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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Woher denn also schlechterdings die Entladungstheorie als einziges pba_525.002
Auskunftsmittel übrig bliebe. Gerade damit verfehlen sie das pba_525.003
Verständnis der aristotelischen Empfindungstheorie im wesentlichsten pba_525.004
Punkte,
in demselben Punkte, um dessentwillen pba_525.005
offenbar
von Aristoteles auf die in der verlorenen Poetikstelle gegebene pba_525.006
ausführliche Definition der Katharsis
hingewiesen wird. pba_525.007
Dieser wesentlichste Punkt ist der folgende: wie aus Hunderten von pba_525.008
Stellen der Ethik und Rethorik selbst für die oberflächliche Lektüre sich pba_525.009
ergibt, ist Aristoteles überall von dem mechanischen Verfahren, eine jede pba_525.010
Empfindung, von der er handelt, für sich allein zu betrachten, weit entfernt. pba_525.011
Wie er das übermäßige Vorwalten einer einzelnen Empfindung pba_525.012
dadurch erklärt, daß die entgegenstehenden, mäßigenden Empfindungen pba_525.013
in zu geringem Grade vorhanden sind, so erblickt er den Grund der pba_525.014
zu schwachen Empfindungsregungen in dem hemmenden, übermäßigen pba_525.015
Vorwalten der ihnen entgegengesetzten Affekte.1 Wie ist da nun noch pba_525.016
irgend ein Zweifel über das Fundament der aristotelischen pba_525.017
Ästhetik,
d. i. seine Katharsistheorie, möglich? Von moralischen pba_525.018
Einwirkungen durch die Vernunft und den Willen kann hier freilich pba_525.019
keine Rede sein, mit diesen Kräften hat die Kunst nur mittelbaren und pba_525.020
indirekten Zusammenhang, sondern nur von Einwirkungen der pba_525.021
Empfindungen untereinander;
so nämlich: daß den Nachahmungen pba_525.022
durch die Kunst die Kraft erteilt werde, sowohl das Übermaß des pba_525.023
die Seele gefangen haltenden Affektes durch Auslösung pba_525.024
der entgegenstehenden, wohlthätig beschwichtigenden Empfindungsgruppe pba_525.025
obsiegend herabzumindern,
das Gemüt pba_525.026
also zu erleichtern, den betreffenden Affekt selbst zu läutern, zu pba_525.027
reinigen, als die zu schwache Empfindung durch Überwindung pba_525.028
der disparaten, hemmend entgegenstehenden Affekte,
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die aus der Seele gleichsam hinweggeschmolzen werden, zur pba_525.030
Höhe wohlthätig das Gemüt durchströmender Kraftäußerung pba_525.031
zu steigern,
auch hier also einen Läuterungs-, Reinigungsprozeß pba_525.032
zu vollziehen: eine Katharsis in beiden Fällen!

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Wo konnte nun die Demonstration und die Definition dieses pba_525.034
Prozesses in einfacherer und überzeugenderer Weise geschehen als in der pba_525.035
Lehre von der Tragödie? Wie schwer, ja fast unmöglich ist es, die ganz pba_525.036
unendliche Mannigfaltigkeit der durch die Musik angeregten Empfin-

1 pba_525.037
Vgl. die näheren Ausführungen hierüber in dem oben mehrfach citierten Buch pba_525.038
d. Verf. "Aristoteles, Lessing und Goethe" an vielen Stellen, namentlich S. 7 ff., pba_525.039
18 ff. und S. 40-44.

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Woher denn also schlechterdings die Entladungstheorie als einziges pba_525.002
Auskunftsmittel übrig bliebe. Gerade damit verfehlen sie das pba_525.003
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von Aristoteles auf die in der verlorenen Poetikstelle gegebene pba_525.006
ausführliche Definition der Katharsis
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Empfindung, von der er handelt, für sich allein zu betrachten, weit entfernt. pba_525.011
Wie er das übermäßige Vorwalten einer einzelnen Empfindung pba_525.012
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in zu geringem Grade vorhanden sind, so erblickt er den Grund der pba_525.014
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Ästhetik,
d. i. seine Katharsistheorie, möglich? Von moralischen pba_525.018
Einwirkungen durch die Vernunft und den Willen kann hier freilich pba_525.019
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durch die Kunst die Kraft erteilt werde, sowohl das Übermaß des pba_525.023
die Seele gefangen haltenden Affektes durch Auslösung pba_525.024
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also zu erleichtern, den betreffenden Affekt selbst zu läutern, zu pba_525.027
reinigen, als die zu schwache Empfindung durch Überwindung pba_525.028
der disparaten, hemmend entgegenstehenden Affekte,
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Höhe wohlthätig das Gemüt durchströmender Kraftäußerung pba_525.031
zu steigern,
auch hier also einen Läuterungs-, Reinigungsprozeß pba_525.032
zu vollziehen: eine Katharsis in beiden Fällen!

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Wo konnte nun die Demonstration und die Definition dieses pba_525.034
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Lehre von der Tragödie? Wie schwer, ja fast unmöglich ist es, die ganz pba_525.036
unendliche Mannigfaltigkeit der durch die Musik angeregten Empfin-

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Vgl. die näheren Ausführungen hierüber in dem oben mehrfach citierten Buch pba_525.038
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 525. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/543>, abgerufen am 22.11.2024.