pba_543.001 weitesten Sinne dieses Wortes. Jn der von Schiller definierten unmittelbar pba_543.002 sinnlichen Weise wirkt der Klang auf die Empfindung, und pba_543.003 doch ist er das Element der Musik und des verschönerten Ausdruckes pba_543.004 in der Poesie, wirkt Gestalt und Farbe sowohl in der malerischen und pba_543.005 plastischen als in der drastischen Darstellung: hier überall ist unmittelbare pba_543.006 "sinnliche Lust" mächtigste und unentbehrliche Bundesgenossin der pba_543.007 vollen ästhetischen Kunstwirkung. Freilich müssen diese Mittel der Kunst pba_543.008 wie überhaupt alle ihre Mittel "planmäßig geordnet" sein; diese Planmäßigkeit pba_543.009 kann auch bis zu einem gewissen Grade "erkannt" werden; pba_543.010 aber solche Erkenntnis ist die Arbeit des kritischen Verstandes, der Erwerb pba_543.011 eines theoretisch geschulten "Geschmackes", nimmermehr jedoch die pba_543.012 Vorbedingung des unmittelbaren Genusses, der Kunstwirkung überhaupt.
pba_543.013 Als Konsequenz alles dessen nun die schlimmste Schlußfolgerung: pba_543.014 "Die allgemeine Quelle jedes, auch des sinnlichen Vergnügens, ist Zweckmäßigkeit.pba_543.015 Das Vergnügen ist sinnlich, wenn die Zweckmäßigkeit nicht pba_543.016 durch die Vorstellungskräfte erkannt wird, sondern bloß durch das pba_543.017 Gesetz der Notwendigkeit die Empfindung des Vergnügens zur physischen pba_543.018 Folge hat. Das Vergnügen ist frei, wenn wir uns die Zweckmäßigkeit pba_543.019 vorstellen und die angenehme Empfindung die Vorstellung pba_543.020 begleitet."
pba_543.021 Es ist einer der häufigsten, aber auch gefährlichsten, logischen Fehler, pba_543.022 den Schiller hier gemacht hat, allerdings in Übereinstimmung mit einem pba_543.023 System, das in seiner Zeit herrschend war und noch heute seine Anhänger pba_543.024 hat: der Fehler die Angabe von Eigenschaften, die einem Dinge pba_543.025 seiner Natur nach zukommen, für die Definition seines Wesens zu halten. pba_543.026 Wie wenn jemand mit Recht sagt, daß in einem schönen Musikstück keine pba_543.027 Fehler gegen Takt und Harmonie sein dürften, und man nun definieren pba_543.028 wollte: schöne Musik beruht auf Takt und Harmonie. Oder wenn aus pba_543.029 dem Satze: ein schönes Gebäude müsse symmetrisch angeordnet und pba_543.030 zugleich wohl übersichtlich sein, gefolgert würde: Schönheit der Architektur pba_543.031 beruht auf Symmetrie und Übersichtlichkeit. Gleichwohl ist dies geschehen pba_543.032 und der Fehler geht zurück bis auf das Mißverständnis eines pba_543.033 aristotelischen Satzes, das auf diesem Felde viel Unheil angerichtet hat. pba_543.034 Jm siebenten Kapitel der Poetik sagt er gelegentlich, zur Schönheit gehöre pba_543.035 Ordnung, aber außer dieser sei auch die Größe des schönen pba_543.036 Gegenstandes nicht eine beliebige; d. h. also die hervorragende Ausdehnungpba_543.037 -- was Größe an sich bedeutet -- bestimmt sich bei einem pba_543.038 jeden Gegenstande nach dem ihm eigenen Wesen; die damit gegebenen pba_543.039 Grenzen darf das Kunstwerk weder nach der Seite des "zu klein" noch pba_543.040 des "zu groß" überschreiten, ohne den Anspruch auf Schönheit zu ver-
pba_543.001 weitesten Sinne dieses Wortes. Jn der von Schiller definierten unmittelbar pba_543.002 sinnlichen Weise wirkt der Klang auf die Empfindung, und pba_543.003 doch ist er das Element der Musik und des verschönerten Ausdruckes pba_543.004 in der Poesie, wirkt Gestalt und Farbe sowohl in der malerischen und pba_543.005 plastischen als in der drastischen Darstellung: hier überall ist unmittelbare pba_543.006 „sinnliche Lust“ mächtigste und unentbehrliche Bundesgenossin der pba_543.007 vollen ästhetischen Kunstwirkung. Freilich müssen diese Mittel der Kunst pba_543.008 wie überhaupt alle ihre Mittel „planmäßig geordnet“ sein; diese Planmäßigkeit pba_543.009 kann auch bis zu einem gewissen Grade „erkannt“ werden; pba_543.010 aber solche Erkenntnis ist die Arbeit des kritischen Verstandes, der Erwerb pba_543.011 eines theoretisch geschulten „Geschmackes“, nimmermehr jedoch die pba_543.012 Vorbedingung des unmittelbaren Genusses, der Kunstwirkung überhaupt.
pba_543.013 Als Konsequenz alles dessen nun die schlimmste Schlußfolgerung: pba_543.014 „Die allgemeine Quelle jedes, auch des sinnlichen Vergnügens, ist Zweckmäßigkeit.pba_543.015 Das Vergnügen ist sinnlich, wenn die Zweckmäßigkeit nicht pba_543.016 durch die Vorstellungskräfte erkannt wird, sondern bloß durch das pba_543.017 Gesetz der Notwendigkeit die Empfindung des Vergnügens zur physischen pba_543.018 Folge hat. Das Vergnügen ist frei, wenn wir uns die Zweckmäßigkeit pba_543.019 vorstellen und die angenehme Empfindung die Vorstellung pba_543.020 begleitet.“
pba_543.021 Es ist einer der häufigsten, aber auch gefährlichsten, logischen Fehler, pba_543.022 den Schiller hier gemacht hat, allerdings in Übereinstimmung mit einem pba_543.023 System, das in seiner Zeit herrschend war und noch heute seine Anhänger pba_543.024 hat: der Fehler die Angabe von Eigenschaften, die einem Dinge pba_543.025 seiner Natur nach zukommen, für die Definition seines Wesens zu halten. pba_543.026 Wie wenn jemand mit Recht sagt, daß in einem schönen Musikstück keine pba_543.027 Fehler gegen Takt und Harmonie sein dürften, und man nun definieren pba_543.028 wollte: schöne Musik beruht auf Takt und Harmonie. Oder wenn aus pba_543.029 dem Satze: ein schönes Gebäude müsse symmetrisch angeordnet und pba_543.030 zugleich wohl übersichtlich sein, gefolgert würde: Schönheit der Architektur pba_543.031 beruht auf Symmetrie und Übersichtlichkeit. Gleichwohl ist dies geschehen pba_543.032 und der Fehler geht zurück bis auf das Mißverständnis eines pba_543.033 aristotelischen Satzes, das auf diesem Felde viel Unheil angerichtet hat. pba_543.034 Jm siebenten Kapitel der Poetik sagt er gelegentlich, zur Schönheit gehöre pba_543.035 Ordnung, aber außer dieser sei auch die Größe des schönen pba_543.036 Gegenstandes nicht eine beliebige; d. h. also die hervorragende Ausdehnungpba_543.037 — was Größe an sich bedeutet — bestimmt sich bei einem pba_543.038 jeden Gegenstande nach dem ihm eigenen Wesen; die damit gegebenen pba_543.039 Grenzen darf das Kunstwerk weder nach der Seite des „zu klein“ noch pba_543.040 des „zu groß“ überschreiten, ohne den Anspruch auf Schönheit zu ver-
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 543. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/561>, abgerufen am 22.11.2024.
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