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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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durch unwillkürlich und wie durch magischen Zwang in diejenigen Zeiten pba_328.002
und Sittenzustände zurückversetzt, deren Schilderung die nächste Aufgabe pba_328.003
des Dichters ist. Wir verstehen den Geist dieser Zeiten selbst in seiner pba_328.004
detailliertesten Entfaltung gleichsam plötzlich und ohne gelehrte Jnterpretation pba_328.005
besser als durch langatmige historische und antiquarische Auseinandersetzungen; pba_328.006
wir verkehren mit dem Ritter und der Priorin, mit pba_328.007
dem Bettelmönch und dem Ablaßkrämer wie mit alten Bekannten, als pba_328.008
sähen wir sie täglich; als hätten wir sie erst gestern gesehen."

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"Es versteht sich von selbst, daß die Beobachtungsgabe des Dichters, pba_328.010
durch den Verkehr mit vielerlei Menschen am Hof, im Felde und auf pba_328.011
Reisen geschärft, ihm unendlich mehr Eindrücke von Unzulänglichem, pba_328.012
Verkehrtem, Hinfälligem zugeführt hat als von Vollendetem, Schönem, pba_328.013
Erhabenem. Er verschließt sich nun zwar weder der aufrichtigen Begeisterung pba_328.014
für das Edle, noch dem tiefen Abscheu gegen das Böse. Er pba_328.015
hält der Tugend einen ebenso getreuen Spiegel vor als dem Laster. pba_328.016
Aber die natürliche Heiterkeit des Dichters, die Grundstimmung seines pba_328.017
Gemütes, wendet sich am liebsten den gemischten und unvollendeten pba_328.018
Charakteren zu, die das Leben bunt und unterhaltend machen -- und pba_328.019
die einen Spaß vertragen."

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Aber wenn ohne Frage Chaucers Hauptstärke in seiner komischen pba_328.021
Charakterzeichnung liegt, so ist doch weder seine Satire einseitig und pba_328.022
pedantisch oder lehrhaft, noch seine Jronie überhebend oder superklug, pba_328.023
sondern durchweg objektiv und immer heiter: "es liegt darin das gutmütige pba_328.024
Eingeständnis, daß Jedermann hienieden, daß auch er, der Dichter, pba_328.025
sein Stückchen Thorheit trage, daß wir alle des Ruhmes mangeln, den pba_328.026
wir haben sollen, nicht nur weil wir allzumal Sünder, sondern auch -- pba_328.027
mehr oder weniger -- allzumal Narren sind. Damit ist auf den feinsten pba_328.028
und merkwürdigsten Zug in Chaucers dichterischem Charakter hingewiesen pba_328.029
-- auf einen Zug, der von allen Dichtern der Welt bei ihm zuerst pba_328.030
zur klaren Entfaltung gekommen, der seitdem der eigenste und ohne pba_328.031
Zweifel der liebenswürdigste Zug des englischen Volkscharakters geworden pba_328.032
ist: Chaucer ist der erste Humorist."

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Dieser große Dichter hat weder in England noch sonst irgendwo pba_328.034
seinesgleichen gefunden; die humoristische poetische Erzählung wie vollends pba_328.035
das komische Epos sind verkümmerte Zweige am Baum der Poesie geblieben. pba_328.036
Die berühmten, sogenannten Musterstücke der Gattung verdanken pba_328.037
ihr Ansehen entweder ganz und gar dem parodisch-satirischen pba_328.038
Element wie Tassonis "Eimerraub", Boileaus "Lutrin" oder Popes pba_328.039
"Lockenraub", oder sie sind rein satirisch und einseitig eifernd wie pba_328.040
Butlers "Hudibras", oder lediglich Burlesken wie Kortüms "Jobsiade",

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durch unwillkürlich und wie durch magischen Zwang in diejenigen Zeiten pba_328.002
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des Dichters ist. Wir verstehen den Geist dieser Zeiten selbst in seiner pba_328.004
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„Es versteht sich von selbst, daß die Beobachtungsgabe des Dichters, pba_328.010
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Aber wenn ohne Frage Chaucers Hauptstärke in seiner komischen pba_328.021
Charakterzeichnung liegt, so ist doch weder seine Satire einseitig und pba_328.022
pedantisch oder lehrhaft, noch seine Jronie überhebend oder superklug, pba_328.023
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/346>, abgerufen am 22.11.2024.