Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_202.001 1 pba_202.027
Zu einer eingeschränktern Verwendung -- nämlich mit Bezug auf die Sonderung pba_202.028 des Ernsten und Komischen, welches im wirklichen Leben nicht selten vermischt auftritt pba_202.029 -- führt Lessing diesen Gedanken im 70. Stück der Hamb. Dramaturgie aus: "Jn pba_202.030 der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, pba_202.031 alles verändert sich, eines in das andre. Aber nach dieser unendlichen Mannigfaltigkeit pba_202.032 ist sie nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem pba_202.033 Genusse desselben Anteil nehmen zu lassen, mußten diese das Vermögen erhalten, ihr pba_202.034 Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermögen abzusondern und ihre Aufmerksamkeit pba_202.035 nach Gutdünken lenken zu können. Dieses Vermögen üben wir in allen Augenblicken pba_202.036 des Lebens; ohne dasselbe würde es für uns gar kein Leben geben; wir würden pba_202.037 vor allzu verschiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir würden ein beständiger pba_202.038 Raub des gegenwärtigen Eindruckes sein; wir würden träumen, ohne zu wissen, was pba_202.039 wir träumten. Die Bestimmung der Kunst ist, uns in dem Reiche des Schönen dieser pba_202.040 Absonderung zu überheben, uns die Fixierung unserer Aufmerksamkeit zu erleichtern. pba_202.041 Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande oder einer Verbindung verschie- pba_202.001 1 pba_202.027
Zu einer eingeschränktern Verwendung — nämlich mit Bezug auf die Sonderung pba_202.028 des Ernsten und Komischen, welches im wirklichen Leben nicht selten vermischt auftritt pba_202.029 — führt Lessing diesen Gedanken im 70. Stück der Hamb. Dramaturgie aus: „Jn pba_202.030 der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, pba_202.031 alles verändert sich, eines in das andre. Aber nach dieser unendlichen Mannigfaltigkeit pba_202.032 ist sie nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem pba_202.033 Genusse desselben Anteil nehmen zu lassen, mußten diese das Vermögen erhalten, ihr pba_202.034 Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermögen abzusondern und ihre Aufmerksamkeit pba_202.035 nach Gutdünken lenken zu können. Dieses Vermögen üben wir in allen Augenblicken pba_202.036 des Lebens; ohne dasselbe würde es für uns gar kein Leben geben; wir würden pba_202.037 vor allzu verschiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir würden ein beständiger pba_202.038 Raub des gegenwärtigen Eindruckes sein; wir würden träumen, ohne zu wissen, was pba_202.039 wir träumten. Die Bestimmung der Kunst ist, uns in dem Reiche des Schönen dieser pba_202.040 Absonderung zu überheben, uns die Fixierung unserer Aufmerksamkeit zu erleichtern. pba_202.041 Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande oder einer Verbindung verschie- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0220" n="202"/><lb n="pba_202.001"/> andre hervorruft, sie sich begegnen, antworten und gegenseitig bedingen, <lb n="pba_202.002"/> so ist die innere Handlung nur denkbar auf dem Grunde der von allen <lb n="pba_202.003"/> Seiten eindringenden <hi rendition="#g">Veränderungen</hi> der Dinge, Personen und Verhältnisse, <lb n="pba_202.004"/> welche wir in ihrer Gesamtheit Ereignisse, Begebenheiten, Schicksale <lb n="pba_202.005"/> nennen, innerhalb deren nun die „Handlungen“ sich kreuzen, sich <lb n="pba_202.006"/> vereinen und bekämpfen, in nie endender Verkettung sich verschlingen. <lb n="pba_202.007"/> Doch läßt die Empfindung als rein innerlicher Vorgang, und insofern <lb n="pba_202.008"/> sie in der Willkür des Subjektes gelegen ist, sich wenigstens in der Abstraktion <lb n="pba_202.009"/> isolieren und ungemischt für sich allein zur Darstellung bringen; <lb n="pba_202.010"/> in Bezug auf die Handlung dagegen vermag selbst die Abstraktion den <lb n="pba_202.011"/> Kreis der äußerlichen Veränderungen, auf Grund deren sie stattfindet <lb n="pba_202.012"/> und in und mit denen sie vor sich geht, nur einzuschränken, niemals <lb n="pba_202.013"/> aber kann die Darstellung derselben entbehren, selbst da nicht, wo die <lb n="pba_202.014"/> Handlung in einem rein geistigen Vorgange sich vollzöge, z. B. in der <lb n="pba_202.015"/> Fassung eines Entschlusses und der Aufgabe desselben, wie im zweiten <lb n="pba_202.016"/> Monologe des Goetheschen Faust. Umgekehrt aber kann <hi rendition="#g">ohne</hi> das Werk <lb n="pba_202.017"/> einer solchen <hi rendition="#g">Abstraktion</hi> ebensowenig die Darstellung einer Handlung <lb n="pba_202.018"/> stattfinden: es kann keine einzelne Veränderung gedacht werden, welche <lb n="pba_202.019"/> nicht mit der Gesamtheit aller übrigen in Verbindung stände; um also <lb n="pba_202.020"/> eine übersehbare Gruppe derselben darzustellen, muß man dieselbe aus <lb n="pba_202.021"/> jener Gesamtheit auslösen, eine Menge der Fäden, durch die sie mit <lb n="pba_202.022"/> derselben zusammenhängt, einfach durchschneiden und nur so viele von <lb n="pba_202.023"/> den außerhalb des eigentlichen Handlungsvorganges liegenden Veränderungen <lb n="pba_202.024"/> mit in dieselbe aufnehmen, als zunächst zur Verständlichkeit desselben <lb n="pba_202.025"/> und sodann zur Erreichung des ins Auge gefaßten Nachahmungszweckes <lb n="pba_202.026"/> erfordert werden.<note xml:id="pba_202_1a" n="1" place="foot" next="#pba_202_1b"><lb n="pba_202.027"/> Zu einer eingeschränktern Verwendung — nämlich mit Bezug auf die Sonderung <lb n="pba_202.028"/> des Ernsten und Komischen, welches im wirklichen Leben nicht selten vermischt auftritt <lb n="pba_202.029"/> — führt <hi rendition="#g">Lessing</hi> diesen Gedanken im 70. 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andre hervorruft, sie sich begegnen, antworten und gegenseitig bedingen, pba_202.002
so ist die innere Handlung nur denkbar auf dem Grunde der von allen pba_202.003
Seiten eindringenden Veränderungen der Dinge, Personen und Verhältnisse, pba_202.004
welche wir in ihrer Gesamtheit Ereignisse, Begebenheiten, Schicksale pba_202.005
nennen, innerhalb deren nun die „Handlungen“ sich kreuzen, sich pba_202.006
vereinen und bekämpfen, in nie endender Verkettung sich verschlingen. pba_202.007
Doch läßt die Empfindung als rein innerlicher Vorgang, und insofern pba_202.008
sie in der Willkür des Subjektes gelegen ist, sich wenigstens in der Abstraktion pba_202.009
isolieren und ungemischt für sich allein zur Darstellung bringen; pba_202.010
in Bezug auf die Handlung dagegen vermag selbst die Abstraktion den pba_202.011
Kreis der äußerlichen Veränderungen, auf Grund deren sie stattfindet pba_202.012
und in und mit denen sie vor sich geht, nur einzuschränken, niemals pba_202.013
aber kann die Darstellung derselben entbehren, selbst da nicht, wo die pba_202.014
Handlung in einem rein geistigen Vorgange sich vollzöge, z. B. in der pba_202.015
Fassung eines Entschlusses und der Aufgabe desselben, wie im zweiten pba_202.016
Monologe des Goetheschen Faust. Umgekehrt aber kann ohne das Werk pba_202.017
einer solchen Abstraktion ebensowenig die Darstellung einer Handlung pba_202.018
stattfinden: es kann keine einzelne Veränderung gedacht werden, welche pba_202.019
nicht mit der Gesamtheit aller übrigen in Verbindung stände; um also pba_202.020
eine übersehbare Gruppe derselben darzustellen, muß man dieselbe aus pba_202.021
jener Gesamtheit auslösen, eine Menge der Fäden, durch die sie mit pba_202.022
derselben zusammenhängt, einfach durchschneiden und nur so viele von pba_202.023
den außerhalb des eigentlichen Handlungsvorganges liegenden Veränderungen pba_202.024
mit in dieselbe aufnehmen, als zunächst zur Verständlichkeit desselben pba_202.025
und sodann zur Erreichung des ins Auge gefaßten Nachahmungszweckes pba_202.026
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1 pba_202.027
Zu einer eingeschränktern Verwendung — nämlich mit Bezug auf die Sonderung pba_202.028
des Ernsten und Komischen, welches im wirklichen Leben nicht selten vermischt auftritt pba_202.029
— führt Lessing diesen Gedanken im 70. Stück der Hamb. Dramaturgie aus: „Jn pba_202.030
der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, pba_202.031
alles verändert sich, eines in das andre. Aber nach dieser unendlichen Mannigfaltigkeit pba_202.032
ist sie nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem pba_202.033
Genusse desselben Anteil nehmen zu lassen, mußten diese das Vermögen erhalten, ihr pba_202.034
Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermögen abzusondern und ihre Aufmerksamkeit pba_202.035
nach Gutdünken lenken zu können. Dieses Vermögen üben wir in allen Augenblicken pba_202.036
des Lebens; ohne dasselbe würde es für uns gar kein Leben geben; wir würden pba_202.037
vor allzu verschiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir würden ein beständiger pba_202.038
Raub des gegenwärtigen Eindruckes sein; wir würden träumen, ohne zu wissen, was pba_202.039
wir träumten. Die Bestimmung der Kunst ist, uns in dem Reiche des Schönen dieser pba_202.040
Absonderung zu überheben, uns die Fixierung unserer Aufmerksamkeit zu erleichtern. pba_202.041
Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande oder einer Verbindung verschie-
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