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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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in erster Linie in Betracht kommen, und zwar, wie aus dem Obigen pba_396.002
sich von selbst ergibt, nicht etwa als accidentielle Schönheiten dieser pba_396.003
Dichtungsart, sondern als konstitutive Hauptteile ihres Aufbaues. Je pba_396.004
mehr die moderne theoretische Betrachtung sich gewöhnt hat, den Schwerpunkt pba_396.005
aller dramatischen Dichtung und besonders der Tragödie in der pba_396.006
Charakteristik der handelnden Personen und in dem Gedankengehalt, in pba_396.007
der zur Geltung gebrachten "Jdee" zu suchen, desto schärfer muß es pba_396.008
betont werden, daß das A und das O der Tragödie in der die pba_396.009
Schicksalsempfindungen weckenden Handlung liegt, in dem verhängnisvollen pba_396.010
Gange der Ereignisse.
Jmmer wird ein solcher pba_396.011
zu Äußerungen der Leidenschaft Veranlassung geben müssen, und dieselben pba_396.012
werden natürlich für die Eigenart der Handelnden charakteristisch pba_396.013
sein; aber es ist etwas anderes, wenn dieselben nur insofern dargestellt pba_396.014
werden, als eben die Handlung dazu die Veranlassung gibt, oder wenn pba_396.015
umgekehrt die Tragik nur durch die Charakterbeschaffenheit herbeigeführt pba_396.016
wird. Das Letztere, welches der Fall bei der Gattung der ethischen pba_396.017
Tragödie ist, erfordert allerdings eine umfänglichere und eingehendere pba_396.018
Behandlung der Charakteristik; die moderne Tragödie bevorzugt diese pba_396.019
tragische Gattung ganz besonders: immerhin ist auch hier die Schilderung pba_396.020
des Ethos nur Mittel und vorbereitend, der Schwerpunkt bleibt pba_396.021
unveränderlich in der Darstellung des dadurch Hervorgebrachten gelegen, pba_396.022
also in den tragischen Ereignissen selbst. Es ist ein Zeichen der tragischen pba_396.023
Meisterschaft, wenn auch in diesem specifischen Falle jenes vorbereitende pba_396.024
Material zu Gunsten des eigentlichen Gegenstandes so viel als pba_396.025
möglich eingeschränkt wird; Shakespeare leistet an Kühnheit der Abkürzung, pba_396.026
Vereinfachung, ja mitunter der gewaltsamen Kompression solcher pba_396.027
Partien das Äußerste, lediglich um für das eigentliche tragische Werk pba_396.028
-- das ergon tragodias -- vollen Raum zu gewinnen. Ganz anders pba_396.029
ist im "Schauspiel", wo vielmehr der Gang der Dinge gemäß dem pba_396.030
Ethos der die Handlung lenkenden Person seine Wendung nimmt, durch pba_396.031
deren ruhiges Gleichmaß die ungestümen Wogen des Schicksals gleichsam pba_396.032
sich sänftigen, die möglichst breite und vollständige Äußerung der Hauptcharaktere pba_396.033
selbst ein wesentlicher Teil der Handlung, ohne welchen sie pba_396.034
gar keinen Bestand haben würde; und nicht minder wie sie die Darlegung pba_396.035
der für die Durchführung solcher Übermacht über das Schicksal pba_396.036
jedesmal in Betracht kommenden Meinungen, Überzeugungen, allgemeinen pba_396.037
Gedanken. Die gesamte Handlung kann sich hier zum Plaidoyer für pba_396.038
eine bestimmte Jdee gestalten, deren konsequente, klar bewußte Vertretung pba_396.039
eben das entscheidende, obsiegende Element in dem Gange der pba_396.040
Dinge ausmacht.

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in erster Linie in Betracht kommen, und zwar, wie aus dem Obigen pba_396.002
sich von selbst ergibt, nicht etwa als accidentielle Schönheiten dieser pba_396.003
Dichtungsart, sondern als konstitutive Hauptteile ihres Aufbaues. Je pba_396.004
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Tragödie ist, erfordert allerdings eine umfänglichere und eingehendere pba_396.018
Behandlung der Charakteristik; die moderne Tragödie bevorzugt diese pba_396.019
tragische Gattung ganz besonders: immerhin ist auch hier die Schilderung pba_396.020
des Ethos nur Mittel und vorbereitend, der Schwerpunkt bleibt pba_396.021
unveränderlich in der Darstellung des dadurch Hervorgebrachten gelegen, pba_396.022
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Meisterschaft, wenn auch in diesem specifischen Falle jenes vorbereitende pba_396.024
Material zu Gunsten des eigentlichen Gegenstandes so viel als pba_396.025
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Vereinfachung, ja mitunter der gewaltsamen Kompression solcher pba_396.027
Partien das Äußerste, lediglich um für das eigentliche tragische Werk pba_396.028
— das ἔργον τραγῳδίας — vollen Raum zu gewinnen. Ganz anders pba_396.029
ist im „Schauspiel“, wo vielmehr der Gang der Dinge gemäß dem pba_396.030
Ethos der die Handlung lenkenden Person seine Wendung nimmt, durch pba_396.031
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/414>, abgerufen am 22.11.2024.