
Geschichte vom Lahmen und Blinden:
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Wer ist so blödsinnig, daß er die großen Wahrheiten, von welchen diese pba_142.011
Erzählungen Beispiele sind, nicht mit ihnen zugleich denke? Und was pba_142.012
auf eine so vorzügliche Art einen Sinn in sich schließt, das wird doch pba_142.013
wohl ein Sinngedicht heißen können?
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„Doch auch das nicht. Und warum sollte es ein Sinngedicht pba_142.015
heißen, wenn es etwas weit Besseres heißen kann? Mit einem Worte: pba_142.016
es ist ein Apolog, eine wahre Äsopische Fabel; denn die gedrungene pba_142.017
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sondern allenfalls nur lehren, wie die Griechen solcherlei Fabeln vorzutragen pba_142.019
liebten. Es kommen deren, außer den zwei angeführten, in pba_142.020
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Präcision erzählt — — —.
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„Der wesentliche Unterschied, der sich zwischen dem Sinngedicht und pba_142.023
der Fabel findet, beruht aber darin, daß die Teile, welche in dem Sinngedichte pba_142.024
eines auf das andere folgen, in der Fabel in eins zusammenfallen pba_142.025
und daher nur in der Abstraktion Teile sind. Der einzelne Fall pba_142.026
der Fabel kann keine Erwartung erregen, weil man ihn nicht ausgehört pba_142.027
haben kann, ohne daß der Aufschluß zugleich mit da ist; sie pba_142.028
macht einen einzigen Eindruck und ist keiner Folge verschiedener Eindrücke pba_142.029
fähig. Das Sinngedicht hingegen enthält sich eben darum entweder pba_142.030
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anschauend zu erkennen, oder läßt doch diese Wahrheit beiseite liegen, pba_142.032
und zieht unsere Aufmerksamkeit auf eine Folge, die weniger notwendig pba_142.033
daraus fließt. Und nur dadurch entsteht Erwartung, die dieses
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Froh ließ er die Todesschlinge an dem Ort zurück. pba_142.036
Als aber jener das Gold nicht fand, der es vergraben, pba_142.037
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