pba_316.001 aller echten Poesie -- die Darstellung des Besondern in lebendigster pba_316.002 Gegenwärtigkeit zugleich mit der Wirklichkeit wetteifert und doch überall pba_316.003 das Allgemeine in sich schließt, so daß "wer jenes lebendig erfaßt, pba_316.004 zugleich auch dieses erhält, selbst ohne es gewahr zu werden."1 Das pba_316.005 geschieht, indem die Poesie ebensowohl durch ihre Form als durch ihren pba_316.006 Jnhalt überall von den Dingen das für die menschliche Seele Bedeutsamste pba_316.007 und Ergreifendste in der prägnantesten Weise nachahmend zum pba_316.008 Ausdruck bringt, und es von seiten seiner entschiedensten und reinsten pba_316.009 Wirkung auf die Empfindungen, Gemütszustände und Entschließungen pba_316.010 darstellt: somit diese Wirkungen, wie sie im Leben wohl auch in manchen pba_316.011 Fällen, jedoch selbst da zerstückt und mannigfach durchkreuzt erfahren pba_316.012 werden, durch die Kunst nachahmt, in vollem und reinem Accord pba_316.013 hervorbringend, was in der Wirklichkeit vielstimmig und mißtönend pba_316.014 durcheinander klingt.
pba_316.015 Aber die Hindernisse, welche der Entwickelung des komischen Epos pba_316.016 entgegenstehen, konnten ihrer Natur nach nicht im Wege sein, wo es pba_316.017 die Darstellung einer einzelnen komischen Handlung galt: das ist die pba_316.018 Aufgabe der komischen Erzählung, des Schwankes. Es ist schon pba_316.019 oben hervorgehoben worden, wie diese Gattung sich auf ihrer Höhe nur pba_316.020 so lange hält, als sie ihrem Wesen getreu bleibt, welches in der Reinheit pba_316.021 des epischen Tones beruht, in der Erzählung um ihrer pba_316.022 selbst willen. Andererseits aber ist es leicht zu ersehen, wie es geschieht, pba_316.023 daß selbst da ihr eine gewisse Verwandtschaft mit der Moral pba_316.024 und Lehre natürlich ist, die es gestattet, daß ganz unbeschadet jener pba_316.025 epischen Reinheit der Erzählung ihr sogar eine kurze Formulierung pba_316.026 solcher Moral oder Lehre hinzugefügt werden kann. Es geschieht damit pba_316.027 weiter nichts, als daß der lebhaften Empfindung des positiven Widerspieles pba_316.028 der dargestellten Fehlerhaftigkeit, der wohlgefällig empfundenen pba_316.029 "Realität" gegenüber dem mit Behagen wahrgenommenen Lächerlichen, pba_316.030 nun zu einem kernigen Ausdruck verholfen wird, wodurch sie desto klarer pba_316.031 ins Bewußtsein tritt. So hat Hans Sachs die komische Erzählung pba_316.032 behandelt, und so hat, lebhaft durch ihn angeregt, es Goethe gethan. pba_316.033 Aus seinem herrlichen Gedicht von "Hans Sachsens poetischer pba_316.034 Sendung" läßt sich die ganze Theorie der Gattung ableiten.
pba_316.035 Wie schön und treffend, daß vor Allem die positive Seite in pba_316.036 der poetischen Begabung des für diese Gattung "gesandten" Dichters pba_316.037 hervorgehoben wird, recht im Gegensatze zu denjenigen, welche seinen
1pba_316.038 Vgl. Goethe, Sprüche. Ethisches IV, Nr. 363 und Kunst I, 671.
pba_316.001 aller echten Poesie — die Darstellung des Besondern in lebendigster pba_316.002 Gegenwärtigkeit zugleich mit der Wirklichkeit wetteifert und doch überall pba_316.003 das Allgemeine in sich schließt, so daß „wer jenes lebendig erfaßt, pba_316.004 zugleich auch dieses erhält, selbst ohne es gewahr zu werden.“1 Das pba_316.005 geschieht, indem die Poesie ebensowohl durch ihre Form als durch ihren pba_316.006 Jnhalt überall von den Dingen das für die menschliche Seele Bedeutsamste pba_316.007 und Ergreifendste in der prägnantesten Weise nachahmend zum pba_316.008 Ausdruck bringt, und es von seiten seiner entschiedensten und reinsten pba_316.009 Wirkung auf die Empfindungen, Gemütszustände und Entschließungen pba_316.010 darstellt: somit diese Wirkungen, wie sie im Leben wohl auch in manchen pba_316.011 Fällen, jedoch selbst da zerstückt und mannigfach durchkreuzt erfahren pba_316.012 werden, durch die Kunst nachahmt, in vollem und reinem Accord pba_316.013 hervorbringend, was in der Wirklichkeit vielstimmig und mißtönend pba_316.014 durcheinander klingt.
pba_316.015 Aber die Hindernisse, welche der Entwickelung des komischen Epos pba_316.016 entgegenstehen, konnten ihrer Natur nach nicht im Wege sein, wo es pba_316.017 die Darstellung einer einzelnen komischen Handlung galt: das ist die pba_316.018 Aufgabe der komischen Erzählung, des Schwankes. Es ist schon pba_316.019 oben hervorgehoben worden, wie diese Gattung sich auf ihrer Höhe nur pba_316.020 so lange hält, als sie ihrem Wesen getreu bleibt, welches in der Reinheit pba_316.021 des epischen Tones beruht, in der Erzählung um ihrer pba_316.022 selbst willen. Andererseits aber ist es leicht zu ersehen, wie es geschieht, pba_316.023 daß selbst da ihr eine gewisse Verwandtschaft mit der Moral pba_316.024 und Lehre natürlich ist, die es gestattet, daß ganz unbeschadet jener pba_316.025 epischen Reinheit der Erzählung ihr sogar eine kurze Formulierung pba_316.026 solcher Moral oder Lehre hinzugefügt werden kann. Es geschieht damit pba_316.027 weiter nichts, als daß der lebhaften Empfindung des positiven Widerspieles pba_316.028 der dargestellten Fehlerhaftigkeit, der wohlgefällig empfundenen pba_316.029 „Realität“ gegenüber dem mit Behagen wahrgenommenen Lächerlichen, pba_316.030 nun zu einem kernigen Ausdruck verholfen wird, wodurch sie desto klarer pba_316.031 ins Bewußtsein tritt. So hat Hans Sachs die komische Erzählung pba_316.032 behandelt, und so hat, lebhaft durch ihn angeregt, es Goethe gethan. pba_316.033 Aus seinem herrlichen Gedicht von „Hans Sachsens poetischer pba_316.034 Sendung“ läßt sich die ganze Theorie der Gattung ableiten.
pba_316.035 Wie schön und treffend, daß vor Allem die positive Seite in pba_316.036 der poetischen Begabung des für diese Gattung „gesandten“ Dichters pba_316.037 hervorgehoben wird, recht im Gegensatze zu denjenigen, welche seinen
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aller echten Poesie — die Darstellung des Besondern in lebendigster pba_316.002
Gegenwärtigkeit zugleich mit der Wirklichkeit wetteifert und doch überall pba_316.003
das Allgemeine in sich schließt, so daß „wer jenes lebendig erfaßt, pba_316.004
zugleich auch dieses erhält, selbst ohne es gewahr zu werden.“ 1 Das pba_316.005
geschieht, indem die Poesie ebensowohl durch ihre Form als durch ihren pba_316.006
Jnhalt überall von den Dingen das für die menschliche Seele Bedeutsamste pba_316.007
und Ergreifendste in der prägnantesten Weise nachahmend zum pba_316.008
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Aber die Hindernisse, welche der Entwickelung des komischen Epos pba_316.016
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Aus seinem herrlichen Gedicht von „Hans Sachsens poetischer pba_316.034
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pba_316.035
Wie schön und treffend, daß vor Allem die positive Seite in pba_316.036
der poetischen Begabung des für diese Gattung „gesandten“ Dichters pba_316.037
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1 pba_316.038
Vgl. Goethe, Sprüche. Ethisches IV, Nr. 363 und Kunst I, 671.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/334>, abgerufen am 22.11.2024.
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