Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_212.001 pba_212.017 pba_212.028 pba_212.001 pba_212.017 pba_212.028 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0230" n="212"/> <p><lb n="pba_212.001"/> Das <hi rendition="#g">Schicksal</hi> also erscheint als handelnd, und die Handlung <lb n="pba_212.002"/> des Dramas wie die des weitest ausgedehnten Epos ist nur dann eine <lb n="pba_212.003"/> <hi rendition="#g">einheitliche,</hi> wenn sie in ihrer Gesamtheit die Nachahmung einer <lb n="pba_212.004"/> <hi rendition="#g">einzigen Willensentscheidung</hi> dieser Macht enthält, <hi rendition="#g">einer einzigen <lb n="pba_212.005"/> Schicksalshandlung.</hi> Die <hi rendition="#g">Vollständigkeit</hi> dieser Nachahmung bedingt <lb n="pba_212.006"/> unter Umständen, so namentlich immer im Epos, eine geringere <lb n="pba_212.007"/> oder auch sehr große Zahl von <hi rendition="#g">Episoden,</hi> welche, für sich genommen, <lb n="pba_212.008"/> in kleinerem Rahmen die Nachahmung von gleichartigen Handlungen <lb n="pba_212.009"/> einschließen können: berechtigte Existenz aber haben diese Episoden nur <lb n="pba_212.010"/> insofern, als sie integrierende Teile der einen <hi rendition="#g">Haupthandlung</hi> sind, <lb n="pba_212.011"/> unentbehrlich um die Nachahmung der <hi rendition="#g">einen, vollständigen</hi> Handlung <lb n="pba_212.012"/> zu verkörpern. Das ist das wesentliche Kennzeichen des <hi rendition="#g">echten</hi> <lb n="pba_212.013"/> Epos, daß es sich so verhält, des <hi rendition="#g">Volks- und Nationalepos.</hi> Homer <lb n="pba_212.014"/> und die Nibelungen stimmen darin überein; die wesentlichste Schwäche <lb n="pba_212.015"/> der meisten Kunstepen tritt darin hervor, daß sie diese Einheit im Ganzen <lb n="pba_212.016"/> und in den Episoden außer acht lassen.</p> <p><lb n="pba_212.017"/> So lautet auch das <hi rendition="#g">Aristotelische</hi> Gesetz über die Komposition <lb n="pba_212.018"/> des Epos im 23. Kapitel seiner „Dichtkunst“: <foreign xml:lang="grc">ὅτι δεῖ τοὺς μύθους</foreign> ... <lb n="pba_212.019"/> <foreign xml:lang="grc">συνιστάναι</foreign> ... <foreign xml:lang="grc"><hi rendition="#g">περὶ μίαν πρᾶξιν ὅλην καὶ τελείαν</hi></foreign>, <lb n="pba_212.020"/> <foreign xml:lang="grc"><hi rendition="#g">ἕχουσαν ἀρχὴν καὶ μέσα καὶ τέλος, ἵν' ὥσπερ ζῷον \̔εν</hi></foreign> <lb n="pba_212.021"/> <foreign xml:lang="grc"><hi rendition="#g">ὅλον</hi> ποιῇ τὴν οἰκείαν ἡδονὴν</foreign> ... <foreign xml:lang="grc">καὶ μὴ ὁμοίας ἱστορίαις τὰς</foreign> <lb n="pba_212.022"/> <foreign xml:lang="grc">συνθέσεις εἶναι, ἐν αἷς ἀνάγκη οὐχὶ μιᾶς πράξεως ποιεῖσθαι</foreign> <lb n="pba_212.023"/> <foreign xml:lang="grc">δήλωσιν ἀλλ' ἑνὸς χρόνου, ὅσα ἐν τούτῳ συνέβη περὶ ἕνα \̓η</foreign> <lb n="pba_212.024"/> <foreign xml:lang="grc">πλείους, ὧν ἕκαστον ὡς ἔτυχεν ἔχει πρὸς ἄλληλα</foreign>. Und weiter: <lb n="pba_212.025"/> <foreign xml:lang="grc">εν τοῖς ἐφεξῆς χρόνοις ἐνίοτε γίνεται θάτερον μετὰ θατέρου</foreign>, <lb n="pba_212.026"/> <foreign xml:lang="grc">ἐξ ὧν \̔εν οὐδὲν γίνεται τέλος·</foreign> <foreign xml:lang="grc">σχεδὸν δὲ οἱ πολλοὶ τῶν ποιητῶν</foreign> <lb n="pba_212.027"/> <foreign xml:lang="grc">τοῦτο δρῶσιν</foreign>.</p> <p><lb n="pba_212.028"/> Zu deutsch: Für die <hi rendition="#g">epische</hi> Nachahmung gilt das Gesetz: „daß <lb n="pba_212.029"/> ihre Fabel auf Grund einer <hi rendition="#g">einzigen Handlung</hi> aufgebaut sein muß, <lb n="pba_212.030"/> welche <hi rendition="#g">ein Ganzes</hi> bilde und <hi rendition="#g">vollständig</hi> dargestellt sei, <hi rendition="#g">Anfang, <lb n="pba_212.031"/> Mitte und Ende</hi> umfassend, damit sie, gleichsam wie ein <hi rendition="#g">lebendes <lb n="pba_212.032"/> Wesen einheitlich und ganz,</hi> die volle künstlerische Wirkung hervorbringe, <lb n="pba_212.033"/> deren ihre Gattung fähig ist (so drücken wir nach unserer heutigen <lb n="pba_212.034"/> Sprechweise den Sinn der Worte <foreign xml:lang="grc">ποιῆ τὴν οἰκείαν ἡδονήν</foreign> = „den <lb n="pba_212.035"/> ihr eigenen Genuß bereite“ aus); die epische Komposition darf nicht der <lb n="pba_212.036"/> historischen ähnlich sein, in welcher notwendig <hi rendition="#g">nicht</hi> die Darstellung einer <lb n="pba_212.037"/> <hi rendition="#g">einzigen</hi> Handlung gegeben werden muß, sondern einer einzigen Zeit <lb n="pba_212.038"/> nach den Ereignissen, die sich darin begaben, Einen betreffend oder <lb n="pba_212.039"/> Mehrere und in dem Verhältnis eines jeden unter ihnen zu den übrigen <lb n="pba_212.040"/> von dem zufälligen Gange der Begebenheiten abhängig.“ Und weiterhin: </p> </div> </body> </text> </TEI> [212/0230]
pba_212.001
Das Schicksal also erscheint als handelnd, und die Handlung pba_212.002
des Dramas wie die des weitest ausgedehnten Epos ist nur dann eine pba_212.003
einheitliche, wenn sie in ihrer Gesamtheit die Nachahmung einer pba_212.004
einzigen Willensentscheidung dieser Macht enthält, einer einzigen pba_212.005
Schicksalshandlung. Die Vollständigkeit dieser Nachahmung bedingt pba_212.006
unter Umständen, so namentlich immer im Epos, eine geringere pba_212.007
oder auch sehr große Zahl von Episoden, welche, für sich genommen, pba_212.008
in kleinerem Rahmen die Nachahmung von gleichartigen Handlungen pba_212.009
einschließen können: berechtigte Existenz aber haben diese Episoden nur pba_212.010
insofern, als sie integrierende Teile der einen Haupthandlung sind, pba_212.011
unentbehrlich um die Nachahmung der einen, vollständigen Handlung pba_212.012
zu verkörpern. Das ist das wesentliche Kennzeichen des echten pba_212.013
Epos, daß es sich so verhält, des Volks- und Nationalepos. Homer pba_212.014
und die Nibelungen stimmen darin überein; die wesentlichste Schwäche pba_212.015
der meisten Kunstepen tritt darin hervor, daß sie diese Einheit im Ganzen pba_212.016
und in den Episoden außer acht lassen.
pba_212.017
So lautet auch das Aristotelische Gesetz über die Komposition pba_212.018
des Epos im 23. Kapitel seiner „Dichtkunst“: ὅτι δεῖ τοὺς μύθους ... pba_212.019
συνιστάναι ... περὶ μίαν πρᾶξιν ὅλην καὶ τελείαν, pba_212.020
ἕχουσαν ἀρχὴν καὶ μέσα καὶ τέλος, ἵν' ὥσπερ ζῷον \̔εν pba_212.021
ὅλον ποιῇ τὴν οἰκείαν ἡδονὴν ... καὶ μὴ ὁμοίας ἱστορίαις τὰς pba_212.022
συνθέσεις εἶναι, ἐν αἷς ἀνάγκη οὐχὶ μιᾶς πράξεως ποιεῖσθαι pba_212.023
δήλωσιν ἀλλ' ἑνὸς χρόνου, ὅσα ἐν τούτῳ συνέβη περὶ ἕνα \̓η pba_212.024
πλείους, ὧν ἕκαστον ὡς ἔτυχεν ἔχει πρὸς ἄλληλα. Und weiter: pba_212.025
εν τοῖς ἐφεξῆς χρόνοις ἐνίοτε γίνεται θάτερον μετὰ θατέρου, pba_212.026
ἐξ ὧν \̔εν οὐδὲν γίνεται τέλος· σχεδὸν δὲ οἱ πολλοὶ τῶν ποιητῶν pba_212.027
τοῦτο δρῶσιν.
pba_212.028
Zu deutsch: Für die epische Nachahmung gilt das Gesetz: „daß pba_212.029
ihre Fabel auf Grund einer einzigen Handlung aufgebaut sein muß, pba_212.030
welche ein Ganzes bilde und vollständig dargestellt sei, Anfang, pba_212.031
Mitte und Ende umfassend, damit sie, gleichsam wie ein lebendes pba_212.032
Wesen einheitlich und ganz, die volle künstlerische Wirkung hervorbringe, pba_212.033
deren ihre Gattung fähig ist (so drücken wir nach unserer heutigen pba_212.034
Sprechweise den Sinn der Worte ποιῆ τὴν οἰκείαν ἡδονήν = „den pba_212.035
ihr eigenen Genuß bereite“ aus); die epische Komposition darf nicht der pba_212.036
historischen ähnlich sein, in welcher notwendig nicht die Darstellung einer pba_212.037
einzigen Handlung gegeben werden muß, sondern einer einzigen Zeit pba_212.038
nach den Ereignissen, die sich darin begaben, Einen betreffend oder pba_212.039
Mehrere und in dem Verhältnis eines jeden unter ihnen zu den übrigen pba_212.040
von dem zufälligen Gange der Begebenheiten abhängig.“ Und weiterhin:
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |