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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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unbegreiflicher und dem menschlichen Auge verborgener, desto sicherer pba_210.002
darauf hinweisend, wie hoch über uns jene Fäden gesponnen werden, pba_210.003
und daß es in diesem Kosmos Willkür nicht sein kann, sondern Notwendigkeit pba_210.004
und Vorherbestimmung und Gesetz. Und darum müssen die pba_210.005
Götter recht behalten, welche vorherwissen und es nur vorherwissen pba_210.006
können, weil es vorherbestimmt ist, und dessen walten, was die Moira pba_210.007
ist." Einen "götterlosen, gottlosen Zufall" gibt es für diese ernste Auffassung pba_210.008
nicht, der "das Leben durch und durch göttlicher Einwirkung pba_210.009
voll erschien", und welche den Pindar die "Tyche -- das Glück, Geschick" pba_210.010
-- als "eine der Moiren" erfassen ließ. "Jn den Organismus pba_210.011
der göttlichen Gewalten, unter denen sich der Grieche fühlte, war diese pba_210.012
Tyche eingetreten."1

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Die ganze griechische Dichtung eines Homer, Pindar, Äschylus und pba_210.014
Sophokles ist von diesen Grundanschauungen erfüllt, wie sie in gleicher pba_210.015
Weise in den Geschichtsdarstellungen eines Herodot und Thukydides sich pba_210.016
wiederspiegeln. Bei aller großen Verschiedenheit ist unser deutscher pba_210.017
Volksgesang der epischen Zeit auf ganz demselben Boden erwachsen: pba_210.018
was darin dem Leben entnommen und was von der Phantasie hinzugethan pba_210.019
ist, alles dient dazu, ungeheure Thaten und Schicksale, welche pba_210.020
für sich alleinstehend den Sinn überwältigen, das Herz verwirren und pba_210.021
den Mut niederschmettern würden, im Zusammenhange als die Handlungen pba_210.022
eines wohlgeordneten, von unverbrüchlichen Gesetzen gelenkten pba_210.023
Waltens höherer Mächte vorzuführen, die Anlässe blinden Schreckens pba_210.024
zum Gegenstande verehrender Gesinnung und höchster Erhebung zu gestalten. pba_210.025
Damit stimmt Wilh. Grimms Urteil über die älteste deutsche pba_210.026
Dichtung vollkommen zusammen: "Jn jeder Brust wohnt die Ahnung pba_210.027
von Gott, und am wenigsten ist der rohe Naturmensch davon verlassen. pba_210.028
Wie die Sprache in ihrer Entstehung wohlklingend und die erste Erzählung pba_210.029
poetisch und rhythmisch ist, so sind auch seine Begriffe und Anschauungen pba_210.030
der Welt religiös, und er sieht in der ganzen Natur einen pba_210.031
Abdruck und das Regen der Gottheit, die mehr oder weniger hervortritt."2 pba_210.032
Und speciell über das Nibelungenlied:3 "Jn ihm wurde erhalten, was pba_210.033
nicht wieder ersetzt werden konnte, das Bild einer vergangenen Zeit, in pba_210.034
welcher ein großes Leben frei, herrlich und doch wieder so menschlich pba_210.035
erscheint. Denn das ist es, was uns in der Poesie entzückt, jene Ver-

1 pba_210.036
Vgl. a. a. O. "Dämon und Tyche" S. 177, 178.
2 pba_210.037
Vgl. Wilh. Grimm: "Entstehung der altdeutschen Poesie". Kl. Schr. pba_210.038
Bd. I, S. 123.
3 pba_210.039
Ebend. "F. v. d. Hagens Nibelungen" S. 67.

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unbegreiflicher und dem menschlichen Auge verborgener, desto sicherer pba_210.002
darauf hinweisend, wie hoch über uns jene Fäden gesponnen werden, pba_210.003
und daß es in diesem Kosmos Willkür nicht sein kann, sondern Notwendigkeit pba_210.004
und Vorherbestimmung und Gesetz. Und darum müssen die pba_210.005
Götter recht behalten, welche vorherwissen und es nur vorherwissen pba_210.006
können, weil es vorherbestimmt ist, und dessen walten, was die Moira pba_210.007
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nicht, der „das Leben durch und durch göttlicher Einwirkung pba_210.009
voll erschien“, und welche den Pindar die „Tyche — das Glück, Geschick“ pba_210.010
— als „eine der Moiren“ erfassen ließ. „Jn den Organismus pba_210.011
der göttlichen Gewalten, unter denen sich der Grieche fühlte, war diese pba_210.012
Tyche eingetreten.“1

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Die ganze griechische Dichtung eines Homer, Pindar, Äschylus und pba_210.014
Sophokles ist von diesen Grundanschauungen erfüllt, wie sie in gleicher pba_210.015
Weise in den Geschichtsdarstellungen eines Herodot und Thukydides sich pba_210.016
wiederspiegeln. Bei aller großen Verschiedenheit ist unser deutscher pba_210.017
Volksgesang der epischen Zeit auf ganz demselben Boden erwachsen: pba_210.018
was darin dem Leben entnommen und was von der Phantasie hinzugethan pba_210.019
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Damit stimmt Wilh. Grimms Urteil über die älteste deutsche pba_210.026
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Wie die Sprache in ihrer Entstehung wohlklingend und die erste Erzählung pba_210.029
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nicht wieder ersetzt werden konnte, das Bild einer vergangenen Zeit, in pba_210.034
welcher ein großes Leben frei, herrlich und doch wieder so menschlich pba_210.035
erscheint. Denn das ist es, was uns in der Poesie entzückt, jene Ver-

1 pba_210.036
Vgl. a. a. O. „Dämon und Tyche“ S. 177, 178.
2 pba_210.037
Vgl. Wilh. Grimm:Entstehung der altdeutschen Poesie“. Kl. Schr. pba_210.038
Bd. I, S. 123.
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Ebend. „F. v. d. Hagens Nibelungen“ S. 67.
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/228>, abgerufen am 23.11.2024.