pba_425.001 Hamb. Dramat. ist gegen die falsche Praxis und Theorie der Franzosen, pba_425.002 vornehmlich des Corneille und Voltaires gerichtet; hier ist er auf der pba_425.003 ganzen Linie siegreich. Es erscheint als überflüssig, diese Ausführungen, pba_425.004 die nicht besser vorgetragen werden können als es von ihm selbst geschehen pba_425.005 ist, und die allbekannt sind, hier noch einmal zu wiederholen. Um so pba_425.006 notwendiger ist es, seine eigenen Jrrtümer in der Jnterpretation der pba_425.007 aristotelischen Definitionen aufzusuchen und klarzulegen, die nach seiner pba_425.008 eigenen, festen Überzeugung eben deshalb auch Jrrtümer über pba_425.009 das Wesen der Sache selbst sein müssen. Es kann dabei von pba_425.010 dem bekannten Fehler des ihm vorliegenden Textes -- der das Wort pba_425.011 dronton fortließ und auf das ou di apaggelias ein alla folgen pba_425.012 ließ, also den Gegensatz enthielt, die Tragödie sei die Nachahmung einer pba_425.013 Handlung "nicht durch Erzählung, sondern durch Furcht und pba_425.014 Mitleid" -- abgesehen werden; dieser Textfehler schuf nur eine pba_425.015 Schwierigkeit mehr für ihn, vermochte aber die richtige Erkenntnis des pba_425.016 Gesamtinhaltes der Definition für ihn nicht zu hindern.
pba_425.017 Der Kardinalfehler seiner Auffassung, aus dem wohl alle die pba_425.018 übrigen geflossen sind, ist der folgende: Lessing hat es nicht klar gestellt, pba_425.019 ob unter den Mitleids- und Furchtempfindungen, deren Katharsis durch pba_425.020 die Tragödie bewirkt werden soll, diejenigen Empfindungen zu verstehen pba_425.021 seien, die dem Zuschauer überhaupt eigentümlich sind, mit denen er pba_425.022 zu der Tragödie herantritt, und die, nachdem er deren Einwirkung pba_425.023 erfahren, er nun weiterhin aus derselben ins Leben mitnimmt,pba_425.024 oder ob es in der von Aristoteles festgestellten Wesensbestimmungpba_425.025 (oros tes ousias) sich nicht vielmehr lediglich um pba_425.026 die Bezeichnung derjenigen Wirkungskraft und demgemäß pba_425.027 derjenigen Beschaffenheit handelt, welche der Tragödie pba_425.028 erteilt werden müssen, damit die durch die Dichtung selbst pba_425.029 notwendig aufzuregenden Empfindungen einen in allen pba_425.030 Fällen gleichmäßigen Verlauf nehmen und zu einem nach pba_425.031 den allgemeinen Kunstgesetzen überall gleichmäßig zu fordernden pba_425.032 Abschluß gelangen.
pba_425.033 Jn diesem Sinne verstanden widerstreitet die aristotelische Definition pba_425.034 in nichts den Gesetzen der ästhetischen Wissenschaft und Erfahrung, pba_425.035 sie entspricht denselben sogar auf das vollkommenste. Aristoteles hält pba_425.036 ganz ebenso wie Kant das "ästhetische Urteil" über das Schöne für ein pba_425.037 rein subjektives, d. h.: daß die Empfindung des Schönen und mit pba_425.038 ihr die Freude am Schönen überhaupt zustande komme, ist nach seiner pba_425.039 Meinung am letzten Ende immer davon abhängig, daß die Wahrnehmungs- pba_425.040 und Empfindungsthätigkeit (die aisthesis) des Empfangenden
pba_425.001 Hamb. Dramat. ist gegen die falsche Praxis und Theorie der Franzosen, pba_425.002 vornehmlich des Corneille und Voltaires gerichtet; hier ist er auf der pba_425.003 ganzen Linie siegreich. Es erscheint als überflüssig, diese Ausführungen, pba_425.004 die nicht besser vorgetragen werden können als es von ihm selbst geschehen pba_425.005 ist, und die allbekannt sind, hier noch einmal zu wiederholen. Um so pba_425.006 notwendiger ist es, seine eigenen Jrrtümer in der Jnterpretation der pba_425.007 aristotelischen Definitionen aufzusuchen und klarzulegen, die nach seiner pba_425.008 eigenen, festen Überzeugung eben deshalb auch Jrrtümer über pba_425.009 das Wesen der Sache selbst sein müssen. Es kann dabei von pba_425.010 dem bekannten Fehler des ihm vorliegenden Textes — der das Wort pba_425.011 δρώντων fortließ und auf das οὐ δἰ ἀπαγγελίας ein ἀλλά folgen pba_425.012 ließ, also den Gegensatz enthielt, die Tragödie sei die Nachahmung einer pba_425.013 Handlung „nicht durch Erzählung, sondern durch Furcht und pba_425.014 Mitleid“ — abgesehen werden; dieser Textfehler schuf nur eine pba_425.015 Schwierigkeit mehr für ihn, vermochte aber die richtige Erkenntnis des pba_425.016 Gesamtinhaltes der Definition für ihn nicht zu hindern.
pba_425.017 Der Kardinalfehler seiner Auffassung, aus dem wohl alle die pba_425.018 übrigen geflossen sind, ist der folgende: Lessing hat es nicht klar gestellt, pba_425.019 ob unter den Mitleids- und Furchtempfindungen, deren Katharsis durch pba_425.020 die Tragödie bewirkt werden soll, diejenigen Empfindungen zu verstehen pba_425.021 seien, die dem Zuschauer überhaupt eigentümlich sind, mit denen er pba_425.022 zu der Tragödie herantritt, und die, nachdem er deren Einwirkung pba_425.023 erfahren, er nun weiterhin aus derselben ins Leben mitnimmt,pba_425.024 oder ob es in der von Aristoteles festgestellten Wesensbestimmungpba_425.025 (ὅρος τῆς οὐσίας) sich nicht vielmehr lediglich um pba_425.026 die Bezeichnung derjenigen Wirkungskraft und demgemäß pba_425.027 derjenigen Beschaffenheit handelt, welche der Tragödie pba_425.028 erteilt werden müssen, damit die durch die Dichtung selbst pba_425.029 notwendig aufzuregenden Empfindungen einen in allen pba_425.030 Fällen gleichmäßigen Verlauf nehmen und zu einem nach pba_425.031 den allgemeinen Kunstgesetzen überall gleichmäßig zu fordernden pba_425.032 Abschluß gelangen.
pba_425.033 Jn diesem Sinne verstanden widerstreitet die aristotelische Definition pba_425.034 in nichts den Gesetzen der ästhetischen Wissenschaft und Erfahrung, pba_425.035 sie entspricht denselben sogar auf das vollkommenste. Aristoteles hält pba_425.036 ganz ebenso wie Kant das „ästhetische Urteil“ über das Schöne für ein pba_425.037 rein subjektives, d. h.: daß die Empfindung des Schönen und mit pba_425.038 ihr die Freude am Schönen überhaupt zustande komme, ist nach seiner pba_425.039 Meinung am letzten Ende immer davon abhängig, daß die Wahrnehmungs- pba_425.040 und Empfindungsthätigkeit (die αἴσθησις) des Empfangenden
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Hamb. Dramat. ist gegen die falsche Praxis und Theorie der Franzosen, pba_425.002
vornehmlich des Corneille und Voltaires gerichtet; hier ist er auf der pba_425.003
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aristotelischen Definitionen aufzusuchen und klarzulegen, die nach seiner pba_425.008
eigenen, festen Überzeugung eben deshalb auch Jrrtümer über pba_425.009
das Wesen der Sache selbst sein müssen. Es kann dabei von pba_425.010
dem bekannten Fehler des ihm vorliegenden Textes — der das Wort pba_425.011
δρώντων fortließ und auf das οὐ δἰ ἀπαγγελίας ein ἀλλά folgen pba_425.012
ließ, also den Gegensatz enthielt, die Tragödie sei die Nachahmung einer pba_425.013
Handlung „nicht durch Erzählung, sondern durch Furcht und pba_425.014
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ob unter den Mitleids- und Furchtempfindungen, deren Katharsis durch pba_425.020
die Tragödie bewirkt werden soll, diejenigen Empfindungen zu verstehen pba_425.021
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/443>, abgerufen am 31.10.2024.
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