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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Hamb. Dramat. ist gegen die falsche Praxis und Theorie der Franzosen, pba_425.002
vornehmlich des Corneille und Voltaires gerichtet; hier ist er auf der pba_425.003
ganzen Linie siegreich. Es erscheint als überflüssig, diese Ausführungen, pba_425.004
die nicht besser vorgetragen werden können als es von ihm selbst geschehen pba_425.005
ist, und die allbekannt sind, hier noch einmal zu wiederholen. Um so pba_425.006
notwendiger ist es, seine eigenen Jrrtümer in der Jnterpretation der pba_425.007
aristotelischen Definitionen aufzusuchen und klarzulegen, die nach seiner pba_425.008
eigenen, festen Überzeugung eben deshalb auch Jrrtümer über pba_425.009
das Wesen der Sache selbst sein müssen.
Es kann dabei von pba_425.010
dem bekannten Fehler des ihm vorliegenden Textes -- der das Wort pba_425.011
dronton fortließ und auf das ou di apaggelias ein alla folgen pba_425.012
ließ, also den Gegensatz enthielt, die Tragödie sei die Nachahmung einer pba_425.013
Handlung "nicht durch Erzählung, sondern durch Furcht und pba_425.014
Mitleid
" -- abgesehen werden; dieser Textfehler schuf nur eine pba_425.015
Schwierigkeit mehr für ihn, vermochte aber die richtige Erkenntnis des pba_425.016
Gesamtinhaltes der Definition für ihn nicht zu hindern.

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Der Kardinalfehler seiner Auffassung, aus dem wohl alle die pba_425.018
übrigen geflossen sind, ist der folgende: Lessing hat es nicht klar gestellt, pba_425.019
ob unter den Mitleids- und Furchtempfindungen, deren Katharsis durch pba_425.020
die Tragödie bewirkt werden soll, diejenigen Empfindungen zu verstehen pba_425.021
seien, die dem Zuschauer überhaupt eigentümlich sind, mit denen er pba_425.022
zu der Tragödie herantritt,
und die, nachdem er deren Einwirkung pba_425.023
erfahren, er nun weiterhin aus derselben ins Leben mitnimmt, pba_425.024
oder ob es in der von Aristoteles festgestellten Wesensbestimmung pba_425.025
(oros tes ousias) sich nicht vielmehr lediglich um pba_425.026
die Bezeichnung derjenigen Wirkungskraft und demgemäß pba_425.027
derjenigen Beschaffenheit handelt, welche der Tragödie pba_425.028
erteilt werden müssen, damit die durch die Dichtung selbst pba_425.029
notwendig aufzuregenden Empfindungen einen in allen pba_425.030
Fällen gleichmäßigen Verlauf nehmen und zu einem nach pba_425.031
den allgemeinen Kunstgesetzen überall gleichmäßig zu fordernden pba_425.032
Abschluß gelangen.

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Jn diesem Sinne verstanden widerstreitet die aristotelische Definition pba_425.034
in nichts den Gesetzen der ästhetischen Wissenschaft und Erfahrung, pba_425.035
sie entspricht denselben sogar auf das vollkommenste. Aristoteles hält pba_425.036
ganz ebenso wie Kant das "ästhetische Urteil" über das Schöne für ein pba_425.037
rein subjektives, d. h.: daß die Empfindung des Schönen und mit pba_425.038
ihr die Freude am Schönen überhaupt zustande komme, ist nach seiner pba_425.039
Meinung am letzten Ende immer davon abhängig, daß die Wahrnehmungs- pba_425.040
und Empfindungsthätigkeit (die aisthesis) des Empfangenden

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Hamb. Dramat. ist gegen die falsche Praxis und Theorie der Franzosen, pba_425.002
vornehmlich des Corneille und Voltaires gerichtet; hier ist er auf der pba_425.003
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aristotelischen Definitionen aufzusuchen und klarzulegen, die nach seiner pba_425.008
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Es kann dabei von pba_425.010
dem bekannten Fehler des ihm vorliegenden Textes — der das Wort pba_425.011
δρώντων fortließ und auf das οὐ δἰ ἀπαγγελίας ein ἀλλά folgen pba_425.012
ließ, also den Gegensatz enthielt, die Tragödie sei die Nachahmung einer pba_425.013
Handlung „nicht durch Erzählung, sondern durch Furcht und pba_425.014
Mitleid
“ — abgesehen werden; dieser Textfehler schuf nur eine pba_425.015
Schwierigkeit mehr für ihn, vermochte aber die richtige Erkenntnis des pba_425.016
Gesamtinhaltes der Definition für ihn nicht zu hindern.

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Der Kardinalfehler seiner Auffassung, aus dem wohl alle die pba_425.018
übrigen geflossen sind, ist der folgende: Lessing hat es nicht klar gestellt, pba_425.019
ob unter den Mitleids- und Furchtempfindungen, deren Katharsis durch pba_425.020
die Tragödie bewirkt werden soll, diejenigen Empfindungen zu verstehen pba_425.021
seien, die dem Zuschauer überhaupt eigentümlich sind, mit denen er pba_425.022
zu der Tragödie herantritt,
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erfahren, er nun weiterhin aus derselben ins Leben mitnimmt, pba_425.024
oder ob es in der von Aristoteles festgestellten Wesensbestimmung pba_425.025
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die Bezeichnung derjenigen Wirkungskraft und demgemäß pba_425.027
derjenigen Beschaffenheit handelt, welche der Tragödie pba_425.028
erteilt werden müssen, damit die durch die Dichtung selbst pba_425.029
notwendig aufzuregenden Empfindungen einen in allen pba_425.030
Fällen gleichmäßigen Verlauf nehmen und zu einem nach pba_425.031
den allgemeinen Kunstgesetzen überall gleichmäßig zu fordernden pba_425.032
Abschluß gelangen.

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Jn diesem Sinne verstanden widerstreitet die aristotelische Definition pba_425.034
in nichts den Gesetzen der ästhetischen Wissenschaft und Erfahrung, pba_425.035
sie entspricht denselben sogar auf das vollkommenste. Aristoteles hält pba_425.036
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/443>, abgerufen am 31.10.2024.