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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Rührungen hinzufügt. Je nachdem nun diese Prüfungen schwererer pba_418.002
Natur sind oder nur leichterer Art, wie sie durch die alltäglichen pflicht- pba_418.003
und tugendwidrigen Sitten und Handlungen der Nebenmenschen hervorgerufen pba_418.004
werden, neigt nach Diderot das "ernsthafte" Drama entweder pba_418.005
mehr nach der Tragödie hin wie sein "Natürlicher Sohn", oder mehr pba_418.006
nach der Komödie wie sein "Hausvater", solcherweise die Mitte zwischen pba_418.007
beiden vollständig ausfüllend.

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Damit ist das Wesen aller dramatischen Poesie zerstört; denn das pba_418.009
richtige Verhältnis ist geradezu umgekehrt: während der Gegenstand pba_418.010
aller dramatischen Dichtungsarten immer derselbe ist, nämlich unter pba_418.011
allen Umständen die Nachahmung einer irgendwie das Schicksal enthüllenden pba_418.012
Handlung, besteht er nach dieser Theorie bald darin, Fehler pba_418.013
und Laster darzustellen, bald Pflichten, bald Unglücksfälle; und während pba_418.014
die Verschiedenheiten der Gattungen dadurch entstehen, daß je nach dem pba_418.015
wechselnden Zwecke der Nachahmung die Auswahl und die Einrichtung pba_418.016
der Handlung jedesmal eine andere ist, wird hier allen pba_418.017
Gattungen ein und derselbe Zweck gesetzt, immer nur die Liebe pba_418.018
zur Tugend
und ihr Gegenstück, den Haß des Lasters zu erwecken.

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Den ungemein fruchtbaren Begriff der "Handlung" hat Diderot pba_418.020
verkannt; für das Gebiet der Tragödie entdeckte ihn Lessing durch den pba_418.021
engen Anschluß an Aristoteles, aber auch nur für dieses und ohne die pba_418.022
vollen Konsequenzen daraus zu ziehen; in der Theorie wenigstens kehrte pba_418.023
dann Schiller in bedenklicher Weise wieder sich den Diderotschen Jrrtümern pba_418.024
zu. Das Drama, welches die Handlung, durch Handelnde nachgeahmt, pba_418.025
unmittelbar vor das Auge führt, ist darauf angewiesen, nach pba_418.026
beiden Seiten die höchste Prägnanz in sich zu bergen, sowohl nach der pba_418.027
Seite der inneren als nach der der äußeren Handlung: das von außen pba_418.028
Geschehende und das von innen heraus Gethane, beides muß entscheidend pba_418.029
auftreten und zwar so, daß beides, eng zusammenhängend pba_418.030
und gegenseitig sich bedingend, vereint die Entscheidung bewirkt. pba_418.031
Das Produkt dieser beiden Faktoren nennen wir das Schicksal; pba_418.032
Schicksal darzustellen
ist also die Aufgabe jeder gut ausgewählten pba_418.033
und eingerichteten dramatischen Handlung. Durch den Sprachgebrauch pba_418.034
verführt, sprechen wir nun freilich von "Schicksal" gemeinhin nur da, pba_418.035
wo eine seltene und ungeheure Entscheidung plötzlich, und zwar besonders pba_418.036
wohl, wenn sie auf unerklärliche Weise hereinbricht; zum mindesten hat pba_418.037
die dramaturgische Terminologie in solcher Weise sich herausgebildet. pba_418.038
Dieser Sprachgebrauch ist aber nicht nur willkürlich, sondern er ist verwirrend, pba_418.039
und es ist kein Grund vorhanden, sich daran zu binden. Wo pba_418.040
wirkliche Handlung vorliegt, da ist auch Schicksal, und das Zu-

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Rührungen hinzufügt. Je nachdem nun diese Prüfungen schwererer pba_418.002
Natur sind oder nur leichterer Art, wie sie durch die alltäglichen pflicht- pba_418.003
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beiden vollständig ausfüllend.

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Damit ist das Wesen aller dramatischen Poesie zerstört; denn das pba_418.009
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Handlung, besteht er nach dieser Theorie bald darin, Fehler pba_418.013
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wechselnden Zwecke der Nachahmung die Auswahl und die Einrichtung pba_418.016
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Gattungen ein und derselbe Zweck gesetzt, immer nur die Liebe pba_418.018
zur Tugend
und ihr Gegenstück, den Haß des Lasters zu erwecken.

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Den ungemein fruchtbaren Begriff der „Handlung“ hat Diderot pba_418.020
verkannt; für das Gebiet der Tragödie entdeckte ihn Lessing durch den pba_418.021
engen Anschluß an Aristoteles, aber auch nur für dieses und ohne die pba_418.022
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unmittelbar vor das Auge führt, ist darauf angewiesen, nach pba_418.026
beiden Seiten die höchste Prägnanz in sich zu bergen, sowohl nach der pba_418.027
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 418. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/436>, abgerufen am 31.10.2024.