pba_326.001 ahmung Chaucer so nahe lag. Man würde dadurch Chaucer im höchsten pba_326.002 Grade unrecht thun. Boccaccio ist bei seiner blendenden und gleichmäßig pba_326.003 gefeilten -- niemals plumpen Diktion dennoch im Herzen lasciv. pba_326.004 Er ist schlüpfrig, lüstern und darum wirklich unsittlich und gefährlich. pba_326.005 Bei Chaucer dagegen ist von Lüsternheit nirgends die geringste Spur. pba_326.006 Es kommt ihm nicht entfernt in den Sinn, sich in verblümten, aber pba_326.007 eben darum verführerischen Situationen zu ergehen, wie jener es mit pba_326.008 Vorliebe thut. Er läßt zu Zeiten ein unschickliches, sehr unschickliches pba_326.009 Wort fallen, aber er ist nicht unsittlich. Man mag die betreffenden pba_326.010 Stellen roh, ungeschlacht, pöbelhaft nennen, der gebildete Anstandssinn pba_326.011 mag dabei erschrecken: die Unschuld und Tugend ist sicher vor ihm -- pba_326.012 ebenso sicher wie bei den groben Späßen Eulenspiegels und was pba_326.013 sonst aus unserer älteren deutschen Volkslitteratur in dieselbe Rubrik pba_326.014 gehört. Könnte es nach dem eben Gesagten noch zweifelhaft sein, daß pba_326.015 wir es in der That hier mit dem noch unversöhnten Gegensatz der bis pba_326.016 dahin nur den niederen Volksschichten eigenen plattdeutschen Weise und pba_326.017 des feinen Tons der französisch gebildeten adeligen Cirkel zu thun haben, pba_326.018 so würde er uns selbst darüber durch die denkwürdigen Worte belehren, pba_326.019 mit welchen er an einer Stelle der Canterbury-Geschichten sich pba_326.020 wegen dieser groben Manieren entschuldigt (vgl. Prolog des Müllers, pba_326.021 V. 3167): ,Es sind die Sitten der Bauern, die ich schildere; ich kann pba_326.022 den Bauer nicht adeln; feine Leute mögen diese Geschichten überschlagen; pba_326.023 sie werden genug Anderes nach ihrem Geschmack in dem Buche finden.'"
pba_326.024 Es läßt sich an diese geistreiche Schilderung von Chaucers Eigenart pba_326.025 und historischer Stellung eine tiefer eingreifende Frage und ihre Beantwortung pba_326.026 anknüpfen: die Frage nach der Berechtigung des Elementes pba_326.027 der Derbheit, ja selbst starker Verletzungen des sonst geltenden Anstandes pba_326.028 in der Poesie, die erfahrungsmäßig diese kräftige Würze als Jngrediens pba_326.029 sehr wohl verträgt. Alle Zeiten und Völker haben sich daran ergötzt, pba_326.030 keine Kultur vermag die hier enthaltene komische Kraft abzuschwächen, pba_326.031 und die genialsten komischen Dichter haben von jeher am rückhaltlosesten pba_326.032 davon Gebrauch gemacht. Jn der That läßt sich kein Gebiet denken, pba_326.033 wo so wie hier die Vorstellungen des Fehlerhaften und Häßlichen so pba_326.034 eng und unmittelbar verbunden mit denen des Positiven, Gesunden, pba_326.035 Normalen liegen wie auf dem Gebiet der derben Natürlichkeiten; keines, pba_326.036 auf dem mit den allereinfachsten Mitteln so schnell und so scharf die pba_326.037 überzeugendste Charakteristik erreicht werden kann. Ein und dasselbe pba_326.038 kann hier, je nach den Umständen höchste Unschuld, einfache Natur oder pba_326.039 Roheit, Entartung, Verwilderung bezeichnen; andrerseits sind die lediglich pba_326.040 körperlichen Verhältnisse und Umstände, als allen Menschen gemein-
pba_326.001 ahmung Chaucer so nahe lag. Man würde dadurch Chaucer im höchsten pba_326.002 Grade unrecht thun. Boccaccio ist bei seiner blendenden und gleichmäßig pba_326.003 gefeilten — niemals plumpen Diktion dennoch im Herzen lasciv. pba_326.004 Er ist schlüpfrig, lüstern und darum wirklich unsittlich und gefährlich. pba_326.005 Bei Chaucer dagegen ist von Lüsternheit nirgends die geringste Spur. pba_326.006 Es kommt ihm nicht entfernt in den Sinn, sich in verblümten, aber pba_326.007 eben darum verführerischen Situationen zu ergehen, wie jener es mit pba_326.008 Vorliebe thut. Er läßt zu Zeiten ein unschickliches, sehr unschickliches pba_326.009 Wort fallen, aber er ist nicht unsittlich. Man mag die betreffenden pba_326.010 Stellen roh, ungeschlacht, pöbelhaft nennen, der gebildete Anstandssinn pba_326.011 mag dabei erschrecken: die Unschuld und Tugend ist sicher vor ihm — pba_326.012 ebenso sicher wie bei den groben Späßen Eulenspiegels und was pba_326.013 sonst aus unserer älteren deutschen Volkslitteratur in dieselbe Rubrik pba_326.014 gehört. Könnte es nach dem eben Gesagten noch zweifelhaft sein, daß pba_326.015 wir es in der That hier mit dem noch unversöhnten Gegensatz der bis pba_326.016 dahin nur den niederen Volksschichten eigenen plattdeutschen Weise und pba_326.017 des feinen Tons der französisch gebildeten adeligen Cirkel zu thun haben, pba_326.018 so würde er uns selbst darüber durch die denkwürdigen Worte belehren, pba_326.019 mit welchen er an einer Stelle der Canterbury-Geschichten sich pba_326.020 wegen dieser groben Manieren entschuldigt (vgl. Prolog des Müllers, pba_326.021 V. 3167): ‚Es sind die Sitten der Bauern, die ich schildere; ich kann pba_326.022 den Bauer nicht adeln; feine Leute mögen diese Geschichten überschlagen; pba_326.023 sie werden genug Anderes nach ihrem Geschmack in dem Buche finden.‘“
pba_326.024 Es läßt sich an diese geistreiche Schilderung von Chaucers Eigenart pba_326.025 und historischer Stellung eine tiefer eingreifende Frage und ihre Beantwortung pba_326.026 anknüpfen: die Frage nach der Berechtigung des Elementes pba_326.027 der Derbheit, ja selbst starker Verletzungen des sonst geltenden Anstandes pba_326.028 in der Poesie, die erfahrungsmäßig diese kräftige Würze als Jngrediens pba_326.029 sehr wohl verträgt. Alle Zeiten und Völker haben sich daran ergötzt, pba_326.030 keine Kultur vermag die hier enthaltene komische Kraft abzuschwächen, pba_326.031 und die genialsten komischen Dichter haben von jeher am rückhaltlosesten pba_326.032 davon Gebrauch gemacht. Jn der That läßt sich kein Gebiet denken, pba_326.033 wo so wie hier die Vorstellungen des Fehlerhaften und Häßlichen so pba_326.034 eng und unmittelbar verbunden mit denen des Positiven, Gesunden, pba_326.035 Normalen liegen wie auf dem Gebiet der derben Natürlichkeiten; keines, pba_326.036 auf dem mit den allereinfachsten Mitteln so schnell und so scharf die pba_326.037 überzeugendste Charakteristik erreicht werden kann. Ein und dasselbe pba_326.038 kann hier, je nach den Umständen höchste Unschuld, einfache Natur oder pba_326.039 Roheit, Entartung, Verwilderung bezeichnen; andrerseits sind die lediglich pba_326.040 körperlichen Verhältnisse und Umstände, als allen Menschen gemein-
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ahmung Chaucer so nahe lag. Man würde dadurch Chaucer im höchsten pba_326.002
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V. 3167): ‚Es sind die Sitten der Bauern, die ich schildere; ich kann pba_326.022
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Es läßt sich an diese geistreiche Schilderung von Chaucers Eigenart pba_326.025
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und die genialsten komischen Dichter haben von jeher am rückhaltlosesten pba_326.032
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überzeugendste Charakteristik erreicht werden kann. Ein und dasselbe pba_326.038
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/344>, abgerufen am 22.11.2024.
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