pba_223.001 durchdringen zu lassen, daß durch ein und dieselbe Handlung beide Empfindungen pba_223.002 zugleich in Erregung versetzt werden, daß also das Wohlgefallen pba_223.003 nicht ohne Lächeln stattfindet und das Lachen die wohlgefällige pba_223.004 Empfindung nicht aufhebt: das geschieht in der humoristischen Darstellungsweise.
pba_223.005
pba_223.006 Der Gattung nach gehört also die Tierfabel zum komischen pba_223.007 Epos, dessen Ziel es ist, durch die Nachahmung von Handlungen die pba_223.008 reinen Empfindungen des Wohlgefälligen und Lächerlichenpba_223.009 zu erregen; ihr Artunterschied besteht darin, daß sie die pba_223.010 Gegensätze des Verkehrten und Zweckgemäßen innerhalb pba_223.011 der ethisch gebundenen Sphäre tierischer Handlungen pba_223.012 zur Empfindung bringt.
pba_223.013 Wie weit von diesem Begriffe der Gattung sich die Erneuerung der pba_223.014 äsopischen Fabel entfernt, welche mit Lessings Namen bezeichnet ist, pba_223.015 wurde schon oben erörtert: nach einer andern Seite zweigt sich diejenige pba_223.016 Art sogenannter Fabeln ab, für welche sein älterer Zeitgenosse, Gellert,pba_223.017 das Vorbild wurde. Bei ihm ist umgekehrt das epische Element fast pba_223.018 durchweg festgehalten, dagegen in den bei weitem meisten Fällen selbst pba_223.019 in der äußerlichen Einkleidung von der Anwendung der Tiere als pba_223.020 handelnder Personen gänzlich abgesehen. Damit ist eine ganz neue pba_223.021 Gattung entstanden: die poetische Erzählung, die allerdings als pba_223.022 solche nicht von Gellert erfunden ist, die aber von ihm am meisten der pba_223.023 damals geltenden Theorie der Fabel angepaßt wurde.
pba_223.024 Nun gab es eine unbefangene Auffassung der Epik zu jener Zeit pba_223.025 überhaupt nicht; sie war durch Gottscheds Lehre von der Dichtkunst, pba_223.026 und in den letzten Gründen ihrer Theorie auch von den Schweizern, pba_223.027 ganz in den Dienst der Moral und Didaktik gestellt. Welche Form der pba_223.028 Dichtung aber konnte sich leichter solchen Zwecken fügen als die Erzählung pba_223.029 einer einzelnen Handlung, zumal es so unendlich viel geringere pba_223.030 Kunst und Einsicht verlangt, durch eine ernsthafte oder komische Erzählung pba_223.031 eine allgemeine Wahrheit ins Licht zu setzen, als durch eine "poetische pba_223.032 Erzählung" den dieser Gattung eigenen ästhetischen Genuß -- ten pba_223.033 oikeian edonen -- zu erwecken. Das Erstere haben Hunderte von pba_223.034 Dichtern vermocht, das Zweite ist nur sehr wenigen, den Allerbesten, pba_223.035 gelungen.
pba_223.001 durchdringen zu lassen, daß durch ein und dieselbe Handlung beide Empfindungen pba_223.002 zugleich in Erregung versetzt werden, daß also das Wohlgefallen pba_223.003 nicht ohne Lächeln stattfindet und das Lachen die wohlgefällige pba_223.004 Empfindung nicht aufhebt: das geschieht in der humoristischen Darstellungsweise.
pba_223.005
pba_223.006 Der Gattung nach gehört also die Tierfabel zum komischen pba_223.007 Epos, dessen Ziel es ist, durch die Nachahmung von Handlungen die pba_223.008 reinen Empfindungen des Wohlgefälligen und Lächerlichenpba_223.009 zu erregen; ihr Artunterschied besteht darin, daß sie die pba_223.010 Gegensätze des Verkehrten und Zweckgemäßen innerhalb pba_223.011 der ethisch gebundenen Sphäre tierischer Handlungen pba_223.012 zur Empfindung bringt.
pba_223.013 Wie weit von diesem Begriffe der Gattung sich die Erneuerung der pba_223.014 äsopischen Fabel entfernt, welche mit Lessings Namen bezeichnet ist, pba_223.015 wurde schon oben erörtert: nach einer andern Seite zweigt sich diejenige pba_223.016 Art sogenannter Fabeln ab, für welche sein älterer Zeitgenosse, Gellert,pba_223.017 das Vorbild wurde. Bei ihm ist umgekehrt das epische Element fast pba_223.018 durchweg festgehalten, dagegen in den bei weitem meisten Fällen selbst pba_223.019 in der äußerlichen Einkleidung von der Anwendung der Tiere als pba_223.020 handelnder Personen gänzlich abgesehen. Damit ist eine ganz neue pba_223.021 Gattung entstanden: die poetische Erzählung, die allerdings als pba_223.022 solche nicht von Gellert erfunden ist, die aber von ihm am meisten der pba_223.023 damals geltenden Theorie der Fabel angepaßt wurde.
pba_223.024 Nun gab es eine unbefangene Auffassung der Epik zu jener Zeit pba_223.025 überhaupt nicht; sie war durch Gottscheds Lehre von der Dichtkunst, pba_223.026 und in den letzten Gründen ihrer Theorie auch von den Schweizern, pba_223.027 ganz in den Dienst der Moral und Didaktik gestellt. Welche Form der pba_223.028 Dichtung aber konnte sich leichter solchen Zwecken fügen als die Erzählung pba_223.029 einer einzelnen Handlung, zumal es so unendlich viel geringere pba_223.030 Kunst und Einsicht verlangt, durch eine ernsthafte oder komische Erzählung pba_223.031 eine allgemeine Wahrheit ins Licht zu setzen, als durch eine „poetische pba_223.032 Erzählung“ den dieser Gattung eigenen ästhetischen Genuß — τὴν pba_223.033 οἰκείαν ἡδονήν — zu erwecken. Das Erstere haben Hunderte von pba_223.034 Dichtern vermocht, das Zweite ist nur sehr wenigen, den Allerbesten, pba_223.035 gelungen.
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pba_223.001
durchdringen zu lassen, daß durch ein und dieselbe Handlung beide Empfindungen pba_223.002
zugleich in Erregung versetzt werden, daß also das Wohlgefallen pba_223.003
nicht ohne Lächeln stattfindet und das Lachen die wohlgefällige pba_223.004
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pba_223.005
pba_223.006
Der Gattung nach gehört also die Tierfabel zum komischen pba_223.007
Epos, dessen Ziel es ist, durch die Nachahmung von Handlungen die pba_223.008
reinen Empfindungen des Wohlgefälligen und Lächerlichen pba_223.009
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äsopischen Fabel entfernt, welche mit Lessings Namen bezeichnet ist, pba_223.015
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/241>, abgerufen am 23.11.2024.
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