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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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"Jn solchen der Reihenfolge nach dargestellten Zeiträumen kann es mitunter pba_213.002
geschehen, daß die Ereignisse eben nur aufeinanderfolgen, ohne pba_213.003
daß ein einheitliches Endziel sich ergibt. Freilich macht die Mehrzahl pba_213.004
unter den Dichtern es nicht anders."

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Wenn diese von Aristoteles so scharf betonte Einheit also dadurch pba_213.006
erreicht wird, daß Anfang und Ende sich zusammenschließen als der pba_213.007
Anlaß und der Vollzug einer einzigen, inneren Handlung, während die pba_213.008
dazwischenliegende Mitte überall der Ausführung derselben dienstbar ist, pba_213.009
und als wirkende Person die das Schicksal lenkende Macht auftritt, mag pba_213.010
dieselbe geradezu persönlich vorgestellt werden, wie bei den Alten, pba_213.011
oder unpersönlich, wie bei den Modernen, so reicht die so gewonnene pba_213.012
Anschauung nun aus, um die Antwort auf die früher gestellte Frage pba_213.013
zu finden: inwieweit es der epischen und dramatischen Darstellung freistehe, pba_213.014
die Gesetze der Wirklichkeit für den äußeren Verlauf der pba_213.015
nachgeahmten Handlung aufzuheben und welchem Gesetz die pba_213.016
Erfindung unterworfen sei, welche an die Stelle derselben pba_213.017
trete.

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Es liegt auf der Hand, daß hier jede Veränderung gestattet sein pba_213.019
muß, welche eine Verkürzung des äußeren Ganges der Dinge bewirkt, pba_213.020
sobald sie nur mit dem Geist und Sinn und dem Zwecke der pba_213.021
innern Handlung in Übereinstimmung
ist, geeignet diesen deutlicher pba_213.022
vor Augen zu stellen,
die Verkörperung desselben einfacher zu pba_213.023
gestalten,
den Verlauf, welcher zu ihm hinführt, zu beschleunigen.

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Es ist mit diesen Forderungen nur der Charakter bezeichnet, welchen pba_213.025
von jeher und allenthalben das hervorstechendste Element aller Mythen pba_213.026
und Sagen an sich getragen hat, der Charakter des Wunders, dieses pba_213.027
unentbehrlichen Bedürfnisses und "liebsten Kindes" des Volksglaubens pba_213.028
und der Volksdichtung. Sein Ursprung und Wesen ist die Ahnung und pba_213.029
intuitive Erkenntnis der inneren Wahrheit der Dinge, verbunden mit pba_213.030
der Unkenntnis ihrer realen Begründung, und das Resultat dieser Verbindung: pba_213.031
die mehr oder weniger willkürliche Erfindung eines unmittelbaren pba_213.032
Zusammenhanges zwischen der gegebenen thatsächlichen Voraussetzung pba_213.033
und dem richtig divinierten oder geschauten Endziel; oder nicht pba_213.034
selten auch umgekehrt: zwischen dem thatsächlich vorhandenen Ergebnis pba_213.035
und der geahnten Ursache desselben. So löst der Kindersinn der Völker pba_213.036
sich die Rätsel der Natur und des Menschendaseins, der Vergangenheit pba_213.037
und der Zukunft, des Anfangs und des Endes der Dinge in leicht pba_213.038
überschaulichen und bedeutungsvollen Phantasiegebilden, deren unvergängliche pba_213.039
Schönheit eben darin beruht, daß sie dem Drange nach der pba_213.040
Erkenntnis der inneren Wahrheit des Zusammenhanges der Dinge und

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„Jn solchen der Reihenfolge nach dargestellten Zeiträumen kann es mitunter pba_213.002
geschehen, daß die Ereignisse eben nur aufeinanderfolgen, ohne pba_213.003
daß ein einheitliches Endziel sich ergibt. Freilich macht die Mehrzahl pba_213.004
unter den Dichtern es nicht anders.“

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Wenn diese von Aristoteles so scharf betonte Einheit also dadurch pba_213.006
erreicht wird, daß Anfang und Ende sich zusammenschließen als der pba_213.007
Anlaß und der Vollzug einer einzigen, inneren Handlung, während die pba_213.008
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und als wirkende Person die das Schicksal lenkende Macht auftritt, mag pba_213.010
dieselbe geradezu persönlich vorgestellt werden, wie bei den Alten, pba_213.011
oder unpersönlich, wie bei den Modernen, so reicht die so gewonnene pba_213.012
Anschauung nun aus, um die Antwort auf die früher gestellte Frage pba_213.013
zu finden: inwieweit es der epischen und dramatischen Darstellung freistehe, pba_213.014
die Gesetze der Wirklichkeit für den äußeren Verlauf der pba_213.015
nachgeahmten Handlung aufzuheben und welchem Gesetz die pba_213.016
Erfindung unterworfen sei, welche an die Stelle derselben pba_213.017
trete.

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Es liegt auf der Hand, daß hier jede Veränderung gestattet sein pba_213.019
muß, welche eine Verkürzung des äußeren Ganges der Dinge bewirkt, pba_213.020
sobald sie nur mit dem Geist und Sinn und dem Zwecke der pba_213.021
innern Handlung in Übereinstimmung
ist, geeignet diesen deutlicher pba_213.022
vor Augen zu stellen,
die Verkörperung desselben einfacher zu pba_213.023
gestalten,
den Verlauf, welcher zu ihm hinführt, zu beschleunigen.

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Es ist mit diesen Forderungen nur der Charakter bezeichnet, welchen pba_213.025
von jeher und allenthalben das hervorstechendste Element aller Mythen pba_213.026
und Sagen an sich getragen hat, der Charakter des Wunders, dieses pba_213.027
unentbehrlichen Bedürfnisses und „liebsten Kindes“ des Volksglaubens pba_213.028
und der Volksdichtung. Sein Ursprung und Wesen ist die Ahnung und pba_213.029
intuitive Erkenntnis der inneren Wahrheit der Dinge, verbunden mit pba_213.030
der Unkenntnis ihrer realen Begründung, und das Resultat dieser Verbindung: pba_213.031
die mehr oder weniger willkürliche Erfindung eines unmittelbaren pba_213.032
Zusammenhanges zwischen der gegebenen thatsächlichen Voraussetzung pba_213.033
und dem richtig divinierten oder geschauten Endziel; oder nicht pba_213.034
selten auch umgekehrt: zwischen dem thatsächlich vorhandenen Ergebnis pba_213.035
und der geahnten Ursache desselben. So löst der Kindersinn der Völker pba_213.036
sich die Rätsel der Natur und des Menschendaseins, der Vergangenheit pba_213.037
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überschaulichen und bedeutungsvollen Phantasiegebilden, deren unvergängliche pba_213.039
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/231>, abgerufen am 27.11.2024.