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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Sagenwelt die Märchenbildung späterer Zeiten sich entwickelte, so aus pba_216.002
der altepischen Tiersage die einem reflektierenden Zeitalter angehörige pba_216.003
Tierfabel; beide behaupten dann eine selbständige Stellung in der Kunstdichtung pba_216.004
aller Litteraturen und Zeiten. Beide stimmen auch darin überein, pba_216.005
daß sie von der Nachahmung der Wirklichkeit absehen und an die Stelle pba_216.006
des Ernstes ein freies Spiel treten lassen, das durch die überall festgehaltene pba_216.007
Analogie mit den inneren Gesetzen des realen Handelns bestimmt pba_216.008
wird. Während aber das Märchen hinsichtlich der Wahl der pba_216.009
Personen und ihrer Handlungen uneingeschränkte Phantasiefreiheit walten pba_216.010
läßt, sind der Fabel durch die Gründung auf die epische Nachahmung pba_216.011
des Lebens und Treibens der Tierwelt feste Grenzen gezogen; hieraus pba_216.012
bestimmt sich ihr ganzes Wesen.

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Was für Folgen sich naturgemäß daran knüpfen, daß diese Art pba_216.014
der epischen Nachahmung sich in einer Welt bewegt, in der die handelnden pba_216.015
Personen Tiere
sind, davon ist oben schon die Rede gewesen. pba_216.016
Sie "läßt den Tieren ihr Eigentümliches und erhebt sie doch zugleich pba_216.017
in die Menschenähnlichkeit",1 sie verfährt wie "der bildende Künstler, pba_216.018
wenn er sich der Tierfabel bemächtigen will: er muß den tierischen Leib pba_216.019
beibehaltend ihm dazu noch Gebärde, Stellung, leidenschaftlichen Ausdruck pba_216.020
des Menschen zu verleihen wissen". Das dürfte für die Dichtung bedeuten: pba_216.021
indem sie den Tieren Sprache beilegt und sie in Zustände und pba_216.022
Verhältnisse versetzt, die denen der Menschen analog sind, erhebt sie pba_216.023
dieselben zur Menschenähnlichkeit in Bezug auf den einen Faktor der pba_216.024
Handlungen, der sich im praktischen Sinn, dem Weltverstand, der Klugheit, pba_216.025
Überlegung äußert, in Bezug also auf die Dianoia; Ethos und pba_216.026
Empfindung werden zwar auch in die Sphäre des Bewußtseins erhoben, pba_216.027
aber in Bezug auf diese läßt ihnen die Dichtung ihre tierische pba_216.028
Eigenart. Wie schon oben bemerkt, wird damit die freie Wirkung pba_216.029
dieser beiden Faktoren so gut wie ganz eliminiert, die Handlungen der pba_216.030
Tiere erscheinen nach dieser Richtung als von vorneherein bestimmt und pba_216.031
gebunden. Frei sind sie nur nach der Seite der "praktischen" Überlegung pba_216.032
und interessieren daher auch weit weniger die Empfindung, als pba_216.033
sie die übrigen unmittelbar beim Handeln wirksamen Gemütskräfte beschäftigen: pba_216.034
die ethische Gestaltung des Begehrungsvermögens pba_216.035
und die Willensentscheidung (nach der Aristotelischen Terminologie pba_216.036
die exis orektike und proairetike). Sie beschäftigen sie, das heißt pba_216.037
nicht etwa sie bestimmen ihre Geltung für das Leben -- damit wäre der

1 pba_216.038
Vgl. Jakob Grimm: "Wesen der Tierfabel". Ausw. d. Kl. Schrft. pba_216.039
S. 353.

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Sagenwelt die Märchenbildung späterer Zeiten sich entwickelte, so aus pba_216.002
der altepischen Tiersage die einem reflektierenden Zeitalter angehörige pba_216.003
Tierfabel; beide behaupten dann eine selbständige Stellung in der Kunstdichtung pba_216.004
aller Litteraturen und Zeiten. Beide stimmen auch darin überein, pba_216.005
daß sie von der Nachahmung der Wirklichkeit absehen und an die Stelle pba_216.006
des Ernstes ein freies Spiel treten lassen, das durch die überall festgehaltene pba_216.007
Analogie mit den inneren Gesetzen des realen Handelns bestimmt pba_216.008
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Personen und ihrer Handlungen uneingeschränkte Phantasiefreiheit walten pba_216.010
läßt, sind der Fabel durch die Gründung auf die epische Nachahmung pba_216.011
des Lebens und Treibens der Tierwelt feste Grenzen gezogen; hieraus pba_216.012
bestimmt sich ihr ganzes Wesen.

pba_216.013
Was für Folgen sich naturgemäß daran knüpfen, daß diese Art pba_216.014
der epischen Nachahmung sich in einer Welt bewegt, in der die handelnden pba_216.015
Personen Tiere
sind, davon ist oben schon die Rede gewesen. pba_216.016
Sie „läßt den Tieren ihr Eigentümliches und erhebt sie doch zugleich pba_216.017
in die Menschenähnlichkeit“,1 sie verfährt wie „der bildende Künstler, pba_216.018
wenn er sich der Tierfabel bemächtigen will: er muß den tierischen Leib pba_216.019
beibehaltend ihm dazu noch Gebärde, Stellung, leidenschaftlichen Ausdruck pba_216.020
des Menschen zu verleihen wissen“. Das dürfte für die Dichtung bedeuten: pba_216.021
indem sie den Tieren Sprache beilegt und sie in Zustände und pba_216.022
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dieselben zur Menschenähnlichkeit in Bezug auf den einen Faktor der pba_216.024
Handlungen, der sich im praktischen Sinn, dem Weltverstand, der Klugheit, pba_216.025
Überlegung äußert, in Bezug also auf die Dianoia; Ethos und pba_216.026
Empfindung werden zwar auch in die Sphäre des Bewußtseins erhoben, pba_216.027
aber in Bezug auf diese läßt ihnen die Dichtung ihre tierische pba_216.028
Eigenart. Wie schon oben bemerkt, wird damit die freie Wirkung pba_216.029
dieser beiden Faktoren so gut wie ganz eliminiert, die Handlungen der pba_216.030
Tiere erscheinen nach dieser Richtung als von vorneherein bestimmt und pba_216.031
gebunden. Frei sind sie nur nach der Seite der „praktischen“ Überlegung pba_216.032
und interessieren daher auch weit weniger die Empfindung, als pba_216.033
sie die übrigen unmittelbar beim Handeln wirksamen Gemütskräfte beschäftigen: pba_216.034
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nicht etwa sie bestimmen ihre Geltung für das Leben — damit wäre der

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[216/0234] pba_216.001 Sagenwelt die Märchenbildung späterer Zeiten sich entwickelte, so aus pba_216.002 der altepischen Tiersage die einem reflektierenden Zeitalter angehörige pba_216.003 Tierfabel; beide behaupten dann eine selbständige Stellung in der Kunstdichtung pba_216.004 aller Litteraturen und Zeiten. Beide stimmen auch darin überein, pba_216.005 daß sie von der Nachahmung der Wirklichkeit absehen und an die Stelle pba_216.006 des Ernstes ein freies Spiel treten lassen, das durch die überall festgehaltene pba_216.007 Analogie mit den inneren Gesetzen des realen Handelns bestimmt pba_216.008 wird. Während aber das Märchen hinsichtlich der Wahl der pba_216.009 Personen und ihrer Handlungen uneingeschränkte Phantasiefreiheit walten pba_216.010 läßt, sind der Fabel durch die Gründung auf die epische Nachahmung pba_216.011 des Lebens und Treibens der Tierwelt feste Grenzen gezogen; hieraus pba_216.012 bestimmt sich ihr ganzes Wesen. pba_216.013 Was für Folgen sich naturgemäß daran knüpfen, daß diese Art pba_216.014 der epischen Nachahmung sich in einer Welt bewegt, in der die handelnden pba_216.015 Personen Tiere sind, davon ist oben schon die Rede gewesen. pba_216.016 Sie „läßt den Tieren ihr Eigentümliches und erhebt sie doch zugleich pba_216.017 in die Menschenähnlichkeit“, 1 sie verfährt wie „der bildende Künstler, pba_216.018 wenn er sich der Tierfabel bemächtigen will: er muß den tierischen Leib pba_216.019 beibehaltend ihm dazu noch Gebärde, Stellung, leidenschaftlichen Ausdruck pba_216.020 des Menschen zu verleihen wissen“. Das dürfte für die Dichtung bedeuten: pba_216.021 indem sie den Tieren Sprache beilegt und sie in Zustände und pba_216.022 Verhältnisse versetzt, die denen der Menschen analog sind, erhebt sie pba_216.023 dieselben zur Menschenähnlichkeit in Bezug auf den einen Faktor der pba_216.024 Handlungen, der sich im praktischen Sinn, dem Weltverstand, der Klugheit, pba_216.025 Überlegung äußert, in Bezug also auf die Dianoia; Ethos und pba_216.026 Empfindung werden zwar auch in die Sphäre des Bewußtseins erhoben, pba_216.027 aber in Bezug auf diese läßt ihnen die Dichtung ihre tierische pba_216.028 Eigenart. Wie schon oben bemerkt, wird damit die freie Wirkung pba_216.029 dieser beiden Faktoren so gut wie ganz eliminiert, die Handlungen der pba_216.030 Tiere erscheinen nach dieser Richtung als von vorneherein bestimmt und pba_216.031 gebunden. Frei sind sie nur nach der Seite der „praktischen“ Überlegung pba_216.032 und interessieren daher auch weit weniger die Empfindung, als pba_216.033 sie die übrigen unmittelbar beim Handeln wirksamen Gemütskräfte beschäftigen: pba_216.034 die ethische Gestaltung des Begehrungsvermögens pba_216.035 und die Willensentscheidung (nach der Aristotelischen Terminologie pba_216.036 die ἕξις ὀρεκτική und προαιρετική). Sie beschäftigen sie, das heißt pba_216.037 nicht etwa sie bestimmen ihre Geltung für das Leben — damit wäre der 1 pba_216.038 Vgl. Jakob Grimm: „Wesen der Tierfabel“. Ausw. d. Kl. Schrft. pba_216.039 S. 353.

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/234>, abgerufen am 31.10.2024.