pba_327.001 sam, ganz unschätzbar, um gleichsam als unfehlbar wirkende Reagentien pba_327.002 allen falschen Schein, alles erkünstelte, aufgebauschte Wesen, alle unberechtigte pba_327.003 Konvenienz und Prätension aufzulösen und in ihr Nichts zu pba_327.004 verflüchtigen. Die starke vis comica dieser Dinge liegt zum großen pba_327.005 Teil in dem immerwährenden Kontrast ihrer ewig die gleiche Berechtigung pba_327.006 verlangenden Natur zu der dennoch fortwährend mit allen Kräften aufrecht pba_327.007 gehaltenen Fiktion, als seien vielmehr die künstlichen Zustände, in pba_327.008 denen wir uns bewegen, die allein gültigen und berechtigten. Es ist pba_327.009 daher ganz konsequent gehandelt, daß die komische Dichtung mit Vorliebe pba_327.010 nach den Ständen und Lebenszuständen greift, unter denen jene pba_327.011 Fiktion entweder gar nicht oder doch in bei weitem geringerer Ausdehnung pba_327.012 Geltung hat.
pba_327.013 Aber was Chaucer zum wahrhaft großen Dichter macht, ist vor pba_327.014 Allem der Umstand, daß seine Poesie sich keineswegs auf die witzige pba_327.015 oder pikante Hervorhebung des Negativen einschränkt, sondern daß, der pba_327.016 echten Natur des Komischen gemäß, das Positive bei ihm zu seinem vollen pba_327.017 Rechte kommt: "Die Schwungkraft seines Genius durchbricht -- und pba_327.018 nicht bloß an vereinzelten Stellen -- die konventionellen Schranken seiner pba_327.019 Zeit und erhebt sich über dieselben zu den reinen Höhen der idealen pba_327.020 Form. Waldesgrün, Maienwonne und Vogelsang sind zwar Stoffe, an pba_327.021 denen sich die mittelalterliche Lyrik müde gesungen hat. Aber Chaucer pba_327.022 weiß sie ebenso anspruchslos wie innig, ebenso wahr als frisch zu erneuen. pba_327.023 Und außerdem erschließt er uns noch andere Schätze, von denen uns pba_327.024 jene Sänger wenig zu künden wissen: die reine Unschuld des jungfräulichen pba_327.025 Herzens, die ungeschminkte und ungekünstelte Frömmigkeit, die pba_327.026 stille Gottergebenheit der Mutter, die für das Leben ihres Säuglings pba_327.027 bebt. Hier gewinnt sein Ausdruck eine Zartheit, Reinheit und Vollendung, pba_327.028 die sich den köstlichsten Perlen aller Litteraturen anreihen läßt."
pba_327.029 Zum höchsten dichterischen Range erhebt ihn aber vor Allem "die pba_327.030 aus der feinsten sinnlichen wie psychischen Beobachtungsgabe entspringende pba_327.031 Fähigkeit, die Wechselbeziehungen zwischen den Details der äußeren Erscheinung pba_327.032 eines Menschen und den dieser Erscheinung entsprechenden pba_327.033 Charakterzügen rasch aufzufassen und scharf und schlagend darzustellen" ... pba_327.034 "Chaucers Charakteristiken lösen eins der schwierigsten Probleme der pba_327.035 Kunst: sie sind individuell und typisch zugleich; das heißt, sie machen pba_327.036 auf uns einerseits den Eindruck einer konkreten lebendigen Persönlichkeit pba_327.037 und stellen doch andrerseits eine ganze Klasse von Personen dar, und pba_327.038 da sie die Darstellung der äußeren Erscheinung an solche Eigentümlichkeiten pba_327.039 des menschlichen Geistes knüpfen, die zu allen Zeiten, wenn auch pba_327.040 unter anderen Formen, wesentlich dieselben bleiben, so werden wir da-
pba_327.001 sam, ganz unschätzbar, um gleichsam als unfehlbar wirkende Reagentien pba_327.002 allen falschen Schein, alles erkünstelte, aufgebauschte Wesen, alle unberechtigte pba_327.003 Konvenienz und Prätension aufzulösen und in ihr Nichts zu pba_327.004 verflüchtigen. Die starke vis comica dieser Dinge liegt zum großen pba_327.005 Teil in dem immerwährenden Kontrast ihrer ewig die gleiche Berechtigung pba_327.006 verlangenden Natur zu der dennoch fortwährend mit allen Kräften aufrecht pba_327.007 gehaltenen Fiktion, als seien vielmehr die künstlichen Zustände, in pba_327.008 denen wir uns bewegen, die allein gültigen und berechtigten. Es ist pba_327.009 daher ganz konsequent gehandelt, daß die komische Dichtung mit Vorliebe pba_327.010 nach den Ständen und Lebenszuständen greift, unter denen jene pba_327.011 Fiktion entweder gar nicht oder doch in bei weitem geringerer Ausdehnung pba_327.012 Geltung hat.
pba_327.013 Aber was Chaucer zum wahrhaft großen Dichter macht, ist vor pba_327.014 Allem der Umstand, daß seine Poesie sich keineswegs auf die witzige pba_327.015 oder pikante Hervorhebung des Negativen einschränkt, sondern daß, der pba_327.016 echten Natur des Komischen gemäß, das Positive bei ihm zu seinem vollen pba_327.017 Rechte kommt: „Die Schwungkraft seines Genius durchbricht — und pba_327.018 nicht bloß an vereinzelten Stellen — die konventionellen Schranken seiner pba_327.019 Zeit und erhebt sich über dieselben zu den reinen Höhen der idealen pba_327.020 Form. Waldesgrün, Maienwonne und Vogelsang sind zwar Stoffe, an pba_327.021 denen sich die mittelalterliche Lyrik müde gesungen hat. Aber Chaucer pba_327.022 weiß sie ebenso anspruchslos wie innig, ebenso wahr als frisch zu erneuen. pba_327.023 Und außerdem erschließt er uns noch andere Schätze, von denen uns pba_327.024 jene Sänger wenig zu künden wissen: die reine Unschuld des jungfräulichen pba_327.025 Herzens, die ungeschminkte und ungekünstelte Frömmigkeit, die pba_327.026 stille Gottergebenheit der Mutter, die für das Leben ihres Säuglings pba_327.027 bebt. Hier gewinnt sein Ausdruck eine Zartheit, Reinheit und Vollendung, pba_327.028 die sich den köstlichsten Perlen aller Litteraturen anreihen läßt.“
pba_327.029 Zum höchsten dichterischen Range erhebt ihn aber vor Allem „die pba_327.030 aus der feinsten sinnlichen wie psychischen Beobachtungsgabe entspringende pba_327.031 Fähigkeit, die Wechselbeziehungen zwischen den Details der äußeren Erscheinung pba_327.032 eines Menschen und den dieser Erscheinung entsprechenden pba_327.033 Charakterzügen rasch aufzufassen und scharf und schlagend darzustellen“ ... pba_327.034 „Chaucers Charakteristiken lösen eins der schwierigsten Probleme der pba_327.035 Kunst: sie sind individuell und typisch zugleich; das heißt, sie machen pba_327.036 auf uns einerseits den Eindruck einer konkreten lebendigen Persönlichkeit pba_327.037 und stellen doch andrerseits eine ganze Klasse von Personen dar, und pba_327.038 da sie die Darstellung der äußeren Erscheinung an solche Eigentümlichkeiten pba_327.039 des menschlichen Geistes knüpfen, die zu allen Zeiten, wenn auch pba_327.040 unter anderen Formen, wesentlich dieselben bleiben, so werden wir da-
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Zum höchsten dichterischen Range erhebt ihn aber vor Allem „die pba_327.030
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„Chaucers Charakteristiken lösen eins der schwierigsten Probleme der pba_327.035
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/345>, abgerufen am 22.11.2024.
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