Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_511.001 Und zu wehren den Weg, zu dem du dich schickst: pba_511.002 pba_511.014So vernimm denn meine Gebote! pba_511.003 Vor allem ruf' ich dir zurück mein eignes Los, pba_511.004 Die Mühen alle, deren Bahn durchkämpfend ich pba_511.005 Errang unsterblich Wesen, wie du schauen kannst. pba_511.006 Auch dir, vernimm es, ist bestimmt dasselbe Ziel, pba_511.007 Aus solchen Mühen ruhmgekrönt hervorzugehn. pba_511.008 Du ziehst mit diesem Manne vor die Troerstadt pba_511.009 Und wirst zuerst von deiner bittern Qual erlöst; pba_511.010 Dann als der Helden erster ausersehn im Heer, pba_511.011 Vertilgst du Paris, dieses Leids Urheber einst, pba_511.012 Mit meinem Bogen aus der Zahl der Lebenden pba_511.013 Und stürzest Troja. Und o phthegma potheinon emoi pempsas, erwidert ihm Philoktet: pba_511.015Du, der willkommenen Ruf mir gesandt pba_511.016 pba_511.018Und endlich erscheint, pba_511.017 Wie freudig gehorch' ich deinem Gebot! Und gerührt nimmt er Abschied von dem Ort seiner einsamen Schmerzen pba_511.019 Hin, wo das gewaltige Schicksal führt pba_511.021 Und der Freunde Geheiß und des Gottes Gewalt, pba_511.022 Der dies allmächtig verhängte! pba_511.023 pba_511.034 pba_511.001 Und zu wehren den Weg, zu dem du dich schickst: pba_511.002 pba_511.014So vernimm denn meine Gebote! pba_511.003 Vor allem ruf' ich dir zurück mein eignes Los, pba_511.004 Die Mühen alle, deren Bahn durchkämpfend ich pba_511.005 Errang unsterblich Wesen, wie du schauen kannst. pba_511.006 Auch dir, vernimm es, ist bestimmt dasselbe Ziel, pba_511.007 Aus solchen Mühen ruhmgekrönt hervorzugehn. pba_511.008 Du ziehst mit diesem Manne vor die Troerstadt pba_511.009 Und wirst zuerst von deiner bittern Qual erlöst; pba_511.010 Dann als der Helden erster ausersehn im Heer, pba_511.011 Vertilgst du Paris, dieses Leids Urheber einst, pba_511.012 Mit meinem Bogen aus der Zahl der Lebenden pba_511.013 Und stürzest Troja. Und ὦ φθέγμα ποθεινὸν ἐμοὶ πέμψας, erwidert ihm Philoktet: pba_511.015Du, der willkommenen Ruf mir gesandt pba_511.016 pba_511.018Und endlich erscheint, pba_511.017 Wie freudig gehorch' ich deinem Gebot! Und gerührt nimmt er Abschied von dem Ort seiner einsamen Schmerzen pba_511.019 Hin, wo das gewaltige Schicksal führt pba_511.021 Und der Freunde Geheiß und des Gottes Gewalt, pba_511.022 Der dies allmächtig verhängte! pba_511.023 pba_511.034 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0529" n="511"/> <lb n="pba_511.001"/> <lg> <l>Und zu wehren den Weg, zu dem du dich schickst:</l> <lb n="pba_511.002"/> <l>So vernimm denn meine Gebote!</l> <lb n="pba_511.003"/> <l>Vor allem ruf' ich dir zurück mein eignes Los,</l> <lb n="pba_511.004"/> <l>Die Mühen alle, deren Bahn durchkämpfend ich</l> <lb n="pba_511.005"/> <l>Errang unsterblich Wesen, wie du schauen kannst.</l> <lb n="pba_511.006"/> <l>Auch dir, vernimm es, ist bestimmt dasselbe Ziel,</l> <lb n="pba_511.007"/> <l>Aus solchen Mühen ruhmgekrönt hervorzugehn.</l> <lb n="pba_511.008"/> <l>Du ziehst mit diesem Manne vor die Troerstadt</l> <lb n="pba_511.009"/> <l>Und wirst zuerst von deiner bittern Qual erlöst;</l> <lb n="pba_511.010"/> <l>Dann als der Helden erster ausersehn im Heer,</l> <lb n="pba_511.011"/> <l>Vertilgst du Paris, dieses Leids Urheber einst,</l> <lb n="pba_511.012"/> <l>Mit meinem Bogen aus der Zahl der Lebenden</l> <lb n="pba_511.013"/> <l>Und stürzest Troja.</l> </lg> <lb n="pba_511.014"/> <p>Und <foreign xml:lang="grc">ὦ φθέγμα ποθεινὸν ἐμοὶ πέμψας</foreign>, erwidert ihm Philoktet:</p> <lb n="pba_511.015"/> <lg> <l>Du, der <hi rendition="#g">willkommenen</hi> Ruf mir gesandt</l> <lb n="pba_511.016"/> <l>Und endlich erscheint,</l> <lb n="pba_511.017"/> <l>Wie freudig gehorch' ich deinem Gebot!</l> </lg> <lb n="pba_511.018"/> <p>Und gerührt nimmt er Abschied von dem Ort seiner einsamen Schmerzen <lb n="pba_511.019"/> und wendet sich zur Fahrt</p> <lb n="pba_511.020"/> <lg> <l>Hin, wo das <hi rendition="#g">gewaltige Schicksal</hi> führt</l> <lb n="pba_511.021"/> <l> <hi rendition="#g">Und der Freunde Geheiß und des Gottes Gewalt,</hi> </l> <lb n="pba_511.022"/> <l>Der dies allmächtig verhängte!</l> </lg> <p><lb n="pba_511.023"/> Der griechische Dichter faßte das horazische <foreign xml:lang="lat">nec deus intersit nisi <lb n="pba_511.024"/> dignus vindice nodus inciderit</foreign> tiefer, als es nur allzu oft gefaßt wird. <lb n="pba_511.025"/> Nicht die Größe der streitenden Jnteressen und die Ratlosigkeit des <lb n="pba_511.026"/> Dichters, sie anders zu schlichten, machen den Knoten „würdig der Lösung <lb n="pba_511.027"/> durch einen Gott“, sondern dadurch wird die Verwickelung es <lb n="pba_511.028"/> „<hi rendition="#g">wert,</hi> daß der Dichter <hi rendition="#g">eine Gottheit eintreten lasse, um ihrer <lb n="pba_511.029"/> Entscheidung sich anzunehmen</hi>“, daß diese Entscheidung <hi rendition="#g">ihrem <lb n="pba_511.030"/> inneren Sinne nach mit Notwendigkeit aus dem Stande der <lb n="pba_511.031"/> Dinge hervorgehe,</hi> daß sie <hi rendition="#g">in den Dingen liege,</hi> so daß der Gott <lb n="pba_511.032"/> nur als der beschleunigende Helfer erscheine, der den Keim zur schnelleren <lb n="pba_511.033"/> Entfaltung bringe.</p> <p><lb n="pba_511.034"/> Um die Resultate zusammenzufassen: der Philoktet ist eine Tragödie, <lb n="pba_511.035"/> die auf das „Pathos“ schweren körperlichen Leidens gegründet <lb n="pba_511.036"/> ist, sie nimmt einen glücklichen Ausgang; danach könnte es scheinen, <lb n="pba_511.037"/> daß in ihrer Wirkung der Mitleidsaffekt vorherrschen müßte und die <lb n="pba_511.038"/> Furcht nur insoweit darin eine Rolle spielte, als sie an sich eine unentbehrliche <lb n="pba_511.039"/> Voraussetzung für das Auftreten des Mitleids bildet, wie Lessing <lb n="pba_511.040"/> das in seiner Theorie der Tragödie gelehrt hat. Dagegen hat die Unter- </p> </div> </body> </text> </TEI> [511/0529]
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Und zu wehren den Weg, zu dem du dich schickst: pba_511.002
So vernimm denn meine Gebote! pba_511.003
Vor allem ruf' ich dir zurück mein eignes Los, pba_511.004
Die Mühen alle, deren Bahn durchkämpfend ich pba_511.005
Errang unsterblich Wesen, wie du schauen kannst. pba_511.006
Auch dir, vernimm es, ist bestimmt dasselbe Ziel, pba_511.007
Aus solchen Mühen ruhmgekrönt hervorzugehn. pba_511.008
Du ziehst mit diesem Manne vor die Troerstadt pba_511.009
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Vertilgst du Paris, dieses Leids Urheber einst, pba_511.012
Mit meinem Bogen aus der Zahl der Lebenden pba_511.013
Und stürzest Troja.
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Und ὦ φθέγμα ποθεινὸν ἐμοὶ πέμψας, erwidert ihm Philoktet:
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Du, der willkommenen Ruf mir gesandt pba_511.016
Und endlich erscheint, pba_511.017
Wie freudig gehorch' ich deinem Gebot!
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Und gerührt nimmt er Abschied von dem Ort seiner einsamen Schmerzen pba_511.019
und wendet sich zur Fahrt
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Hin, wo das gewaltige Schicksal führt pba_511.021
Und der Freunde Geheiß und des Gottes Gewalt, pba_511.022
Der dies allmächtig verhängte!
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Der griechische Dichter faßte das horazische nec deus intersit nisi pba_511.024
dignus vindice nodus inciderit tiefer, als es nur allzu oft gefaßt wird. pba_511.025
Nicht die Größe der streitenden Jnteressen und die Ratlosigkeit des pba_511.026
Dichters, sie anders zu schlichten, machen den Knoten „würdig der Lösung pba_511.027
durch einen Gott“, sondern dadurch wird die Verwickelung es pba_511.028
„wert, daß der Dichter eine Gottheit eintreten lasse, um ihrer pba_511.029
Entscheidung sich anzunehmen“, daß diese Entscheidung ihrem pba_511.030
inneren Sinne nach mit Notwendigkeit aus dem Stande der pba_511.031
Dinge hervorgehe, daß sie in den Dingen liege, so daß der Gott pba_511.032
nur als der beschleunigende Helfer erscheine, der den Keim zur schnelleren pba_511.033
Entfaltung bringe.
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Um die Resultate zusammenzufassen: der Philoktet ist eine Tragödie, pba_511.035
die auf das „Pathos“ schweren körperlichen Leidens gegründet pba_511.036
ist, sie nimmt einen glücklichen Ausgang; danach könnte es scheinen, pba_511.037
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Furcht nur insoweit darin eine Rolle spielte, als sie an sich eine unentbehrliche pba_511.039
Voraussetzung für das Auftreten des Mitleids bildet, wie Lessing pba_511.040
das in seiner Theorie der Tragödie gelehrt hat. Dagegen hat die Unter-
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