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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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gerissene, pathologische Teilnahme an dem Leiden des einzelnen ein pba_513.002
Gegengewicht an der Beunruhigung, mit der die Vorstellung der Schicksalsübermacht pba_513.003
den Betrachter in Hinsicht auf seine eigene Sicherheit pba_513.004
erfüllt. Umgekehrt wird dieses bange Gefühl der störenden Beimischung pba_513.005
von Schwäche und Selbstsucht enthoben durch die ihm wehrende Ablenkung pba_513.006
zu der Hingabe an das fremde Leiden. Durch dieses Wechselspiel pba_513.007
gewinnt der tragische Dichter die Macht, der das Vermögen keiner pba_513.008
anderen Kunst vergleichbar ist, über die Seelen seiner Zuschauer: in pba_513.009
ihnen, selbst ohne ihr Wissen und Wollen, die stärksten und in ihrem pba_513.010
Beginn widersprechendsten Grundempfindungen, das Jnteresse für sich pba_513.011
selbst und das Jnteresse für andere in der wichtigsten Frage nach der pba_513.012
Stellung gegenüber dem alle beherrschenden Schicksal, in vollem Gleichmaß pba_513.013
zu vereinen, weil er beide zuletzt bis zu der reinsten Quelle ihrer pba_513.014
Nahrung führt, vor das zum Ganzen gerundete, wahrheitsgetreue Bild pba_513.015
des Schicksalsgesetzes in seiner schreckenvollen Majestät und seiner ewigen, pba_513.016
erhabenen Weisheit.

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Woher nun der Sturm gegen Lessings Erklärung der tragischen pba_513.018
Katharsis? Man hat sie eine "moralische" Erklärung genannt; natürlich pba_513.019
mußte sie, mit diesem in der Ästhetik verpönten Stigma gekennzeichnet, pba_513.020
als beseitigt gelten, und das blendende Sophisma der Bernaysschen pba_513.021
"medizinischen", "psychologisch-hygienischen" hielt seinen triumphierenden pba_513.022
Einzug, um für eine beträchtliche Zeit fast uneingeschränkt zu herrschen.

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Es ist der Mühe wert zu untersuchen, wie es zu erklären sein pba_513.024
möchte, daß ein so gründlicher und geistvoller Forscher zu der Paradoxie pba_513.025
der Sollicitations- und Entladungstheorie gelangen konnte, und daß pba_513.026
dieselbe bei so vielen ausgezeichneten Gelehrten Zustimmung gefunden pba_513.027
hat und noch findet. Die Frage hat eine philologische und eine philosophisch-ästhetische pba_513.028
Seite; manche erkennen die Bernayssche Theorie nur pba_513.029
als die richtige Jnterpretation der aristotelischen Lehre an, ohne ihr deshalb pba_513.030
die philosophisch-ästhetische Richtigkeit zuzusprechen; andere halten, pba_513.031
wie Jakob Bernays selbst, mit der philologischen Frage auch die ästhetische pba_513.032
für entschieden.

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Der Versuch, die Genesis der gegnerischen Anschauung zu erklären, pba_513.034
gibt die erwünschte Veranlassung, zum Beschluß dieser ganzen Untersuchung pba_513.035
die Ergebnisse derselben in vervollständigter Ausrüstung und zu pba_513.036
geschlossenem Treffen vereinigt noch einmal gegen sie ins Feld zu führen.



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„medizinischen“, „psychologisch-hygienischen“ hielt seinen triumphierenden pba_513.022
Einzug, um für eine beträchtliche Zeit fast uneingeschränkt zu herrschen.

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Es ist der Mühe wert zu untersuchen, wie es zu erklären sein pba_513.024
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wie Jakob Bernays selbst, mit der philologischen Frage auch die ästhetische pba_513.032
für entschieden.

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Der Versuch, die Genesis der gegnerischen Anschauung zu erklären, pba_513.034
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[513/0531] pba_513.001 gerissene, pathologische Teilnahme an dem Leiden des einzelnen ein pba_513.002 Gegengewicht an der Beunruhigung, mit der die Vorstellung der Schicksalsübermacht pba_513.003 den Betrachter in Hinsicht auf seine eigene Sicherheit pba_513.004 erfüllt. Umgekehrt wird dieses bange Gefühl der störenden Beimischung pba_513.005 von Schwäche und Selbstsucht enthoben durch die ihm wehrende Ablenkung pba_513.006 zu der Hingabe an das fremde Leiden. Durch dieses Wechselspiel pba_513.007 gewinnt der tragische Dichter die Macht, der das Vermögen keiner pba_513.008 anderen Kunst vergleichbar ist, über die Seelen seiner Zuschauer: in pba_513.009 ihnen, selbst ohne ihr Wissen und Wollen, die stärksten und in ihrem pba_513.010 Beginn widersprechendsten Grundempfindungen, das Jnteresse für sich pba_513.011 selbst und das Jnteresse für andere in der wichtigsten Frage nach der pba_513.012 Stellung gegenüber dem alle beherrschenden Schicksal, in vollem Gleichmaß pba_513.013 zu vereinen, weil er beide zuletzt bis zu der reinsten Quelle ihrer pba_513.014 Nahrung führt, vor das zum Ganzen gerundete, wahrheitsgetreue Bild pba_513.015 des Schicksalsgesetzes in seiner schreckenvollen Majestät und seiner ewigen, pba_513.016 erhabenen Weisheit. pba_513.017 Woher nun der Sturm gegen Lessings Erklärung der tragischen pba_513.018 Katharsis? Man hat sie eine „moralische“ Erklärung genannt; natürlich pba_513.019 mußte sie, mit diesem in der Ästhetik verpönten Stigma gekennzeichnet, pba_513.020 als beseitigt gelten, und das blendende Sophisma der Bernaysschen pba_513.021 „medizinischen“, „psychologisch-hygienischen“ hielt seinen triumphierenden pba_513.022 Einzug, um für eine beträchtliche Zeit fast uneingeschränkt zu herrschen. pba_513.023 Es ist der Mühe wert zu untersuchen, wie es zu erklären sein pba_513.024 möchte, daß ein so gründlicher und geistvoller Forscher zu der Paradoxie pba_513.025 der Sollicitations- und Entladungstheorie gelangen konnte, und daß pba_513.026 dieselbe bei so vielen ausgezeichneten Gelehrten Zustimmung gefunden pba_513.027 hat und noch findet. Die Frage hat eine philologische und eine philosophisch-ästhetische pba_513.028 Seite; manche erkennen die Bernayssche Theorie nur pba_513.029 als die richtige Jnterpretation der aristotelischen Lehre an, ohne ihr deshalb pba_513.030 die philosophisch-ästhetische Richtigkeit zuzusprechen; andere halten, pba_513.031 wie Jakob Bernays selbst, mit der philologischen Frage auch die ästhetische pba_513.032 für entschieden. pba_513.033 Der Versuch, die Genesis der gegnerischen Anschauung zu erklären, pba_513.034 gibt die erwünschte Veranlassung, zum Beschluß dieser ganzen Untersuchung pba_513.035 die Ergebnisse derselben in vervollständigter Ausrüstung und zu pba_513.036 geschlossenem Treffen vereinigt noch einmal gegen sie ins Feld zu führen.

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 513. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/531>, abgerufen am 22.11.2024.