pba_293.001 und ganzen einer Kontinuität zugehörig sich darstellten; mit derselben pba_293.002 Sicherheit aber wird man anzunehmen haben, daß bei den tief eingreifenden pba_293.003 Wandlungen der Sage, welche unmöglich immerfort gleichzeitig sich pba_293.004 über den gesamten vorhandenen Bestand der Lieder erstrecken konnten, pba_293.005 während sie doch durch eine Reihe von Jahrhunderten sich hinziehen, in pba_293.006 diesen Liedern sich die stärksten Divergenzen herausgebildet haben, bis zur pba_293.007 völligen Verwischung einer großen Zahl von Motiven. Vor allem aber pba_293.008 wird festzuhalten sein, daß, wie groß oder wie klein man sich die Anzahl pba_293.009 der vorhandenen und fortgesungenen Lieder denken mag, ein jedes pba_293.010 derselben einzig und allein darin seine Entstehung gehabt, wie auch seine pba_293.011 Fortexistenz haben konnte, daß es ganz ohne alle Rücksicht auf pba_293.012 Vorhergehendes oder Folgendes für sich selbst ein Ganzes pba_293.013 bildete, in sich also seinen Bestand besaß. Diesen Bestand als Ganzes pba_293.014 empfängt das Lied durch seinen Liedeszweck, durch das telos mimeseos, pba_293.015 durch die das Nachahmungsmaterial in Bewegung setzende Absicht des pba_293.016 Sängers. Diese ist die organisierende und beseelende Kraft, sie schöpft pba_293.017 aus dem der Zeit des Sängers im Bewußtsein schwebenden Sagenkomplex pba_293.018 und rundet zum Ganzen, indem sie ganz ähnlich wie in der Balladepba_293.019 für die Erzeugung des nachzuahmenden Ethos alles Erforderliche, wenn pba_293.020 auch in knappster Kürze, herbeischafft und mit der Herstellung desselben pba_293.021 ihr Werk abschließt, so daß ein weiteres nicht allein nicht erfordert, pba_293.022 sondern notwendig wenigstens von dem selbständigen und abgeschlossenen pba_293.023 Organismus dieses Liedes ausgeschlossen wird. Es liegt in der Natur pba_293.024 solcher Lieder, daß nur einzelne Gipfelpunkte aus dem Gesamtgebiete pba_293.025 der Sage in ihnen dargestellt werden können; die verbindenden Bergzüge pba_293.026 und Kämme, die gliedernden Senkungen, Einschnitte und Thäler pba_293.027 werden nicht darin aufgenommen werden können; eben dieses ist der pba_293.028 Grund, warum bei solcher Fortpflanzung des Sagenstoffes in Liedern pba_293.029 die bedeutendsten und eingreifendsten Änderungen der Hauptmotive so pba_293.030 leicht stattfinden können, denn, um in dem früheren Bilde zu bleiben, pba_293.031 man kann auf einen und denselben Gipfel eben von den verschiedensten pba_293.032 Seiten hinaufgelangen. So ist es nicht allein sehr wohl denkbar, sondern pba_293.033 als gewiß anzunehmen, daß es Lieder gegeben haben wird von Siegfrieds pba_293.034 Kampf mit Brunhilde, und zwar zu den verschiedenen Zeiten sehr verschieden pba_293.035 lautende, ebenso von der Jagd im Odenwalde und von Siegfrieds pba_293.036 Ermordung, auch, seitdem die Sage sich so weit entwickelt hatte, pba_293.037 mannigfache Lieder, die den Kampf der Burgunden mit den Heunen pba_293.038 betrafen, aber jedes dieser Lieder für sich bestehend mit neuer, selbständiger pba_293.039 Einführung der Personen und Dinge; dagegen ist es völlig pba_293.040 undenkbar, daß Ereignisse und Teile der Handlung, welche einen ledig-
pba_293.001 und ganzen einer Kontinuität zugehörig sich darstellten; mit derselben pba_293.002 Sicherheit aber wird man anzunehmen haben, daß bei den tief eingreifenden pba_293.003 Wandlungen der Sage, welche unmöglich immerfort gleichzeitig sich pba_293.004 über den gesamten vorhandenen Bestand der Lieder erstrecken konnten, pba_293.005 während sie doch durch eine Reihe von Jahrhunderten sich hinziehen, in pba_293.006 diesen Liedern sich die stärksten Divergenzen herausgebildet haben, bis zur pba_293.007 völligen Verwischung einer großen Zahl von Motiven. Vor allem aber pba_293.008 wird festzuhalten sein, daß, wie groß oder wie klein man sich die Anzahl pba_293.009 der vorhandenen und fortgesungenen Lieder denken mag, ein jedes pba_293.010 derselben einzig und allein darin seine Entstehung gehabt, wie auch seine pba_293.011 Fortexistenz haben konnte, daß es ganz ohne alle Rücksicht auf pba_293.012 Vorhergehendes oder Folgendes für sich selbst ein Ganzes pba_293.013 bildete, in sich also seinen Bestand besaß. Diesen Bestand als Ganzes pba_293.014 empfängt das Lied durch seinen Liedeszweck, durch das τέλος μιμήσεως, pba_293.015 durch die das Nachahmungsmaterial in Bewegung setzende Absicht des pba_293.016 Sängers. Diese ist die organisierende und beseelende Kraft, sie schöpft pba_293.017 aus dem der Zeit des Sängers im Bewußtsein schwebenden Sagenkomplex pba_293.018 und rundet zum Ganzen, indem sie ganz ähnlich wie in der Balladepba_293.019 für die Erzeugung des nachzuahmenden Ethos alles Erforderliche, wenn pba_293.020 auch in knappster Kürze, herbeischafft und mit der Herstellung desselben pba_293.021 ihr Werk abschließt, so daß ein weiteres nicht allein nicht erfordert, pba_293.022 sondern notwendig wenigstens von dem selbständigen und abgeschlossenen pba_293.023 Organismus dieses Liedes ausgeschlossen wird. Es liegt in der Natur pba_293.024 solcher Lieder, daß nur einzelne Gipfelpunkte aus dem Gesamtgebiete pba_293.025 der Sage in ihnen dargestellt werden können; die verbindenden Bergzüge pba_293.026 und Kämme, die gliedernden Senkungen, Einschnitte und Thäler pba_293.027 werden nicht darin aufgenommen werden können; eben dieses ist der pba_293.028 Grund, warum bei solcher Fortpflanzung des Sagenstoffes in Liedern pba_293.029 die bedeutendsten und eingreifendsten Änderungen der Hauptmotive so pba_293.030 leicht stattfinden können, denn, um in dem früheren Bilde zu bleiben, pba_293.031 man kann auf einen und denselben Gipfel eben von den verschiedensten pba_293.032 Seiten hinaufgelangen. So ist es nicht allein sehr wohl denkbar, sondern pba_293.033 als gewiß anzunehmen, daß es Lieder gegeben haben wird von Siegfrieds pba_293.034 Kampf mit Brunhilde, und zwar zu den verschiedenen Zeiten sehr verschieden pba_293.035 lautende, ebenso von der Jagd im Odenwalde und von Siegfrieds pba_293.036 Ermordung, auch, seitdem die Sage sich so weit entwickelt hatte, pba_293.037 mannigfache Lieder, die den Kampf der Burgunden mit den Heunen pba_293.038 betrafen, aber jedes dieser Lieder für sich bestehend mit neuer, selbständiger pba_293.039 Einführung der Personen und Dinge; dagegen ist es völlig pba_293.040 undenkbar, daß Ereignisse und Teile der Handlung, welche einen ledig-
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und ganzen einer Kontinuität zugehörig sich darstellten; mit derselben pba_293.002
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Wandlungen der Sage, welche unmöglich immerfort gleichzeitig sich pba_293.004
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Kampf mit Brunhilde, und zwar zu den verschiedenen Zeiten sehr verschieden pba_293.035
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/311>, abgerufen am 22.11.2024.
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